Predigt zum Heiligen Abend: Christvesper/-mette - 24.12.2002

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(Die Predigt (für eine besinnliche Christvesper oder -mette) kann auf mehrere SprecherInnen verteilt werden. Die eigentliche Predigt übernimmt ein Sprecher, die Wunschzettel der Jungen und die der Menschen aus der Kirchengemeinde einer oder mehrere andere. Die Wunschzettel aus der Kirchengemeinde sind entsprechend der Besucherzahl des Gottesdienstes vervielfältigt. Jeder GD-Besucher bekommt am Ende einen Wunschzettel und ein Licht ausgeteilt und mit nach Hause.)

Textlesung: Lk. 2,1-14 (15-20)
Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt.

Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger.

Und als sie dort waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.

Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Liebe Gemeinde in der Heiligen Nacht!

Der Mann, von dem ich heute abend erzählen will, er heißt Markus, war damals vierzehn und Späher in einer christlichen Pfadfindergruppe. Und es war in genau dieser Stunde zwischen ... und ... Uhr in der Heiligen Nacht irgendwo mitten im Wald nahe einer Großstadt. Mit Markus waren noch 15 andere Jungen zusammen, alle in eben diesem Alter so zwischen 13 und 16 und ein "Führer", so nennt man den Chef eines Pfadfinderstamms, der wird 24 gewesen sein. Die Christvesper und die Bescherung zu Hause in den Familien lag hinter den jungen Leuten. Jetzt waren sie mit der Straßenbahn aus der Stadt hinausgefahren und wollten - wie jedes Jahr - ihre "Waldweihnacht" haben. Waldweihnacht! - was für ein Ereignis! Die Vorfreude! Dahinter verblaßte alles, was in der Kirche und in den guten Stuben zu Hause geboten wurde. Dafür verließen Markus und die anderen Jungen ohne Zögern ihre Geschenke, die sie gerade erst empfangen hatten. Waldweihnacht...

Die Mütter und Väter erlaubten ihren Kindern gerne, dabei zu sein - mitten in der Nacht. Denn die Jungen waren nicht nur Pfadfinder, sie waren auch junge Christen und einige von ihnen in dieser Zeit auch Konfirmanden. Und die Eltern wußten, hinter der Pfadfindergruppe steht die Kirchengemeinde und der Pfarrer, da lernen sie nichts schlechtes, unsere Kinder. Und sie müssen es wohl auch hinterher gespürt haben, welcher Eindruck und welche wichtigen Erfahrungen und Vorsätze von diesem Ereignis ausgingen: Waldweihnacht...

Dabei war es im Wald nun wirklich viel einfacher und bescheidener als in den guten Stuben daheim: Irgendwo am Rand einer Lichtung wurden einer kleinen Fichte ein paar Kerzen aufgesteckt. Davor wurde eine Krippe gestellt und die Jungen machten einen Kreis darum und hörten die Weihnachtsgeschichte, sangen ein paar Lieder schauten in die Kerzen und schwiegen... - Ja, es war eigentlich alles ein bißchen so wie jetzt hier...

Orgelvorspiel zu: Ich steh an deiner Krippen hier...

In dem Jahr, von dem ich erzähle, hatte der Gruppenführer zu Markus und den anderen gesagt: "Bringt doch einmal eure Weihnachtswünsche mit, auf einem Zettel geschrieben." Und jetzt - nach Singen, Hören und Schweigen - sagte er: Nun legt eure Wunschzettel in die Krippe hinein. Und die Jungen taten es. Dann trat er heran an die Krippe und nahm einen Zettel nach dem anderen heraus und las sie vor. Sehr langsam und sehr ernst in die Stille des Waldes hinein. Markus weiß noch heute viele dieser Wünsche! Sie haben sich ihm eingeprägt, wie alles andere, was in dieser Nacht noch geschah. Und sein eigener Herzenswunsch war ja auch dabei...

