Predigt zum So. „Misericordias Domini“ - 8.5.2011 Textlesung: Hes. 34,1-2 (3-9) 10-16.31 Und des HERRN Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet. Darum hört, ihr Hirten, des HERRN Wort! So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, darum, ihr Hirten, hört des HERRN Wort! So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen. Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zer- streut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes. Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR. Liebe Gemeinde! Sehr harte Worte, die der Prophet da findet! Noch dazu spricht er in Bildern, die uns - über zweieinhalb Tausend Jahre später - doch ein wenig fremd sind: „Sie schlachten das Gemästete, die Schafe aber wollen sie nicht weiden.“ - „Meine Schafe sind zum Raub geworden und meine Herde zum Fraß für wilde Tiere.“ - „So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen.“ - „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.“ Das ist schon erklärungsbedürftig. Darum ein paar Hinweise dazu: Der Priester Hesekiel ist mit der Oberschicht des Volkes Israel vom babylonischen König Nebukadnezar (um 597 v. Chr.) nach Babylon deportiert worden. Dort wird Hesekiel von Gott zum Propheten berufen. Seine Aufgabe - das verstehen wir an seiner Weissagung, die wir heute bedenken - ist einerseits, den nach Babylon Verschleppten zu begründen, warum Gott sein Volk und die Heilige Stadt Jerusalem hat in die Hände der Feinde fallen lassen. Zum anderen aber will er seine Volksgenossen trösten und ihre Hoffnung auf Heimkehr und einen Neuanfang mit ihrem Gott stärken. Wenn er dabei das Bild von den schlechten und dem einen rechten Hirten ge- braucht, dann kann er sich damals darauf verlassen, dass ihn jeder versteht: Hirte des Volkes zu sein, war im Alten Orient nämlich ein Würdetitel der Könige! Die Hirten aber, also die Könige seines Volkes, hatten sich dieses Ehrentitels als unwürdig erwiesen, indem sie die Schafe nicht geweidet, sondern nur ausgebeutet haben. Gott aber wird eine Zeit heraufführen, in der er sich selbst seiner Schafe, seines Volkes annehmen wird. - Soweit zur Prophezeiung und zur Zeit Hesekiels. Was können wir daraus entnehmen und in unsere Zeit übertragen? Liebe Gemeinde, sicher wird das nicht jedem gefallen, was ich jetzt sage und wie ich die Worte und Gedanken des Hesekiel für unsere Welt heute und unsere Zeit deute. Aber es ist ja jeder und jedem selbst überlassen, dem nachzudenken, es zu prüfen und für sich anzunehmen oder zu ver- werfen! - Aber genug der Vorrede. Auch in unserer Zeit gibt es Hirten, von denen der Prophet gewiss sagen würde, sie sind von Gott eingesetzt, die Schafe zu weiden, also die Wohlfahrt des Volkes voranzutreiben, das Ge- meinwesen zu pflegen, das Schwache zu stützen und zu schützen und dem Starken seine Gren- zen zu setzen, dass es nicht überhand nimmt. Wer sind diese Hirten? Vielleicht wundern Sie sich jetzt, wenn ich da nicht nur die von uns gewählten Politiker nenne, sondern auch die Chefs der kleinen und großen Firmen und Wirtschaftsunternehmen, die Direktoren und Abteilungsleiter in den Versicherungen und Banken und alle anderen, die irgendwo in unserer Gesellschaft anderen Menschen übergeordnet und damit für sie mitverantwortlich sind. Aber sorgen sie für das Wohl aller? Sorgen sie für die Menschen, die ihnen anvertraut sind? Haben sie den Schutz der Schwa- chen und die Pflege der Armen im Blick? Bevor wir die Frage beantworten, ein deutliches Wort: Es gibt diese Hirten! Es gibt dieses Be- mühen um andere Menschen, gerade um die Bedürftigen, Schwachen und Armen der Gesell- schaft. Aber sie kommen mit ihren Mühen immer weniger gegen die „Hirten“ an, die sich nur selbst mästen, die ihre Stellung nur nutzen, um damit andere Menschen, ihre Schutzbefohlenen auszubeuten, „Hirten“, denen nur an der eigenen Wohlfahrt gelegen ist und die über das Leid der Schwachen kalt und mitleidlos hinweggehen. Und ich will hier auch Beispiele geben, Beispiele, die nicht verschleiern, was und wen sie meinen: Die Verursacher