Predigt am Buß- und Bettag - 19.11.2003

[Predigten, Texte, Gedichte...] [Buch mit 365 Gedichten] [Diskussionsforum zur Kirchenreform] [Mein Klingelbeutel] [Liturgieentwurf zur akt. Predigt]

(Die Textlesung kann - angesichts der Länge der Predigt - auch gut als gottesdienstliche Schriftlesung dienen! Die zwischendrin gesungenen Liedverse gönnen den Hörern eine Pause und wollen die Besinnung fördern.)

Wir lassen uns einstimmen auf die Gedanken dieses Bußtages durch Worte aus dem Lukasevangelium: Textlesung: Lk. 13, 1 - 5 (6 - 9)

Es kamen aber zu der Zeit einige, die berichteten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte.

Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, daß diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle andern Galiläer, weil sie das erlitten haben?

Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen.

Oder meint ihr, daß die achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und erschlug sie, schuldiger gewesen sind als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen?

Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen.

Er sagte ihnen aber dies Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand keine.

Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, ich bin nun drei Jahre lang gekommen und habe Frucht gesucht an diesem Feigenbaum und finde keine. So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft? Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, laß ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.

Liebe Gemeinde am Bußtag!

Es ist schon eine verrückte Zeit. Und das ist ganz buchstäblich gemeint. Auf der einen Seite wurde uns vor Jahren der Bußtag aus der Reihe unserer christlichen Feiertage gerückt. Auf der anderen Seite rücken in unseren Tagen die Gedanken um Buße und Reue immer mehr in den Mittelpunkt - ja, nicht unbedingt des bewußten Interesses, aber doch in die Mitte unserer Seele, dort, wo sehr deutlich und schmerzlich die Lasten empfunden werden, die wir so tragen und die uns quälen.

Ich glaube fest: Vieles, was wir selbst notvoll erleben, oder was wir an Leid, Kummer und Sorgen von anderen Menschen hören oder an ihnen sehen, kommt eigentlich von unverarbeiteter Schuld her. Und - auch davon bin ich überzeugt - Schuld verarbeiten kann nur der, dem sie vergeben wird. Wir müssen dabei allerdings einmal tiefer schauen und aufmerksamer hinhören als sonst meist. Das ist nicht leicht und das kann auch sehr weh tun. Es ist aber auch heilsam und hilfreich, wie ich glaube.

Auch wenn unser Staat, der vor Jahren den Bußtag abgeschafft hat, meint, er hätte keinen Tag der Besinnung über Sünde und Schuld und vielleicht Umkehr nötig, auch wenn viele Menschen heute gar nicht mehr verstehen, was denn überhaupt der Sinn eines Bußtages sein soll und auch wenn selbst Christen in unserer Zeit denken, Sünde, Reue und Buße wären durch die Gnade Gottes und das Opfer Jesu Christi am Kreuz doch überholt und außer Kraft gesetzt - wir wollen heute einen Bußtagsgottesdienst halten, einen richtigen! In diesem Gottesdienst sollen Schuld, Besinnung, Reue, Buße, Umkehr...ihren Platz haben, ja, in der Mitte stehen! Und sogar über die „Strafe" wollen wir heute nachdenken. Denn ich meine, es ist dieser Tag und sein Anliegen notwendiger denn je! Und „not-wendig" ist dabei ganz buchstäblich verstanden. Denn es ist eine Not, ja, die Not in unseren Tagen, daß die Menschen glauben, es gäbe keine Sünde mehr, keine Schuld mehr und darum keinen Grund sich an die Brust zu schlagen, zu bereuen, sich zu ändern und gar eine Strafe für begangenes Unrecht zu übernehmen. Ja, es ist eine Not, denn viele Menschen unserer Zeit leiden mehr daran, daß sie von ihrer Schuld nicht reden und sie darum nicht loswerden können, als an ihrer Armut oder ihren Sorgen um die Zukunft und mehr auch als an einer Krankheit oder einem Gebrechen, das sie haben.

Wir wollen heute von Menschen unserer Tage hören und wie sie mit Schuld umgehen. Es sind drei Beispiele und es ist ein sehr drastisches darunter. Aber vielleicht bedarf es ja solcher deutlichen Beispiele, um den Panzer aus Gleichgültigkeit und Leugnung zu durchbrechen, mit dem wir vielleicht ja auch unsere Seele gewappnet haben, daß dort nicht etwa Bereuen keimt und eine heilsame Einsicht hindurchdringt...