Lied: Ich steh an deiner Krippen hier... 37, 1 - 4

(Wunschzettel aus der Krippe werden vorgelesen:)

  1. Ich wünsche mir ein neues Fahrrad mit 10 Gängen.
  2. Ich wünsche mir zu Weihnachten, daß ich Mathe endlich begreife und versetzt werden kann.
  3. Mein Wunsch zur Weihnacht ist, daß meine Eltern sich nicht scheiden lassen, sondern zusammenbleiben und sich wieder liebhaben.
  4. Ich wünsche mir mehr Taschengeld.
  5. Ich wünsche mir zum Fest wenigstens einen Freund, auf den ich mich verlassen kann.
  6. Ich wünsche mir, daß ich endlich mein eigenes Zimmer bekomme und nicht mehr die Kleider von meinem großen Bruder auftragen muß.

So wurden damals 15 Wunschzettel gelesen. Und dann? Dann kam etwas, das nicht nur Markus erst sehr enttäuscht, ja fast empört hat. Später aber wurde es doch zu einer der wichtigsten Erfahrungen in Markus Kindheit und Jugend - und er glaubt heute, den anderen ist das auch so gegangen: Der Gruppenführer legte nämlich die Wünsche der Jungen beiseite und zog einen Leinensack hervor, den er in die Krippe ausleerte.

(Ein Leinensäckchen mit Zetteln wird in die Krippe entleert)

Dann sagte er: Ich habe euch heute auch Wünsche mitgebracht. Es sind Wunschzettel von Menschen aus unserer Gemeinde. Unser Pfarrer hat sie aufgeschrieben, weil viele von denen, die diese Wünsche haben, sie aus Bescheidenheit oder auch Stolz nicht aufgeschrieben hätten oder das gar nicht mehr könnten. Unser Pfarrer hat nun mich gebeten, auch euch diese Wünsche weiterzusagen. Und dann ging er unter den enttäuschten Blicken von Markus und den anderen Jungen daran, die Wunschzettel der Menschen ihrer Kirchengemeinde einen nach dem anderen vorzulesen:

