Predigt am 11. So. nach Trinitatis - 12.8.2018

Textlesung: Gal. 2, 16 - 21

Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht. Sollten wir aber, die wir durch Christus gerecht zu werden suchen, auch selbst als Sünder befunden werden - ist dann Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne! Denn wenn ich das, was ich abgebrochen habe, wieder aufbaue, dann mache ich mich selbst zu einem Übertreter. Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben. Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.

Liebe Gemeinde!

Das ist wirklich "Theologie". Das ist "Dogmatik", "Lehre von unserem Glauben" und auch noch genau die Mitte dessen, was Christen glauben dürfen. Nur besonders eingängig ist es nicht. Und bildhaft ist es auch nicht. Und so, dass es uns begeistert oder auch nur bewegt, ist es schon gar nicht.

Darum will ich jetzt einmal den Versuch machen, diese dogmatischen Sätze, diese tieftheologischen Gedanken in unseren Alltag zu übertragen. Dazu will ich ein Bild aus dem Leben malen und eine Geschichte erzählen, die hoffentlich unser Herz erreicht.

Ein Mensch unserer Tage, wir denken einmal an einen Mann, hat sich von Kindheit an auf die moderne Ellenbogengesellschaft vorbereiten können. In der Erziehung wurde er mit allen möglichen Sprüchen konfrontiert, die geeignet sind, einem Kind die Herzenswärme auszutreiben, das Mitleid mit den Schwächeren und die Solidarität mit denen, die nicht so begabt oder vom Leben begünstigt sind. "Ein Indianer kennt keinen Schmerz", war noch einer der harmloseren dieser Sprüche. Das "Gelobt sei, was hart macht", schaffte ihm dagegen anfänglich große Probleme. Aber nur am Anfang. Die Schule hat er als strebsamer, fleißiger Schüler durchlaufen. Sein Elternhaus achtete immer darauf, dass er sich Freunde wählte, von denen er etwas lernen, "profitieren" konnte, wie der Vater das nannte. Eine Zeit ständiger Anfrage und Verunsicherung war für unseren Menschen das Konfirmandenjahr. Immer wieder musste er sich dort etwas von der "Liebe Jesu zu den Schwachen und Geringen" anhören. Das schien geradezu ein Tick des Pfarrers zu sein. Als er ihn schließlich konfirmierte, suchte er ihm auch noch den Konfirmationsspruch aus den Seligpreisungen aus: "Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen." Unser Mensch hielt die Wahl ausgerechnet dieses Verses für ihn immer für die deutlichste Absicht.

Später im Beruf wusste er dann aber, wo's lang geht. Und schnell diente er sich bis zum Filialleiter empor, wobei er auch ohne Skrupel Beziehungen ausspielen konnte und Intrigen gegenüber Mitbewerbern nicht abgeneigt war. Manchmal pfiff er dann, wenn er wieder eine Stufe auf der Leiter hinaufgeklettert war, wie um sich selbst zu beruhigen das Lied: "Du musst ein Schwein sein in dieser Welt!"

Nach der Heirat mit einer sehr religiösen Frau, was er zunächst als "kein Problem" ansah, gerade als er an seinem fast dreijährigen Sohn die Erziehungsarbeit aufnehmen wollte, die man auch an ihm geleistet hatte, ereilte ihn das Schicksal: "So nicht", meinte seine Frau und fügte auch gleich hinzu, wie sie sich die Erziehung ihres Kindes vorstellte. "Wir sind Christen und ich möchte unser Kind dahin führen, dass es liebevoll, freundlich, ehrlich und barmherzig mit anderen Menschen umgeht!" - "Barmherzig", da war es wieder, dieses Wort, und er erinnerte sich an seinen wenig geliebten Konfirmationsspruch: "Selig sind die Barmherzigen..." Und jetzt hatte er ein Problem!

Wie viele Diskussionen musste der Mann nun mit seiner Frau führen! Sie ließ nicht locker! Immer wieder führte sie ihn hart an die Grenze dessen, was er noch zugestehen, noch mitmachen konnte. Immer mehr stand die Liebe zu seiner Frau und zu seinem Kind klar gegen die Prinzipien, die er schon in früher Jugend mitbekommen und nach denen er sein Leben bis heute eingerichtet hatte. Warum Erbarmen haben mit anderen, warum auch den Schwachen eine Chance geben, warum verzichten, wenn man etwas für sich selbst kriegen, herausschlagen oder erreichen konnte?

Und dann kam der Tag im Sommer, kurz nach dem 30sten Geburtstag des Mannes, der Tag, an dem sich alles veränderte, von einer Stunde, ja, einer Sekunde auf die andere: Ein schwerer Unfall, bei dem der Mann zwar um Haaresbreite dem Tod entging, von dem er aber eine Behinderung zurückbehielt, die ihn für immer an den Rollstuhl fesselte. Den Filialleiterposten verlor er - entsetzlich hart für ihn, auch wenn er eine gute Abfindung bekam. Sein ganzer Tageslauf war nun alleine nicht mehr zu organisieren. Er brauchte auf einmal die anderen Menschen: Die Handreichungen seiner Frau bei so manchen Verrichtungen zu Hause, die Hilfsbereitschaft des Personals, wenn er beim Einkaufen unterwegs war, die Rücksicht und das Entgegenkommen der Leute an so vielen Orten und bei verschiedensten Gelegenheiten.

Wir überspringen hier einmal fünf Jahre im Leben des Menschen. Wir können uns vorstellen, wie unsäglich mühsam er das lernen musste, nun seinerseits auf Hilfe, auf Rücksicht, auf "Barmherzigkeit" angewiesen zu sein! Das hatte man ihm nicht beigebracht in der Kindheit! Niemals hätte er gedacht, all das einmal nötig zu haben. Jetzt war er auf der anderen Seite: Nicht mehr einer, der hart und rücksichtslos an der eigenen Karriere bauen konnte, sondern der, dessen Leben und Lebensfreude für immer verbunden war mit der Güte, der Zuwendung, dem Erbarmen anderer.

