Predigt zum Sonntag „Misericordias Domini" - 10.4.2016

Textlesung: 1. Petr. 2, 21 - 25

Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen; er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand; der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet; der unsre Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden. Denn ihr wart wie die irrenden Schafe; aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.

Liebe Gemeinde!

Vielleicht hat das ja auf den ersten Blick gar nichts mit diesen Versen zu tun, aber mir ist über den Gedanken zu diesem Sonntag etwas aufgegangen: Was reden wir doch so kindlich, so menschlich von Jesus! Besonders in der Kirche, in frommen Kreisen und wo immer sonst noch von ihm gesprochen wird. „Ist doch schön", sagen Sie? Ist es ja auch! Nur - so frage ich mich - meinen wir das immer ganz ernst, wenn wir zum Beispiel so reden: „Jesus ist jetzt - in diesem Gottesdienst - mitten unter uns." Oder so: „Beim Abendmahl lädt er selbst uns ein; wir haben mit ihm Gemeinschaft an seinem Tisch." Oder auch so: "Jesus hält uns an der Hand. Wir können in seine Fußstapfen treten. Er segnet uns." Und meinen wir auch das ernst, wenn wir sagen: „Er ist unser guter Hirte. Wir sind seine Schafe. Er bringt uns, wenn wir uns verlaufen haben, zur Herde zurück."

Ich frage Sie jetzt einmal ganz persönlich: Können Sie sich das wirklich vorstellen? Jesus, den Sie nicht sehen, hält sie an der Hand, steht neben Ihnen, hört die Worte, die Sie sprechen, sieht alles, was Sie tun? Ich glaube, Sie spüren das jetzt auch: So ganz deckt sich unser Reden nicht mit unserem Denken. Oft sind unsere Worte leer. Der „gute Hirte Jesus", hat seinen Platz allenfalls noch auf dem Bild über dem Bett im Schlafzimmer sehr alter Leute... Aber kaum mehr in unseren Köpfen, wenn wir ehrlich sind.

Sollen wir also aufhören, von Jesus als dem „Hirten" zu predigen? Müssen wir solche Gedanken aus unserem Denken verbannen: Jesus hält seine Hand über uns. Er führt uns, er trägt uns, er hört unsere Stimme? - Nein, das nicht. Dann müsste auch die ganze Bibel neu geschrieben werden. Dort heißt es doch: Wir sollen in Jesu Fußstapfen treten. Er bringt uns auf den rechten Weg zurück. Er ist unser Hirte; wir stehen unter seinem Schutz. Ich glaube, etwas anderes tut Not: Wir müssten uns das, was wir mit dem Mund sprechen, auch wieder richtig vorstellen können. Besser: Wir müssten uns das vorstellen wollen!

Ich denke nämlich, das Problem liegt ein wenig anders. Nicht, dass es zu „menschlich" oder gar zu „kindlich" wäre, sich Jesus jetzt mitten unter uns vorzustellen oder auch jeden Tag an unserer Seite oder wenn wir abends beten neben unserem Bett... Das dürfen wir. Das sollen wir. Die Heilige Schrift redet so von Jesus: „Mensch ist er geworden, unser Bruder, der Hirte, der bei den Schafen ist und ihnen nachgeht, sie findet, wenn sie sich verlaufen haben..." Aber wir wollen uns Jesus so nicht denken, oft jedenfalls nicht! Schauen wir doch einmal tiefer in das Bild vom „guten Hirten" hinein:

Es mag ja noch angehen, wenn wir uns Jesus mit dem weißen Lämmchen auf dem Rücken ausmalen. Das passt in unsere religiöse Vorstellung. Der mild lächelnde Heiland, das Schäfchen mit dem blütenweißen Fellchen. Was wäre aber, wenn Jesus ein ausgewachsenes Schaf trüge, mit schmutzigem, besudeltem Pelz? Und wenn er unter dem Gewicht dieses Tieres stöhnte, den Mund zu einem Schrei verzöge, ja, wenn er unter der Last dieses Schafes in die Knie bräche?

So ein Bild würde uns nicht gefallen! Und es hätte auch nie in einem Schlafzimmer gehängt. Und doch ahnen wir: Ein solches Bild träfe die Wirklichkeit besser! Hier erkennen wir, warum sich unser Reden und Denken von Jesus nicht deckt: Mit unserer Bosheit, mit unserer Schuld mögen wir ihn nicht in Verbindung bringen. Damit hat er nichts zu tun. Dabei wollen wir ihn nicht haben. Keiner von uns kann aber auf die Dauer Jesus nur in die hellen Bilder seines Lebens hineinzeichnen. Da müsste man sich innerlich ja spalten. Das Böse gehört schließlich auch zu mir. Die Schuld, die ich tagtäglich auf mich lade, kann ich nicht leugnen. Jesus aber soll nur der „mild-lächelnde Hirte" sein, den ich in meinen besten Stunden an meiner Seite dulde? Mein Versagen aber, meine Fehler, meinen bösen Willen, meine Missgunst soll er nicht sehen?

Ich male jetzt Jesus einmal in drei Lebensbilder hinein, wie sie unserer täglichen Erfahrung entsprechen. Ich hoffe, wir werden darüber erschrecken. Aber ich hoffe auch, dass wir etwas daran begreifen.