Zum Schrecklichsten, was ich in diesem Zusammenhang je gesehen und gehört habe, zählt eine Reportage über ein Straflager von „Lebenslänglichen" in Rußland, die es vor Wochen im Fernsehen zu sehen gab:

Ein Lager in der sibirischen Wildnis, weitab von jeder menschlichen Behausung. 200 Männer, allesamt Mörder und von der Todesstrafe zu lebenslanger Haft „begnadigt". 50 Aufseher, die mit den Gefangenen umspringen können, wie sie nur wollen. Betritt ein Aufseher den Raum, haben die Gefangenen sofort die Handrücken an die nächste Wand zu legen, daß man sehen kann, die Hände sind unbewaffnet. Dieses Verhalten ist so eingeschliffen, daß nur der Schlüssel im Schloß gedreht werden muß, um die Männer zum Aufstehen und zum Herzeigen der flachen Hände zu bewegen. Waschen ist nur einmal in der Woche erlaubt. Das Essen ist ein Fraß, wie ihn schon Kriegsgefangene in Rußland kennenlernen mußten: Kartoffeln und Kohlsuppe, Kohlsuppe und Kartoffeln. Die Mehrzahl der Männer ist krank, Tuberkulose, Unterernährung, Hinfälligkeit. Jeden zweiten Tag ist „Freigang", eine Stunde Aufenthalt in einem ringsum, auch oben vergitterten Käfig von drei mal drei Metern innerhalb der Gefängnismauern. Die Männer in diesem Lager sehen niemals mehr etwas Grünes. Und sie werden dieses Lager nie mehr verlassen. Vor der Kamera äußern sich fünf der Gefangenen. Aber kein einziger so, wie wir es erwarten würden. Einer sagt: Für das, was er getan hätte, wäre die Strafe noch viel zu milde! Ein anderer: Ich bin froh, hier zu sein. So kann ich meine Schuld abtragen. Und noch einer sagt: Wenn sie mich zum Tode verurteilt hätten, dann wäre das ja leicht gewesen. Hier aber ist es hart und er hätte diese Härte verdient. - Nicht einer der Männer beklagt sich. Nicht einer findet zu schwer, was die russische Gesellschaft ihm an Strafe auferlegt. Kein Wort des Haders gegenüber Gott wird laut. Im Gegenteil: Einverständnis, Bejahen, Ergebung, kein Jammern, kein Widerstand.

(Liedstrophe: 299, 1 Aus tiefer Not schrei ich zu dir...)

Liebe Gemeinde, keiner soll mit Mördern verglichen werden. Aber ich habe mich schon gefragt - in der schlaflosen Nacht, die sich für mich an diesen Fernsehbericht anschloß - wie das kommt: So leben müssen, ein solches „Leben" noch Jahre vor sich haben, bis der Tod durch Auszehrung und Schwäche einen endlich erlöst. Und meine Frage hat mich neu auf die Spur eines Wortes gebracht, das Martin Luther uns hinterlassen hat: „Wahre Reue liebt die Strafe!" Ich weiß, daß sich solch ein Wort für manche Ohren nicht gut anhört und manche sich innerlich auflehnen läßt. Vielleicht aber ist ja doch etwas dran an diesem Wort? Vielleicht sollten wir es einmal bedenken und in uns aufnehmen. Vielleicht könnte uns dieses Wort sogar helfen, loszuwerden, was uns quält und beschwert und bedrückt. „Wahre Reue liebt die Strafe!" Vielleicht setzen unsere Gedanken um die Gnade Gottes immer viel zu früh ein? Vielleicht geben wir der heilsamen Reue bei uns zu wenig Raum? Vielleicht kommt bei uns deshalb nie das Gefühl auf, mit Gott wirklich im Reinen zu sein?

In der Bußlehre der katholischen Kirche - die Martin Luther nicht aufgehoben hat! - heißt es bis heute: Das erste bei der Buße ist die „contritio cordis", die „Zerknirschung des Herzens". Wir würden sagen: Unsere Schuld muß uns wirklich wehtun. Wir müssen ehrlichen Herzens sagen: Was habe ich getan? Nicht das saloppe Drüberweggehen kann uns helfen, sondern das echte Empfinden und Erleiden der begangenen Schuld. „Ich bin froh, hier zu sein. So kann ich meine Schuld abtragen", sagt der Lebenslängliche im russischen Lager. „Wahre Reue liebt die Strafe!", sagt Martin Luther. - Die Reue ist das erste.