Liebe Gemeinde, ich breche hier meine Geschichte ab. Sicher hätten sie noch gern gewusst, ob der Mann die Lektion gelernt hat. Ob er sich auf der "anderen Seite" einrichten und es ertragen konnte, nun abhängig zu sein vom Wohlwollen und der Freundlichkeit seiner Mitmenschen...

Sehen wir jetzt auf uns und fragen wir uns, ob wir das könnten? - Denn genau das ist die Frage, die hinter der "Theologie" und "Dogmatik" dieser Gedanken steht: "Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes."

Noch einmal deutlicher: Wissen wir das nur im Kopf, oder leben wir das auch? Lassen wir das vielleicht noch für die Schwachen und Benachteiligten gelten, oder beziehen wir das auch auf uns selbst? Was in unserer Geschichte so drastisch klar geworden ist, gilt ja eigentlich schon immer: Wir sind von Anfang unseres Lebens an der Fürsorge, der Liebe, der Verlässlichkeit anderer bedürftig! Denken wir doch nur einen Augenblick, unsere Mutter hätte uns nicht lieb gehabt, sie hätte uns nicht mit allem versorgt, was ein Kind so braucht. Und später hätten unsere Eltern nicht alles daran gesetzt, dass wir in der Schule mitkommen, uns gesund an Leib und Seele entwickeln können und unseren Platz im Leben finden. Nicht auszudenken, meinen sie? Und doch kommt aus vielen Kindheiten und mancher Jugend dann ein Mensch heraus, der sich einbildet, er verdanke alles nur sich selbst. Und oft, sehr oft, wurde das in der Erziehung gefördert! Aber spätestens wenn der Mensch dann älter wird und schließlich alt, muss er es doch begreifen: Manches kann man nicht mehr allein. In vielen Dingen braucht man andere. Ohne Hilfe, ohne Fürsorge und Liebe kann keiner sein.

Und was uns hier an unserem Lebenslauf so deutlich wird, gilt eben genauso in Glaubenssachen: Wir können es allein nicht machen! Das bringt Gott nicht auf unsere Seite, wenn wir uns um gute Taten, ihm wohlgefällige Werke mühen. Das kann Gott nicht für uns einnehmen, wenn wir viel beten oder jeden Sonntag in die Kirche gehen. Die Spende am Monatsende für Kinder in Not, das Opfer am Heiligen Abend für Brot für die Welt - es lässt uns in Gottes Augen nicht besser erscheinen. Was wir brauchen ist Liebe. Wen wir brauchen, das ist Jesus Christus! "Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben." Wir können uns ein für alle Mal nicht bei Gott lieb Kind machen. Wir können gar nichts tun, dass er uns annimmt, freundlich ist, gnädig und bereit, uns zu vergeben. Wir brauchen es auch nicht! Denn wir haben Jesus Christus. Der ist für uns ans Kreuz gegangen. Der hat uns geliebt und die Liebe des Vaters im Himmel verdient. Dahinter können wir nicht zurück indem wir auf unsere eigenen Verdienste weisen. Und - mehr noch! - wir dürfen es auch nicht! "Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, so ist Christus vergeblich gestorben", sagt Paulus. Wir wollen es noch drastischer sagen: Wir verachten den Tod unseres Herrn, wir spucken auf sein Kreuz, wenn wir es nun doch alleine versuchen! Dafür ist Jesus nicht gestorben, dass wir jetzt wieder behaupten, wir könnten Gott nun doch durch Mühe, durch Werke und religiöse Leistung betören! Denn damit - und das kann nur schlimm für uns enden - sagen wir der Gnade Gottes ab, verachten seine Barmherzigkeit und setzen für uns wieder das Gesetz in Kraft. Und das wissen wir jetzt: "...durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht."

Liebe Gemeinde, das bleiben irgendwie schwierige, sperrige Gedanken. So ganz wird uns das wohl nie gelingen, sie mit Geschichten oder Beispielen aus dem Leben in unseren Alltag zu übersetzen und ihnen die Schwere und den Ernst zu nehmen. Ich glaube aber, das darf uns auch nicht gelingen! Denn es geht hier um schwere, gewichtige Dinge und sie sind ernst, sehr ernst. Es hängt ja unser Leben daran!

Aber trotzdem ist das doch auch unendlich tröstlich und gut, dass wir eben von der Barmherzigkeit leben können! Das kann sehr froh machen, nichts leisten, sich nicht immer mühen zu müssen und doch angenommen und geliebt sein bei Gott! Und schließlich macht Erbarmen und Helfen, nicht nur den glücklich, der die Barmherzigkeit und Hilfe empfängt, sondern auch den, der sie seinen Mitmenschen schenkt! Und daher kommt doch auch, dass wir gute Werke tun. Aus diesem Geist heraus geben wir doch unsere Spende an Brot für die Welt oder die Kindernothilfe! Und - da wollen wir noch einmal in unsere Geschichte zurückkehren - wir leben erst menschlich miteinander, wenn wir Hilfe und Fürsorge geben und annehmen können. Es ist nicht so, dass der Mann in der Geschichte am Ende aus seiner ihm bestimmten Lebensbahn geworfen wurde, sondern er hat erst durch sein hartes Schicksal in ein menschliches Leben hineingefunden!

Wir leben von der Gnade und Barmherzigkeit, die Gott uns schenkt, die Jesus Christus allein für uns verdient hat und wir leben von der Liebe und Fürsorge, die wir einander geben. "Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben. Durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht." AMEN