Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis - 6.7.2003

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(Die Luth. liturg. Konferenz hat den Text des 3. So.n.Trin. der Reihe 1 durch den der Reihe 3 ausgetauscht, ohne dies in der predigenden Öffentlichkeit genügend zu kommunizieren. Die hier vielleicht erwartete Predigt über das "Verlorene Schaf" findet sich jetzt in der 3. Reihe unter dem 3. So.n.Trin.)

Liebe Gemeinde!

Wieder einmal - wie alle 6 Jahre - ist uns für diesen Sonntag die Geschichte vom "Verlorenen Sohn" als Predigttext verordnet. Sie gehört ja zu den Geschichten, die wir alle gut, sehr gut kennen. Trotzdem will ich sie jetzt lesen. Vielleicht - da ihnen der Inhalt ja sicher nicht neu ist - achten sie einmal darauf, welche der Rollen im Gleichnis sie am meisten anspricht. Immer ist das ja so bei Erzählungen, die wir hören, wir suchen uns mehr oder weniger bewußt eine der handelnden Figuren aus und versetzen uns in sie hinein. Schauen wir einmal, welche das heute ist. Aber hören wir jetzt erst einmal auf das Gleichnis, das Jesus damals den Frömmsten unter den Juden erzählt hat:

Textlesung: Lk. 15,1-3.11b-32

Es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und ißt mit ihnen. Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne. Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie. Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen. Als er nun all das Seine verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land, und er fing an zu darben und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm. Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner! Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn; er lief und fiel ihm um den Hals und küßte ihn. Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße. Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße und bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; laßt uns essen und fröhlich sein! Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein. Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen und rief zu sich einen der Knechte, und fragte, was das wäre. Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat. Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, daß ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre. Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verpraßt hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.

Wie ist es Ihnen damit gegangen? Groß ist die Auswahl ja nicht. Mit der Rolle des Vaters werden wir uns gewiß nicht befassen wollen. Die ist wohl Gott vorbehalten. Und der "Bürger jenes Landes"? Der hat nun wieder eine so kleine unbedeutende Nebenrolle. Die lohnt sich gar nicht, daß wir sie spielen. Bleiben also nur die beiden Söhne. Welchen möchten sie übernehmen? -

Sie spüren das jetzt sicher genau wie ich. Das ist eine ganz vertrackte Geschichte! Fast hätte ich jetzt gesagt: Sie ist gemein! Aber wirklich, was wir uns nun auch aussuchen, es ist allemal unangenehm! Und genau wie uns ging es sicher auch schon den ersten Hörern dieses Gleichnis', den "Pharisäern und Schriftgelehrten". Es ist einfach keine schöne Rolle in dieser Geschichte zu kriegen! Höchstens eine, die weniger unangenehm ist als die andere. Aber welche ist das?

Möchten sie eher dem Sohn gleichen, der alles in kurzer Zeit verpraßt, was ihm sein Vater doch für's Leben mitgegeben hat? Möchten sie so tief sinken? Mit fragwürdigen Freunden alles durchbringen. Auf den Kopf hauen, was des Vaters Lebenswerk war? Mit den Schweinen am Trog stehen und die heißen Tränen der Scham über sich selbst weinen müssen. Schrecklich ist das! Nein, mit diesem wollen wir nichts zu tun haben. So sind wir nicht, so nicht!

Und der andere? Der zu Hause geblieben ist? Der wohlanständig immer getan hat, was der Vater von ihm verlangt, der sich nie etwas hat zuschulden kommen lassen... Der aber doch so freudlos, hart und böse ist. Der sich nicht mitfreuen kann, nicht barmherzig sein kann und nicht neu anfangen mag und der schon gar nicht einem anderen den neuen Anfang schenkt! Möchten sie dessen Rolle spielen?

Ein Schriftsteller unserer Tage (André Gide) - der wohl auch gespürt hat, daß uns dieses Gleichnis keine richtige Wahl läßt - macht es sich und uns einfach: Er erzählt diese Geschichte nach und läßt noch einen dritten Bruder auftreten. Einen kleinen, der noch brav zuhause lebt und nur vorsichtig darüber nachdenkt, ob er wohl mehr dem einen oder anderen Bruder zuneigt, ob er auch weglaufen oder anständig beim Vater bleiben soll. Das wäre vielleicht unsere Rolle! Aber leider, sie existiert nicht! Und das ist wohl das vertrackte an diesem Gleichnis: Der eine oder der andere - sonst gibt's keine Möglichkeit. Und beide Rollen entsprechen nicht dem Bild, das wir von uns haben. Trotzdem: Wen möchten wir spielen?

Also ich weiß, wie ich antworte: Ich möchte dann doch lieber der verlorene Sohn sein! Die Haltung des älteren Bruders finde ich zu kleinlich, zu gemein und unbarmherzig. So möchte ich nicht sein. Und sie? Geht's ihnen nicht ähnlich? Und ist das nicht vielleicht das "vertrackte" an diesem Gleichnis, dass es uns dann doch - trotz unserer inneren Widerstände - zu der Rolle des verlorenen Sohnes führt, weil uns die kleinkarierte Art des anderen nun doch überhaupt nicht behagt?