Als Lektor, Prädikant oder Pfarrer und sogar schon als StudentIn der Theologie kannst du nirgends hingehen, ohne daß du den Menschen bei der Bewältigung von Schuld helfen mußt. So können es viele in Verkündigung und Seelsorge arbeitende Menschen bestätigen. Du stellst dich an eine Theke, um ein Bier oder ein Wasser zu trinken; du gehst auf eine Geburtstagsparty, du zeigst dich auf einer Zugfahrt deinem Gegenüber im Abteil gesprächig - wenn die Leute wissen, wer du bist oder erfahren, was du studierst oder was heute dein kirchliches Amt ist, dann wird es losgehen: „Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil..." - „Meine Frau und ich leben getrennt, aber sie hat ja auch damals..." - „In der Kirche war ich schon Jahre nicht mehr, aber gläubig bin ich schon....ich müßte wirklich mal wieder..." - „Was meinen Sie denn dazu, ich habe neulich meinen Kollegen ganz schön gemein..." - Entziehen kannst du dich da nicht! Es scheint, als hätten die Menschen schon seit langem auf dich gewartet. Du hast mit dem Glauben zu tun. Du bist Vertreter der Kirche und sogar Gottes. Du mußt Antwort geben. Du mußt ihnen Schuld verarbeiten helfen. Denn Schuld ist es, was im Hintergrund ihres Redens steht. Schuld, manchmal kleine Sünden, manchmal größere, aber allemal schmerzlich empfundene Schuld.

(Liedstrophe: 299, 2 Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst...)

Merkwürdig, nicht wahr? Die Menschen wollen davon reden, was sie als Schuld empfinden. Aber sie können es oft nicht mehr. Wo sollen sie denn auch davon anfangen? Im Wartezimmer des Arztes? Auf dem Sportplatz? Da paßt es nicht hin. Bei der besten Freundin, dem besten Freund? Freundschaften sind heute auch oft zu oberflächlich für solche Themen. In der Ehe, der Partnerschaft? Vielleicht sagt mein Mann, meine Frau, wenn ich damit anfange: „Was du nur immer hast. Das ist doch läppischer Kram, nicht der Rede wert. Nimm dir das doch nicht so zu Herzen. Die anderen sind auch nicht besser und haben sich nicht so." Und wir selber? Wie oft haben wir schon abgewiegelt: „Ach, wenn's weiter nichts ist. Das muß dich doch nicht belasten. Das sind doch Kleinigkeiten, gemessen an dem, was andere so treiben!" - Aber gerecht geworden sind wir den Menschen so nicht! Denn es quält sie doch! Es ist eben nicht aus der Welt, nur weil wir es als klein und gering einschätzen. Wir helfen auch nicht, indem wir verharmlosen, verniedlichen. Die Menschen wollen davon reden, sie müssen davon reden. Wir sollten sie lassen, zuhören und erst einmal nichts erwidern... Und wir selbst, wenn wir von unserer Schuld sprechen, wollen auch nicht gleich beruhigt werden. Was wir aussprechen beschäftigt uns, drückt uns, quält uns. Es hilft uns nicht, wenn das als läppisch abgetan wird. Bei Paulus lesen wir ein Wort, das es genau trifft: „Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, so wirst du gerettet." In der Bußlehre ist das zweite: Die „confessio oris", das „Bekennen mit dem Mund". Wer die Reue in sich wirklich spürt, wen seine Sünde wirklich zu Boden drückt, der will davon reden. Und zuletzt wird er auch hoffentlich einen Menschen finden, der ihm zuhört und das nicht mit einer lockeren Handbewegung wegwischt. Reue muß reden können. - Das Bekenntnis der Schuld ist das zweite.

„Ich bin ja so froh, daß du mir verziehen hast", sagte die eine Frau zu der anderen. „Was hat mich das aber auch jahrelang belastet! Jetzt mußt du mir aber erlauben, daß ich noch irgend etwas für dich tun kann! Du, ich könnte dich doch morgens mit nach ------ nehmen, da muß ich doch nur ¼ Stunde früher als bisher fahren, das macht mir doch gar nichts aus! Und du mußt nicht mehr auf dem zugigen Bahnhof stehen!" Da kann nun die andere sagen was sie will. Sie wird darauf eingehen müssen. Die Frau, der Schuld vergeben wurde, ist ja so dankbar und möchte der anderen etwas Gutes tun.

