Predigt zum Sonntag "Sexagesimä" - 31.1.2016

Textlesung: Hebr. 4, 12 - 13

Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen.

Liebe Gemeinde!

Bei diesen Worten eben musste ich an unseren Reformator Martin Luther denken. Genau bei diesem Satz: "Es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen." Alle religiösen Menschen zur Zeit Luthers - und das waren die meisten - sind davon ausgegangen: Alles, was ich tue, all mein Treiben und Handeln, mein Reden und noch die geheimsten Regungen meiner Sinne und Gedanken sind Gott offenbar. Er sieht sie und wägt sie - und sie können nicht vor ihm bestehen. Das war auch der Grund, warum etwa Luther sich als Mönch selbst geißelte und quälte, warum er fastete, sich immer wieder prüfte und doch voller Ernst und seelischer Not fragte: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Darum auch fiel das Evangelium so heilsam in seine von Selbstzweifeln geschundene Seele. Darum wirkte die frohe Botschaft von Gottes Gnade und Liebe dem Sünder gegenüber wie Balsam für sein verwundetes Gewissen. - Die Rechenschaft war es, die den Mönch Martin Tag und Nacht beschäftigt und nicht hat zur Ruhe kommen lassen. Die Rechenschaft, dass wir einmal alles vor Gott verantworten müssen, hat ihn in tiefe Not und angstvolles Erwartung von Gottes Tag des Gerichts gestoßen.

Ich bin nun sicher weit davon entfernt, uns die Zeiten Luthers zurückzuwünschen. Aber es ist schon seltsam: Unsere Zeit scheint nun gleich überhaupt keinen Bezug zu diesen Gedanken um Rechenschaft und Verantwortung zu haben. Sie müssen mir recht geben: Während Luthers Welt voll war von Menschen, die sich mit Fasten und Geiseln kasteiten, sich an die Brust schlugen und sich durch alle möglichen Bußübungen Gottes Gnade verdienen wollten, kennen wir heute wohl alle keinen einzigen Zeitgenossen, der auch nur in seinen feiertäglichsten Stunden davon reden würde, dass er sich schuldig fühlt und sich davor fürchtet, in der Zukunft einmal Rechenschaft ablegen zu müssen.

Das könnte daran liegen, dass wir halt so gute Menschen geworden sind - aber ich glaube das nicht. Oder es könnte damit zu tun haben, dass wir eben gern und reichlich das von Luther wiederentdeckte Evangelium in Anspruch nehmen - aber auch daran zweifle ich. Gewiss sagt uns diese frohe Botschaft von Gottes Güte, der uns Sünder begnadigt, dass wir uns nicht in Angst verzehren müssen. Die andere Wahrheit aber ist und bleibt: Wir werden einmal zur Verantwortung gezogen. Es kommt ein Tag, an dem alles ans Licht muss. Und - auch das ist für mich eine klare Sache: Besser geworden sind die Menschen nicht, seit wir wieder das Evangelium kennen. Und noch eines gilt sicher: Es ist bei den meisten Menschen unserer Tage gewiss nicht die frohe Botschaft, die sie im Blick auf Gottes Tag so ruhig macht. Es ist vielmehr die Gleichgültigkeit, das Desinteresse, das völlige Ausblenden und Verdrängen der Wahrheit, wenn die Leute leichtfertig mit der Schulter zucken und sagen: Wer weiß denn, was und ob da überhaupt noch etwas kommt?

Darum, weil das so ist, möchte ich heute diesen Gedanken predigen, diese Erwartung wach halten und wieder in unser Bewusstsein rücken: Es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen. Denn ich finde es nicht gut, dass diese Zeit und auch wir, die wir ernsthaft Christen sein wollen, immer mehr so tun, als wäre der Ausgang des Lebens in jedem Fall die Herrlichkeit bei Gott. Als gäbe es nicht auch ein verfehltes und dann dem Tod verfallenes Leben. Das kann auch - bei einigem Nachdenken - niemand ernsthaft glauben! Die Seligkeit bei Gott ist vielmehr nur das Ziel unserer Wünsche und der Ansporn unseres Handelns, weil es auch den ganz anderen Zustand gibt, vor dem wir uns fürchten müssen. Das Evangelium ist nur die "frohe Botschaft", weil sie uns den Weg zeigt, der Verdammung und dem ewigen Tod zu entgehen.
Liebe Gemeinde, ich habe vorhin übrigens ganz bewusst gesagt: Diese Zeit scheint kein Verhältnis zu Rechtfertigung und Verantwortlichkeit vor Gott zu haben. In den Herzen aber sieht es anders aus. Und mit den anderen Gedanken, die zu Beginn dieser Predigt vor unsere Ohren gekommen sind, verhält es sich genau so: "Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens."