Dringen wir also noch ein bißchen tiefer ein in die Rolle des Verlorenen, der alles vergeudet und vertan hat, der so tief gefallen ist, der sich so schämt und so klein und ohne Erwartungen zurückkehrt zum Vater: Nur wie ein Tagelöhner will er leben. Er hat keinen Anspruch mehr, kein Recht, keine Selbstachtung... Aber der Vater läuft ihm entgegen! Er hat schon so lange gewartet. Er breitet die Arme aus, umfängt und küßt ihn. "Mein Kind!" Endlich, endlich ist es zurückgekehrt. Jetzt gibt's nur noch eines: Ein Fest wird gefeiert. Ein Kalb wird geschlachtet. Alles, was gewesen ist...nicht mehr wichtig. Die Freude! Mein Kind ist wieder lebendig! Tut ihm ein Festkleid an! Gebt ihm einen Ring an die Hand. Wir wollen feiern, tanzen und singen und fröhlich sein.

Doch: Von diesem Ausgang her betrachtet, läßt sich diese Rolle spielen! Da ist sie nicht mehr so übel. Aber der Anfang und dieser Abstieg... Das geht uns denn doch gegen die Ehre. So sind wir nicht. So mögen wir nicht sein. Andererseits: Wenn es doch so ausgeht, möchten wir dann nicht doch vielleicht auch die unangenehmen Teile der Rolle übernehmen?

Liebe Gemeinde, ich glaube, es ist mit dieser Geschichte und ihren beiden Figuren so, wie es uns Menschen überhaupt vor dem Angesicht Gottes geht. Und es dreht sich in ihr um dieselbe, die eine Frage, die Gott uns das ganze Leben lang stellt und immer wieder stellt und die wir einmal beantworten müssen. Und es wird schließlich in dieser Geschichte aufgenommen, was der Wochenspruch und unzählige Worte der Bibel immer wieder und wieder vor unser Ohr und unser Herz bringen: Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Und in der Woche zuvor hieß es: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid... Und noch gewiß tausend Verse der Heiligen Schrift sagen dasselbe und das heißt: Bist du, Mensch, bereit, anzuerkennen, daß du verloren bist, Sünder bist, mühselig in deinem eigensüchtigen Wesen, beladen mit Schuld und mancher Bosheit, schwach, ohne Halt und Ziel durch deine Tage treibst. Bist du, Mensch, bereit, einzugestehen, daß du Gott brauchst, um deine Sache zurecht zu bringen, daß du Vergebung nötig hast, um neu beginnen zu können, daß du dein Leben und alle guten Gaben vertust und vergeudest fern von Gott, daß du vor die Hunde gehst, wenn du nicht in seiner Nähe bleibst. Bist du bereit und fähig, das zu sehen und dann so zu sprechen: Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen?

Ja, das ist wohl der Schlüsselsatz unserer Rolle. Hier beginnt sie sich in der anderen Richtung zu entwickeln, hier könnten wir dann wohl auch noch Freude an ihr gewinnen... Aber halt: Das gehört auch dazu. Das kommt zuvor: Ich will in mich gehen, denn ich sterbe hier vor Hunger. Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen. Können wir das nicht nachsprechen, dann können wir die ganze Rolle nicht spielen. In der Geschichte nicht - und im Leben auch nicht. Das ist die ganze, vielleicht bittere Wahrheit dieser Geschichte und unserer Beziehung zu Gott: Daß er uns erst dahin führen will, daß wir die eigene Schwäche, Schuld und Verlorenheit erkennen. Dann - aber erst dann - will er uns retten. Was uns stolzen Leuten wohl immer wieder - und vielleicht gerade in dieser hochmütigen Zeit - so schwierig zu verstehen ist, das begreifen wir vielleicht doch von dem Weg her, den Gott in Jesus Christus für seine Menschen gegangen ist: Einer ist das Opfer für alle geworden. Einer stirbt für die Sünde aller. Gott gibt sein Liebstes für die verlorenen Kinder - daß sie daran seine Liebe erkennen. Wie mag Gott das kränken, wenn diese Kinder dann immer wieder meinen, sie könnten ihr Leben allein bestehen? Wie mag Gott das wehtun, wenn diese Kinder dann jede Schuld von sich weisen, für die dieser eine hat leiden und sterben müssen. Wie mag Gott schmerzen, wenn diese Kinder allein alle Gaben verprassen, die er ihnen zum Teilen und zum sinnvollen Leben in der Gemeinschaft mit den Brüdern und Schwestern anvertraut hat?

Ich glaube fest, es ist die Frage jedes Lebens, ob wir einmal dahin gelangen, daß wir uns aufmachen zu unserem Vater und ehrlich betrübt über uns selbst so sprechen können: Ich habe gesündigt vor dem Himmel und vor dir. Ich bin nicht wert, dein Kind zu heißen.

Was wir dann mit dem Vater erleben werden, wird uns von der Rolle des Verlorenen restlos überzeugen! Es ist zutiefst unsere Rolle: Erst am Anfang, bis wir den Schlüsselsatz sprechen - und dann am Ende, wenn wir in die ausgebreiteten Arme Gottes sinken und wir uns freuen, ein Fest im Hause unseres Vaters feiern und fröhlich sind, ewig fröhlich.

Ich weiß nicht, ob die frommen Zuhörer damals die Geschichte begriffen haben und ob sie sich in dem verlorenen Sohn wiedergefunden haben. Ich weiß nur, daß dies die einzig richtige Rolle für uns ist und die einzig angemessene auch. Irgendwann im Leben müssen wir sie übernehmen. Warum nicht heute? - Und von ihrem Ende her betrachtet ist sie gar nicht so schlecht, vielmehr eine wunderbare Rolle!