Ein Mann ist beim Abendmahl gewesen. Hinterher vertraut er seinem Pfarrer an: „Heute habe ich so deutlich gefühlt, daß Gott mir vor dem Altar eine große Sünde, die mich schon lange gedrückt hat, abgenommen hat. Ich habe mich hinterher so leicht gefühlt, so frei, so glücklich... Ich möchte jetzt öfter in die Kirche kommen. Und eine Spende machen, will ich auch, für irgendeinen guten Zweck, den sie bestimmen können.

Ein junger Mensch sagt zu seiner Freundin: „Ich war neulich so gemein zu dir! Das ist gar nicht wieder gut zu machen. Nein, sag nichts, es war wirklich ganz gemein! Am liebsten wäre mir, du würdest mir einmal kräftig eine runterhauen!"

Ein Mann in den mittleren Jahren bringt nach einem Fehltritt auf einer Geschäftsreise seiner Frau ein sehr großzügiges Geschenk mit.

Eine Frau hat ihrem Mann mißtraut und in seinen Briefen und seinen Anzugtaschen geschnüffelt. Als sie nichts findet macht sie ihm ein sehr aufwendiges Abendessen und eines, das er besonders gern mag. Und sie ist so lieb zu ihm, wie lange nicht.

(Liedstrophe: 299, 3 Darum auf Gott will hoffen ich...)

Liebe Gemeinde! Wir sind am Ende des Weges, den jede rechte Buße geht und doch auch wieder beim Ausgangspunkt: „Wahre Reue liebt die Strafe!" Ja, die Strafe, denn nichts anderes ist das, was die Menschen suchen, wenn sie bereut und von ihrer Schuld gesprochen haben. Und es ist wohl eines der folgenreichsten Mißverständnisse im christlichen Glauben, wenn wir meinen und sagen: Aber wegen Jesu Opfer am Kreuz gibt es doch keine Strafe mehr! - Es gibt keinen Tod mehr zu erleiden! Wir fallen um Christi willen nicht ins Nichts und ins Vergessen. Wir haben ein ewiges Leben vor Augen. Aber Strafe - die gibt es weiter, die muß es geben - und wir wollen eben auch, daß es sie gibt. Und das gilt, auch wenn wir Christen sind! Die Strafe nämlich hilft uns, das wirklich zu begreifen und für wahr zu halten: Gott liebt mich so, daß er mich begnadigt. Die Strafe hilft mir abtragen, wieder gut zu machen, das Gefühl zu empfinden und zu behalten, ich bin wieder mit Gott und mit den Menschen in Ordnung.

Und auch die uralte Lehre von der Buße weiß von der Strafe: „satisfactio operis" wird sie genannt, die „Wiedergutmachung durch Werke". - Sie ist das dritte.

Ich weiß schon, daß sich da unsere evangelischen Ohren und Seelen sträuben. „Werke", wie sich das schon anhört! Aber noch einmal: Wir tun diese Werke nicht, um Gott das Ewige Leben abzutrotzen, um uns durch Leistung den Himmel zu verdienen. Der ist uns geschenkt - durch Christus. Aber wir tun Werke um unserer selbst willen, um frei und froh zu werden, um - ja ich spreche auch das aus - um unser Gewissen zu beruhigen. Denn zuletzt ist es unser Gewissen, das uns zu alledem anspornt und treibt. Und dieses Gewissen hat - Gott sei Dank! - jeder Mensch mitbekommen, ja, eingeboren von Gott. Und es ist schon bemerkenswert, dieses Gewissen scheinen auch Menschen zu haben, die sich ausdrücklich nicht als gottgläubig bezeichnen. Es waren ja doch nicht christliche Gefangene im russischen Straflager für Lebenslängliche, die für sich selbst die harte Bestrafung gefordert haben.

„Wahre Reue liebt die Strafe!" Es scheint so zu sein, daß alles in uns dahin zieht, daß wir mit unserer Sünde zu Gott kommen und mit unserer Schuld zu den Menschen, die wir beschwert, beleidigt oder gemein behandelt haben. Das Gewissen hat uns Gott dazu gegeben, daß es uns auf diesen Weg bringt. Von der Reue geht es über das Bekennen. Und auch die Strafe dient unserem Frieden mit Gott und den Menschen.

(Liedstrophen: 299, 4 + 5 Und ob es währt bis in die Nacht...)