  1. Ich bin seit ein paar Monaten im Altenheim. Mein Zimmer ist schön, hell und freundlich. Das Essen und die Pflege ist gut. Aber ich bin sehr einsam. Die Nächte sind ja noch erträglich, oft kann ich zwar nicht schlafen, aber ich habe doch Ruhe und kann mich an schönen Erinnerungen freuen. Die Tage aber sind schwer, sehr schwer und wollen immer nicht enden. Ich wünschte mir einen, der vielleicht einmal in der Woche zu mir kommt, mit mir spricht und vielleicht einen Kaffee mit mir trinkt. Ich wünsche mir, daß ich nicht nur in der Vergangenheit leben muß, sondern auch in der Gegenwart. Ich wünsche mir jemand, der neben die Gedanken an früher auch einmal eine gute Erfahrung von heute setzt. - Das ist mein einziger Wunsch.
  2. Ich lebe seit einiger Zeit in der Kirchengemeinde - aber ich spüre deutlich: Ich gehöre nicht dazu. Und meine Frau und meine Kinder, die spüren es auch. Seit ich meine Arbeit verloren habe, ist es noch schlimmer geworden. Die Leute schneiden und meiden uns. Ich weiß, ich bin sicher sehr empfindlich und nehme inzwischen auch manches, was gut gemeint ist, krumm. Aber alle scheelen Blicke sind gewiß keine Einbildung. Und bei allem, was die Leute hinter vorgehaltener Hand sagen, kann ich mich nicht verhört haben. Und warum sind die Kinder, die meine Jüngste neulich zum Geburtstag eingeladen hat - die alle zugesagt hatten! - dann alle nicht gekommen?
    Ich wünsche mir nur das eine: Daß uns die Leute in der Gemeinde nicht wie Asoziale und Schmarotzer ansehen und behandeln, sondern wie Menschen. Das wäre mein größter Weihnachtswunsch!
  3. Ich bin ein alter Mann. Ich wohne in einer kleinen Wohnung allein. Angehörige habe ich zwar, einen Sohn und seine Familie, aber sie wohnen sehr weit weg. Sie kommen nur mal auf der Durchreise vorbei, wenn es in den Urlaub geht im Sommer. Mein bißchen Wäsche kann ich mir noch selbst machen. Mein Essen bekomme ich jeden Mittag gebracht. Für's Putzen habe ich jemand aus der Nachbarschaft. Ich wünschte mir einen, der mir mal eine Besorgung macht, mich hin und wieder mit dem Auto mitnimmt, wenn ich meine Rente hole oder auf einer Behörde zu tun habe. Wenn man so schlecht laufen kann wie ich, dann ist oft schon der Weg zum Bäcker zu weit. Ich wünschte mir einen, der jeden Tag vielleicht ein paar Minuten für mich und meine kleinen Bedürfnisse Zeit findet und mich hie und da mitnimmt, wenn er sowieso eine Fahrt vorhat. Das ist mein Wunsch zu Weihnachten.
  4. Ich pflege seit einigen Jahren meine alte Mutter. Ich tue das auch gern und will mich nicht darüber beklagen. Zweimal in der Woche kommt die Gemeindeschwester und macht ein paar Pflegearbeiten, die ich nicht machen kann. Auch mein Mann und meine Kinder helfen manchmal mit, wenn ich etwas nicht allein schaffe. - Soweit kann ich mich nicht beschweren. Aber es ist da noch etwas anderes, das wird mir zum immer größeren Problem - es fällt mir schwer, darüber zu sprechen: Gewiß, es ist meine Mutter. Aber irgendwann meinst du, dein eigenes Leben ginge nur noch außen an dir vorüber. Es ist, als lebtest du es gar nicht mehr selbst! Ja, du wirst gelebt von den Anforderungen der Pflege, vom Zeitplan, wann dies und das zu tun ist, von den Rufen der Mutter, von ihrem Stöhnen und ihrer Unruhe in der Nacht, wenn sie nicht schlafen kann... Was ich mir wünsche? Jemand, der einmal nach mir fragt. Der von mir wissen will, wie es mir wirklich geht - hinter der Fassade, die ich als "gute Tochter, die ihre Mutter doch nicht im Stich läßt" aufgebaut habe. Es ist vieles sehr schwer, am schwersten aber ist, daß ich niemanden habe, der versteht, daß ich auch einmal all meinen Jammer hinauslassen möchte, einmal klagen möchte und vielleicht zornig werden möchte. Ich wünsche mir einen Menschen, der mich versteht, ohne mich zu verurteilen, einen der erträgt, daß ich auch einmal weine, ohne gleich zu sagen: Aber sie ist doch deine Mutter! - Mehr - oder sage ich besser: weniger? - wünsche ich mir nicht.
  5. Ich bin vor ein paar Jahren aus dem Osten hierhergekommen. Die Heimat, in der ich aufgewachsen bin, liegt über 4000 km von hier. Immer noch fühle ich mich sehr fremd in Deutschland. Die Sprache verstehe ich zwar, aber nicht die Gedanken der Menschen und nicht, wie sie miteinander umgehen und nicht, wie sie ihren Glauben an Gott leben. Schon der Gottesdienst war so ganz anders, daheim... Und es haben viel mehr Menschen teilgenommen; nur die ganz Alten und Kranken sind weggeblieben. Und das, obwohl es gar nicht gern gesehen wurde, wenn wir uns versammelt haben, um Gottesdienst zu feiern. Hier im Westen sind wir frei, auch in unserem Glauben. Wir können viel besser leben und müssen keine Angst haben. Aber die Leute verstehen uns nicht so richtig, das spüre ich oft und die herzliche Gemeinschaft, die wir früher kannten, die gibt es hier nicht mehr. Manchmal sehne ich mich nach zu Hause... Und ich weiß doch, daß meine Heimat jetzt hier ist und es kein Zurück mehr gibt. - Ich wünsche mir, daß nicht nur wir alle unsere Träume, unsere Art zu glauben und zu leben aufgeben müssen. Ich wünsche mir, daß auch die Menschen hier ein bißchen auf uns zukommen und vielleicht sehen, daß auch manches gut ist, was wir in den Westen mitgebracht haben.
  6. Ich will es klar aussprechen: Ich habe vor Jahren große Schuld auf mich geladen. Ich habe einigen Menschen leichtfertig großes Leid bereitet. - Ich habe das bereut und bin inzwischen auch mit denen wieder gut, denen ich das angetan habe. Sie tragen mir nichts mehr nach und ich bin dankbar dafür. Viele andere im Dorf aber können nicht vergeben. Sie legen mich immer noch auf das fest, was ich einmal getan habe - auch wenn es gar nicht gegen sie ging! Die Schuld, die mir die wirklich Geschädigten längst verziehen haben, wird mir von anderen immer noch vorgehalten - oder sie lassen es mich doch fühlen, wie sie immer noch von mir denken. Manchmal meine ich, sie brauchten halt jemanden, über den sie sich erheben und auf den sie herabsehen können. Aber das ist so schwer, wenn man die Ketten der Schuld nicht endlich ganz abwerfen kann! Du fühlst dich immer noch wie in einem Gefängnis, aus dem du dich selbst nicht befreien kannst. - Ich wünsche mir so sehr, daß mich die Leute wieder ohne Vorbehalte und ohne hochgezogene Augenbrauen ansehen und mir wirklich glauben, daß ich eine andere geworden bin seit damals!