der Banken- und Wirtschaftskrise der letzten Jahre ... Wo wurden sie denn an der Wiedergutmachung des immensen volkswirtschaftlichen Schadens, den sie verursacht haben, angemessen beteiligt? - Die Zeche haben fast ausschließlich die kleinen Leute bezahlt - und sie bezahlen sie noch viele Jahre lang. Die Leute in den Aufsichtsräten der kollabierten Banken und Wirtschaftsunternehmen ... Wer von ihnen musste wirklich für das geradestehen, was ihm fahrlässig und schuldhaft unterlaufen war? - Die Politik hat sich meist vor sie gestellt und sie vor strafrechtlicher Verfolgung ges- chützt. Oft wohl deswegen, weil viele Aufsichtsräte selbst Politiker waren. Überhaupt: die Politiker im Bundestag, den Landtagen und Kommunen ... Welche ihrer Entscheidungen dienen wirklich in erster Linie denen, die sie gewählt haben oder gar den Schwachen in der Gesellschaft? Wo erkennen wir das ehrliche Bemühen, das Einkommen der Armen zu verbessern und ein menschenwürdiges Leben für sie zu ermöglichen? (Und fragen wir auch einmal aus ganz aktuellem Anlass: Welches Vorbild geben sie uns, wenn wir ihre Sicht zu Fragen der Ethik und Rechtsstaatlichkeit hören?) - Scheint in den Diskussionen und Debatten nicht viel zu oft und allzu deutlich durch, dass es um die eigene politische Profilierung geht, um das Wohl der Partei, der man angehört und um die Karriere, die man gerne machen möchte? Das Ergebnis ist dann etwa in der Gesundheitspolitik die Budgetierung, nach der in der Arztpraxis jede Leistung eine bestimmte Minutenzahl und Summe wert ist und der Arzt am Ende des Quartals kranke Menschen nicht mehr versorgen darf, wenn er die Kosten dafür nicht selbst übernimmt. Und in der Steuerpolitik ist das Ergebnis die Entlastung etwa von Hoteliers, die eine wesentlich geringere Mehrwertsteuer entrichten müssen - die Zeche dafür zahlen - wie meist - die anderen und eben auch die Armen. Schließlich - um nur noch ein weiteres Ergebnis zu nennen - wird beim Arbeitslosengeld II monatelang um 5 Euro mehr gerungen. Am Ende wird dann publikumswirksam und gnädig allseits dieser Erhöhung zugestimmt, einem Mehr von 0,7 %, das zu dieser Zeit schon lange von der Inflationsrate aufgefressen ist. (Was die Fragen der Ethik angeht, haben wir aus höchsten Regierungskreisen in den letzten Wochen zwei be- merkenswerte Einschätzungen vernommen: Einmal berührt Betrug und Urkundenfälschung eines Ministers, wie sie in der Plagiatsaffäre offenkundig geworden sind, angeblich nicht die Arbeit dieses Ministers, auch nicht die Beziehung zu ihm und nicht seine Vertrauenswürdigkeit als Träger dieses hohen Amts. Zum anderen wurden wir Zeuge davon, dass die Tötung eines unbewaffneten Terroristen, also die Vollstreckung eines Urteils ohne Prozess, in eben diesen höchsten Regierungskreisen nur Freude ausgelöst hat und keinerlei Bedenken, ob das Vorgehen in dieser Tötungsaktion ethisch und christlich zu rechtfertigen ist und rechtsstaatlichen Maßstäben standhält.) In diese politische und wirtschaftliche Situation, in diese gesellschaftlichen Verhältnisse und in die Ungerechtigkeit, die sich darin offenbart hinein, spricht Hesekiel auch heute sein Wort - er hat es von Gott: „Hört, ihr Hirten, des HERRN Wort! So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, darum, ihr Hirten, hört des HERRN Wort! So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.“ Liebe Gemeinde, ich überlasse es Ihrer Hoffnung und Ihrer Phantasie sich auszumalen, wie Gott das machen wird, was er ankündigt. Eins allerdings ist sicher: Er wird es tun - und wenn nicht al- les täuscht, ist er schon hier und dort, in Nordafrika und Arabien, in vielen anderen Ländern der Erde, selbst in China und auch bei uns am Werk. Achten wir auf die Zeichen: Er ist ein Gott der Schwachen. Er ist ein Hirte, der die Armen lieb hat. Er ist auf der Seite derer, die gering sind im Ansehen und aller, denen ihr Recht vorenthalten wird und über deren Bedürfnisse und Interessen die Großen, Reichen und Mächtigen gern hinweggehen. Aber er ist Gott, König und Hirte seiner und aller Menschen! AMEN