Das erste Bild: Ein Mann ist darauf zu sehen. Er kennt nur seine Arbeit. Gewiss hat er Familie, Frau und Kinder. Aber er kann nur schaffen, schaffen. Für nichts anderes hat er Zeit. Neun Stunden am Tag ist er von zu Hause weg. Abends geht's dann weiter - bis in die Nacht. Sieben Tage in der Woche. Sonntags ist für ihn die Gelegenheit aufzuarbeiten, was die Woche über liegengeblieben ist. Von niemandem lässt er sich etwas sagen: „Denk" doch an deine Gesundheit. Was machst du deiner Frau und deinen Kindern für ein Leben. Ist der Mensch etwa nur für die Arbeit da?" Er schlägt alles in den Wind. Da hinein male ich jetzt Jesus. Er steht sehr am Rand des Bildes. In der Mitte ist kein Platz für ihn. Ich würde seine Züge ganz verzerrt darstellen, denn er leidet an dem mit, was dieser Mann tut. Er trägt die Schmerzen mit, die dieser Mann seinen Mitmenschen zufügt. Es tut Jesus weh, wie dieser Mann sein Leben vergeudet. Ja, vielleicht würde ich Jesus so darstellen, dass er dem Mann die Hand auf die Schulter legt. So als wollte er ihn zurückhalten und ihm sagen: Lass ab von dem, was du tust! Aber der Mann hört nichts. Er ist zu beschäftigt.

Als zweites Bild male ich eine Frau: Sie lebt nur für sich. All ihre Gedanken kreisen um sie selbst. Das Schicksal der Menschen in ihrer Umgebung interessiert sie nicht. Sie lebt wie auf einer Insel. Um sie her ist der weite Ozean der Gleichgültigkeit. Für die Gemeinschaft der Menschen, in der sie wohnt, würde sie nie einen Finger rühren. Erst recht kann ihr nicht nahekommen, was draußen in der Welt an Hunger und Elend und Unrecht herrscht. Auch auf diesem Bild sehen wir Jesus. Auch wieder sehr klein, unscheinbar, aber doch ist sichtbar, wie ihn das Verhalten dieser Frau quält. Seine Nägelmale würde ich sehr deutlich darstellen, das Blut, das ihm unter der Dornenkrone hervorquillt, seine offene Seite... Wir müssten daran diesen ungeheuren Gegensatz verstehen: Hier ein Mensch, der sich nicht einmal um seinen Nachbarn schert, da Jesus, der für alle Menschen ans Kreuz geht, um schuldlos zu leiden und zu sterben. Der Jesus dieses Bildes zeigte übrigens auf die vielen anderen Menschen, die ich noch in dieses Bild hineinmalen würde: Einen Behinderten vielleicht, einen Alten, einen Kranken, einen, der in Not geraten ist... Alles Menschen aus der Umgebung dieser Frau, Nachbarn, Nächste, die sie nicht sieht, nicht sehen will, die ihr der Heiland aber zeigen will...

Ein drittes Bild würde ich noch gern malen. Darauf würde ich uns alle einzeichnen, an unserem Ort im Leben, mit unserer ganz persönlichen Schuld: Einen würde ich mit seiner Habsucht darstellen, einen anderen mit seiner Herzenskälte, einen dritten malte ich so, dass seine Vergnügungssucht sichtbar wird. Für uns alle wäre Raum auf diesem Bild und für all unsere schlechten Eigenschaften: Für die Untreue, für den Mangel an Liebe, für unseren Hochmut, für die Geschwätzigkeit, für unseren Geiz, unsere Trägheit... Und ich malte auch all die vielen Gelegenheiten in das Bild hinein, wo wir in unserem Leben Sünde auf uns geladen haben. Und Jesus wäre auch auf diesem Bild! Neben uns allen, dicht an unserer Seite. Das müssten wir daran begreifen: Er hört alles, was wir reden. Er sieht alles, was wir tun. Ja, er weiß sogar, was wir denken; denn auch in unserer Schuld, Bosheit und Sünde ist er bei uns, ganz nah. Und es tut ihm weh, wenn wir andern wehtun. Es schmerzt ihn, wenn wir andern Schmerzen zufügen. Es quält ihn, wenn wir andere quälen. Aber er teilt und trägt auch all unsere Schuld mit, genauso, wie er an unserer Freude und unseren guten Stunden teilhat...

Nun aber heißt es: Christus hat unsere Sünden am eigenen Leib ans Kreuz hinaufgetragen. Wie kann ich das in einem Bild darstellen? - Nun, ich würde dem Jesus auf meinem Bild eine riesige Last auf den Rücken binden. Und jeder, an dem er vorbeikommt, lädt ihm noch eine weitere Last dazu auf: Der eine seine Herzenskälte, der andere seine Habsucht, ein dritter seinen Geiz...und so weiter. Und in der Ferne, am Ende des Weges, den der Herr zieht, malte ich das Kreuz, zu dem er all die Schuld bringt - um für sie sein Leben zu geben, damit wir frei werden, neu zu beginnen: „Dadurch sind wir für die Sünde tot und können jetzt für das Gute leben. Durch seine Wunden sind wir geheilt!"

Doch, wir dürfen uns Jesus ganz menschlich vorstellen, kindlich: als den guten Hirten, der uns an der Hand nimmt, der uns an die Schulter fasst... Wir sollen es sogar. Aber auch mit unserer Schuld hat er zu tun. Er steht neben uns, auch wenn wir andere verletzen, schmähen, beleidigen... Er trägt auch das Schaf mit dem besudelten Fell. Gerade um solcher Schafe willen, ist er ans Kreuz gegangen. Die Last unserer Schuld hat er dorthin getragen. Wir sind frei. Jetzt können wir für das Gute leben! AMEN