Lied: Wann oft mein Herz im Leibe weint... 37, 5

Markus mußte sich damals noch viel mehr Wünsche anhören. Auch ganz kurze dabei, ganz praktische: Da wollte eine alte Frau einmal in der Woche die Kohlen aus dem Keller geholt haben. Da bat ein alter Mann darum, daß jemand ihm zwei-, dreimal in der Woche die Zeitung vorliest. Eine alleinstehende Mutter suchte einen, der jeden Montagabend Babysitter bei ihren Kindern machte, wenn sie den Weiterbildungskurs besuchte.

Die Jungen erfuhren jedenfalls damals bei der Waldweihnacht, daß nicht nur sie Wünsche hatten, sondern auch andere...und es schienen ihnen insgeheim die Wünsche der anderen fast größer, jedenfalls viel wichtiger als ihre eigenen. Trotzdem - wenn Markus sich heute daran erinnert - dann war es auch genau das, was den jungen Leuten nicht gefiel, ja, was sie ärgerte... Nahm man ihre Wünsche denn gar nicht ernst? Warum hatten die Jungen sie denn aufgeschrieben und mitgebracht, wenn dann die Wunschzettel anderer Leute vorgetragen wurden?

Der Pfadfinderführer hat dann jedem von den Jungen einen dieser Wunschzettel gegeben. Nicht einen bestimmten, sondern ganz wahllos, zufällig... Aber es war schon seltsam und ist wohl auch der Grund gewesen, warum Markus mir neulich die Geschichte von der Waldweihnacht vor vielen Jahren erzählt hat: Zu ihm nämlich ist damals der Wunsch mit dem "Kohlen holen bei der alten Frau" gekommen. Schon Tage später war er dann zum ersten Mal bei ihr. In den Wintern der vier folgenden Jahre hat er dann diesen Dienst für die alte Dame getan. Dann ist sie gestorben. Die Erfahrung allerdings, die ihm das geschenkt hat, ist bis heute lebendig geblieben - ja Markus ist fest überzeugt davon, daß ihn der Wunsch der alten Dame und dann sein Dienst für sie auch auf den beruflichen Weg gebracht hat, den er dann eingeschlagen hat: Er ist nämlich Krankenpfleger geworden. Jedenfalls hat ihn seit der Waldweihnacht damals dieser Gedanke nie mehr losgelassen:

Anderen helfen, anderen beistehen und Freude machen, das hilft auch immer einem selbst und macht uns auch selbst Freude. Und noch etwas weiß er seitdem: Die eigenen Wünsche werden damit, daß wir anderen helfen, zwar nicht erfüllt, aber sie werden viel kleiner, und wir entdecken über der Not oder den Sorgen anderer, daß unser eigener Wunsch doch vielleicht nicht ganz so wichtig ist, gemessen an dem, was manche Mitmenschen sich wünschen und wirklich sehr nötig und manchmal lebensnotwendig brauchen.

Orgelspiel - dabei Verteilung der Wunschzettel und des Lichts durch die SprecherInnen an alle Gottesdienstbesucher