Predigt am Sonntag "Misericordias Domini" - 15.4.2018

Textlesung: 1. Petr. 5, 1 - 4

Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist; achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt; nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund; nicht als Herren über die Gemeinde, sondern als Vorbilder der Herde. So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unvergängliche Krone der Herrlichkeit empfangen.

Liebe Gemeinde,

gewiss könnte man glauben, das wäre eine Mahnung für die Pfarrerinnen und Pfarrer, eben die Hirten und Hirtinnen der Herde Gottes, Menschen also, die ja in vielen Gegenden unseres Landes geradezu "Pastoren" - "Hirten" genannt werden. Vielleicht können wir hier noch alle die einbeziehen, denen in der Gemeinde Jesu Christi ein Amt, eine Aufgabe übertragen ist: Die "Ältesten", von denen hier ja ausdrücklich gesprochen wird, die Frauen und Männer aus dem Kirchenvorstand also, die in der Leitungsarbeit der Gemeinde stehen, die JugendleiterInnen, die Helferinnen und Helfer im Kindergottesdienst, und alle Lektoren und Prädikanten, denen die Verkündigung der guten Botschaft anvertraut ist. Und gewiss ist das auch so! Wir sind besonders gemeint. Ich z.B. habe mich sehr angesprochen gefühlt. Ich habe mich gefragt, wie wirst du dem gerecht: Weidest du die Herde Gottes? Tust du das eigentlich gezwungen oder freiwillig und gern? Geht es dir dabei um den "Gewinn" - ist es in erster Linie das Geld, weshalb du das tust? Spielst du dich gern als ein "Herr" in der Gemeinde auf oder tust du deine Arbeit "von Herzensgrund"? Kann man von dir vielleicht sogar sagen, dass du ein Vorbild der Gemeinde bist?

Ich werde hier jetzt nicht öffentlich zu diesen Fragen Stellung nehmen. Nicht weil ich das fürchten müsste. Aber ich kann das einfach nicht so sehen, dass hier nur die "Hirten" gemahnt würden und vielleicht noch alle, die irgendein Amt in der Kirche ausüben. Und zumindest die Kirchenleute, denen wir es verdanken, dass diese Mahnung heute - wie alle sechs Jahre wieder - der Predigttext dieses Sonntags ist, müssen es auch so gesehen haben. Sollen wir Prediger und Predigerinnen etwa eine Botschaft in die Herzen der Menschen bringen, die diese doch gar nichts angeht?

Sind wir also alle Hirtinnen und Hirten? Geht uns das alle an? Wer könnte dann "unsere Herde" sein? Wen sollen wir "weiden" und wer ist uns "anbefohlen"?

Da denke ich zuerst an die Kinder und Enkel, die zu uns gehören. Aber auch an die anderen jungen Menschen, die in unserer Umgebung wohnen und leben, auch wenn wir nicht mit ihnen verwandt sind. Und ich finde, alle Mahnungen, die hier ausgesprochen werden, passen auch zu unserem Verhältnis zu den Kindern und den jungen Leuten in unserer Nähe! Wir wissen es doch, wie sehr gerade sie an uns Maß nehmen, wenn sie sich selbst eine Meinung bilden oder wenn sie ihren Platz in der Gesellschaft oder eben in der christlichen Gemeinde suchen. Haben Sie solche oder ähnliche Sätze nicht auch schon aus dem Mund von jungen Leuten gehört: "Kommen Sie mir bloß nicht mit Kirchgang und so! Ich habe einige Kirchgänger kennengelernt! Am Sonntag fromme Lieder singen und in der Predigt von Nächstenliebe hören - aber die Woche über ist einer des anderen Teufel!" - "Die meisten benutzen die Kirche doch eh nur, um ihre Familienfeiern zu verzieren. Sonst brauchen die doch jahrelang keinen Pfarrer!" - "Meine Leute schicken mich zwar in den Konfirmandenunterricht, aber was ich da lerne, interessiert die doch überhaupt nicht!"

Liebe Gemeinde, das ist deutlich! Aber ich hoffe, das ärgert uns jetzt nicht nur, sondern mahnt uns auch - eben genauso, wie diese Worte: "Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist; achtet auf sie...von Herzensgrund..." Und ich denke doch, uns leuchtet schon ein, dass wir für junge Menschen immer Vorbilder sind - so oder so - und dass sie unsere Worte und unser Verhalten befragen und prüfen - ausgesprochen und unausgesprochen. Und schließlich gibt es da auch eine Verantwortung für uns und möglicherweise sogar eine Schuld: Denn wir spielen mit, wenn die Generation, die nach uns kommt, den Weg zu Gott, den Glauben, und damit in seine "Herde", also in die Gemeinde findet. Und wir müssen uns wohl oft auch das anrechnen, wenn sie diesen Weg nicht geht, nicht gehen kann - vielleicht weil wir ein Hindernis sind auf diesem Weg, weil unser Beispiel eher unglaubhaft, ja, abstoßend wirkt.