Ich glaube dem Jungen aus einer 3. Schulklasse nicht, der neulich zu seinem Religionslehrer gesagt hat, er denke, dass es keinen Gott gibt und das mit der Religion wäre alles Humbug. Da plappert ein 9jähriger nach, was ihm Vater oder Mutter leichtfertig vorschwätzen. Denn wie kommt es, dass derselbe Junge vor dem Unterricht sehr andächtig beim Morgengebet mitspricht? Und wie kommt es, dass er die biblischen Geschichten so gern hört und sie ihm durchaus etwas geben und sagen? Gottes Wort ist lebendig - es arbeitet an diesem Jungen und lässt ihn nicht los - trotz seiner eigenen Reden, die er wohl selbst nicht versteht.

Und ich glaube den jungen Leuten nicht, (besonders denen, die ich schon lange kenne) wenn sie sagen, sie könnten nicht mehr glauben und der Gott ihrer Kindheit wäre ihnen inzwischen abhandengekommen, weil die Welt doch so böse wäre, so grausam und mit dem "lieben" Gott nicht zu reimen... Da steht meist etwas anderes dahinter: Vielleicht eine gewisse Trägheit, den Anschluss an die Gemeinde und vor allem die Gottesdienste zu halten. Oder der sicher berechtigte Wunsch, sich selbst zu finden und von den Eltern abzunabeln - wobei man oft mit den Eltern auch alles abtut, was ihnen wichtig ist. Das Wort Gottes jedenfalls ist kräftig! Es lässt auch diese jungen Menschen nicht los. Ich sehe das daran, dass die jungen Leute, wenn sie uns Menschen "von der Kirche" begegnen, immer meinen, sich entschuldigen zu müssen: Man hätte sie lange nicht im Gottesdienst gesehen und sie müssten doch wirklich wieder einmal... Da zeigt sich, dass sie im Grunde ihres Herzens doch wissen, dass da ein Gott ist, der sie sucht, ein Wort, das sie ruft, eine Wahrheit, die sie nicht einfach leugnen können.

Glauben wir ihnen nicht, was sie mit dem Mund sagen! Und glauben wir auch den älteren Zeitgenossen nicht, die angeblich mit der Kirche fertig sind, die mit allem gebrochen haben und manchmal so derb sprechen, dass es uns geradezu graust: "Wenn's einmal so weit ist bei mir, dann springe ich in die Kiste und fertig!" So steht's nicht wirklich bei ihnen! Ist es nicht so, dass gerade diese - doch so harten Menschen, die doch vorgeblich mit allem Religiösen abgeschlossen haben - uns bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten gerade auf das ansprechen, was sie doch angeblich nicht mehr interessiert!? Gottes Wort ist ein zweischneidiges Schwert, es dringt durch und scheidet Seele und Geist und ist ein Richter der Gedanken! Gott lässt die Menschen nicht los. Er hat uns ein Gewissen gegeben, das ist sein Verbündeter, das können wir nicht abstellen, so sehr wir uns auch bemühen. Und ich sage: Gott sei Dank, können wir das nicht!

Und das führt uns zurück zu dem anderen: Gott sei Dank wissen wir auch im tiefsten Grunde unserer Seele, dass wir Rechenschaft zu geben haben und dass alle unsere Taten, unser Reden und Denken bloß und offenbar ist vor Gott. Denn dass wir es im Grunde wissen, gibt uns Hoffnung für jeden Menschen, für uns selbst und für die anderen, auch für die, die wir - ihren eigenen Sprüchen und vorgeblichen Meinungen nach - abschreiben müssten. Gott schreibt sie nicht ab. Er sucht und findet immer wieder einen Weg zu ihrem Herzen, ein Wort, das ihr Ohr und ihre Seele erreicht. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass dies rechtzeitig gelingt. Es gibt in diesen Dingen auch ein "zu spät". Einmal ist die Tür verschlossen – dann nützt alles Anklopfen nichts mehr.

Wo wir die Menschen um uns herum lieb haben, bei denen es "gefährlich steht", sollten wir mithelfen, dass sie das sehen und endlich aufwachen und das begreifen: "Kein Geschöpf ist vor Gott verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen."

Dabei ist und bleibt unsere Hoffnung, dass Gott ein Gott der Liebe, der Treue, der Gnade und der Vergebung ist und keine Freude am Tod des Sünders hat, sondern allen seinen Menschenkindern um Christi willen das Leben schenken will – hier und einmal ewig. AMEN