Aber das ist durchaus nicht nur in unserer Beziehung zu den Jungen so! Das gilt überall, wo wir mit anderen in Gemeinschaft leben. Auch unsere Ehen und Partnerschaften sind doch eine Chance für zwei, die zusammengehören, dass sie einander zum Glauben helfen, die Hoffnung stärken, zu einem Leben der Nächstenliebe ermutigen. Ich werde es wohl nie begreifen, wie das sein kann, dass Menschen, die Tisch und Bett gemeinsam haben, nicht wenigstens im Gespräch sind über das, was sie im Innersten beschäftigt - und eben auch über die Fragen nach dem Woher und Wohin eines Lebens und dem Danach. Wohlgemerkt: Nicht dass man denselben Glauben haben müsste, das nicht. Und es soll auch nicht einer den anderen zu bekehren versuchen. Aber warum sprechen die Menschen, die so enge Beziehung haben, nicht auch darüber, was Gott für sie bedeutet, wer Jesus Christus für sie ist und welche Gedanken sie beschleichen, wenn sie daran denken, dass ihr Leben einen Auftrag und ein Ende hat? Immer wieder fällt mir dazu dieses biblische Bild ein: Von denen, die "Mücken seihen und Kamele verschlucken". Denn worüber sprechen die Menschen? Wobei trösten sie einander und richten sich aneinander auf? Vielleicht bei Gelegenheiten, wenn es für ihn Ärger in der Firma gegeben hat. Oder wenn ihr ein Missgeschick zugestoßen ist. - Aber wie bedeutsam - oder besser: unbedeutend - ist das doch gegenüber den Fragen, die mit Gott und unserem "Seelenheil" zu tun haben?! Bedürfen Menschen, die nicht glauben können, nicht viel größerer Fürsorge, Aufmerksamkeit und auch unserer Fürbitte und unseres Trostes? Aber wir gehen leicht in unseren Ehen und Partnerschaften jahre- und jahrzehntelang an diesen Fragen, ja an der ganzen Sache des Glaubens vorbei. Das scheint oft gar keine Rolle zu spielen, ob der Mensch, der mir doch der liebste ist, auch zu der Herde Jesu Christi gehört, oder ihr fern steht. Wir tun damit so, als wäre das gar nicht wichtig. Wir "weiden" einander nicht. Wir sind nicht, was wir füreinander auch sein sollen: "Hirte und Hirtin". Und schon gar nicht geschieht da, was geschieht "von Herzensgrund"! Denn das Herz, die Liebe müsste uns etwas anderes heißen!

Und dann kommen mir noch unsere Nachbarschaften in den Sinn und die Gemeinschaften, denen wir angehören: Ist das nicht eigentlich ziemlich traurig, wenn wir mit den Menschen, die ein Leben lang nebenan oder schräg gegenüber wohnen, nie mehr reden als "Guten Morgen" oder "Mieses Wetter heute"? Interessiert uns das denn gar nicht, was diese Menschen in ihrer Seele bewegt, was sie für den Sinn ihres Lebens und wie sie's mit der Sache Gottes halten? Und vielleicht noch viel enger ist doch unser Verhältnis in den Vereinen oder den Gruppen, in denen wir einen Platz haben. Kann man sich wirklich über Jahre alle Woche für zwei, drei Stunden sehen und kommt doch niemals auf ein Thema, das etwas mehr Tiefe hat? Kann das sein? Oder haben wir das nicht vielmehr ängstlich ausgespart aus unseren Beziehungen? Auf der anderen Seite aber gilt: Wir könnten uns mehr sein, als der Mitsänger im Tenor oder die Kameradin bei den Landfrauen! Wir hätten eine Aufgabe aneinander: Zur "Herde" Jesu zu rufen und zu führen. Einander "weiden" und dazu helfen, was ewig zählt und uns heil macht.

Liebe Gemeinde, noch einmal ganz deutlich: Ich glaube, dass wir meist weit hinter dem zurückbleiben, was unser Auftrag wäre. Ich glaube, dass wir täglich viele Chancen vertun, der Sache, die uns doch wichtig ist und wesentlich, zu dienen: "Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist; achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt." Ich glaube überdies, dass uns dieses "Hirte sein für andere", selbst auch große Freude und Genugtuung schenken kann. Es bedarf eigentlich gar nicht dieser Mahnung, dass wir's "nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund" tun sollen. Denn das kann sehr viel geben, wenn unsere Mitmenschen in uns eine oder einen, finden, denen sie sich anvertrauen können, vor denen sie ihre innersten Fragen stellen und ihre Ängste offenbaren dürfen. Das gibt uns das gute Gefühl, dass wir wichtig sind, dass wir gebraucht werden und anderen im wahrsten Sinne not-wendig sind! Und das Schönste daran ist vielleicht, dass wir alle - so alt oder jung wir sind - für andere solche wichtigen Menschen werden können.

Noch einmal ganz deutlich: Es geht nicht darum, einander zu dem Glauben oder dem Gott zu bekehren, den wir für richtig halten. Es geht um nicht mehr - aber auch nicht weniger! - als darum, dass wir einen Bereich unseres Lebens wieder ins Gespräch bringen, den unsere Gesellschaft - aber leider auch wir selbst - an den Rand oder schon aus dem Leben ganz hinaus gedrängt haben. Ich bin ganz gewiss, dass wir das Schweigen über die tiefsten Fragen des Lebens, das Ausklammern des Glaubens und Gottes eigentlich nicht gutheißen können. Wenn diese Dinge für uns selbst wirklich die Bedeutung haben, die wir ihnen durch unseren Kirchgang am Sonntag, unser Gespräch mit dem Pfarrer oder den Zeugen Jehovas an unserer Haustür angeblich beimessen, dann werden wir auch gern an jedermann wahrnehmen, wozu uns diese Worte einladen: "Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist; achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt; nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund; nicht als Herren über die Gemeinde, sondern als Vorbilder der Herde. So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unvergängliche Krone der Herrlichkeit empfangen." AMEN