Predigt zum 1. Adventssonntag - 28.11.2010 Textlesung: Jer. 23, 5 - 8 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: „Der HERR unsere Gerechtigkeit“. Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: „So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!“, sondern: „So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.“ Und sie sollen in ihrem Lande wohnen. Liebe Gemeinde! Ich glaube, dass sich gerade in dieser Zeit, in unserem Land und in unserer Gesellschaft eine neue Volksbewegung formiert. Die Möglichkeit der Wahl alle paar Jahre ist den Menschen zu wenig. Sie fordern Beteiligung an den politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen innerhalb der Wahlperio- den. Das Volk will gefragt werden, bevor man Großprojekte, die Milliarden kosten, durchzieht. Aber das wichtigste Ziel dieser Bewegung ist dies: Es soll gerecht zugehen unter den Menschen. Und es soll endlich einen Ausgleich geben zwischen Arm und Reich und die Schwächsten in der Gesellschaft sollen nicht immer am stärksten belastet werden, während die Betuchten auch weiter und immer mehr großzügige Geschenke erhalten. Dass die Lasten in der Gesellschaft immer ungerechter verteilt werden, ist offenkundig. Wer wurde für die Bewältigung der Bankenkrise am stärksten herangezogen? Nicht die Verursacher, sondern der Steuerzahler. Wem wird das Kindergeld vollständig auf die Unterhaltsleistungen angerechnet? Den Langzeitarbeitslosen. Und wer wird in Zukunft immer mehr für die Krankenversicherung bezahlen müssen. Die Arbeitgeber? Nein, die Arbeitnehmer. Gewiss waren das zur Zeit des Jeremia ganz andere Missstände und Probleme, die „Juda“ und „Israel“ bedrückten. Aber die Forderung nach Änderung, die Sehnsucht nach einem, der gerechte Verhältnisse schafft, war genauso groß wie heute bei uns. Und da hinein spricht Gott durch den Propheten: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.“ Und wenn wir jetzt denken, aber das galt doch damals nur Israel und Juda, dann hören wir auch noch einmal den Schluss dieser Weissagung: „Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: ‘So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!’, sondern: ‘So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.’“ Ich glaube, „Nachkommen“ des Hauses Israel dürfen wir Christen uns auch nennen! Darum gilt es auch für uns, wenn Jeremia sagt, dass Gott uns aus „allen Landen“, wohin er uns verstoßen hat, herausführen wird. Und das wird durch einen Helfer geschehen, der „HERR unsere Gerechtigkeit“ heißt. Dabei werden die Juden an den erwarteten Messias gedacht haben. Aber ich glaube, wir Chris- ten können hier an niemand anderen denken als an unseren Herrn Jesus Christus! Nun unterscheidet sich die Zeit des Jeremia und unsere Zeit heute für die Juden und die Christen be- sonders in einem: Die Juden warten immer noch auf den „Herrn unsere Gerechtigkeit“. Wir aber glauben, dass er in Jesus Christus für alle Welt sichtbar erschienen ist und unser menschliches Leben geteilt hat. Und es gibt noch einen Unterschied - einen der Erwartung an diesen Herrn: Die Juden ha- ben sicher an einen Messias gedacht, der Gerechtigkeit und Frieden mit dem Schwert bringt und durchsetzt. Wir kennen unseren Heiland anders: Gewaltlos, friedlich, liebevoll. Einer der sich nur auf seinen himmlischen Vater und die Macht seines Wortes verlässt. Einer auch, der sich nicht durchsetzt, wenn Menschen ihn ablehnen. Einer, der vielmehr selbst das Leiden nicht scheut und für seine Menschengeschwister in den Tod geht - um sie von Hölle, Tod und Teufel zu erlösen. Liebe Gemeinde, zu uns mit unserer Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden in der Gesellschaft, nach einem Ausgleich zwischen Arm und Reich kommt also dieser Herr, gewaltlos, friedlich, liebevoll. - Aber ist das genug? Trauen wir ihm wirklich noch zu, dass der die Verhältnisse, in denen wir leben, ändern kann. Und - besonders wo es uns doch eigentlich gut geht und wir eher auf der Seite der Wohlhabenden im Land leben - wollen wir die Veränderung und den Ausgleich überhaupt? Da sind wir genau bei der Frage, wie sie zu diesem ersten Adventssonntag gehört und passt: Kommt unser Heiland, kommt der Herr Jesus Christus, der König der Könige, wie wir ihn auch nennen, bei uns noch an. Er ist schon auf dem Weg. Aber werden wir ihn auch einlassen, werden wir es zulassen, dass er uns verändert, dass er in unser Herz einzieht und es aufschließt für sich und die anderen Menschen, die uns brauchen, weil es ihnen nicht so gut geht wie uns? Und da sind wir nun bei dem Lied, dass seit alters zum Advent gehört und das wir immer singen und gesungen haben am 1. Adventssonntag: „Macht hoch die Tür ...“ Ich will Ihnen einmal die Geschichte der Entstehung dieses Lieder erzählen. Sie wird uns die Frage beantworten, wie das auch heute geht, gehen kann, dass unser Heiland in unser Herz einzieht: Der Dichter des Liedes „Macht hoch die Tür ..., Georg Weissel wurde im Jahr 1590 in Domnau in Ostpreußen geboren. Er studierte in Königsberg Musik und Theologie. Nach seinem Studium wurde ihm eine Pfarrstelle in Königsberg angeboten. Weissel nahm dieses Angebot an. Über die Entstehung seines Adventsliedes berichtet Weissel selbst: "Neulich, als der starke Nordoststurm von der nahen Samlandküste herüberwehte und viel Schnee mit sich brachte, hatte ich in der Nähe des Domes zu tun. Die Schneeflocken klatschten den Menschen auf der Straße gegen das Gesicht, als wollten sie ihnen die Augen zukleben. Mit mir strebten deshalb noch mehr Leute dem Dom zu, um Schutz zu suchen. Der freundliche und humorvolle Küster öffnete uns die Tür mit einer tiefen Verbeugung und sagte: ‘Willkommen im Hause des Herrn! Hier ist jeder in gleicher Weise willkommen, ob Patrizier oder Tagelöhner! Sollen wir nicht hinausgehen auf die Straßen, an die Zäune und alle hereinholen, die kommen wollen? Das Tor des Königs aller Könige steht jedem offen.’ Nachdem ich den Schnee von meinem Gewand abgeschüttelt hatte, klopfte ich dem Küster auf die Schulter und sagte: „Sie haben da eben eine ausgezeichnete Predigt gehalten!“ Wir blieben im Vorraum des Domes, bis sich das Unwetter ein wenig legte. In der Zwischenzeit sah ich fortgesetzt zu dem hohen Portal, und da kamen mir die ersten Verse in den Sinn. Zu Hause beendete ich es in kurzer Zeit: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit ...“ Erstmals gesungen wurde das Lied dann im Advent des Jahres, in dem es Georg Weissel schrieb, und zwar vor dem Gartentor des Geschäftsmannes Sturgis. Das geschah deshalb, weil dieser ein an sein neu erbautes „Schlösschen“ angrenzendes Wiesengrundstück erworben, mit einem Zaun versehen und die Tore fest verschlossen hatte. Damit war den Leuten aus dem Armen- und Siechenheim nicht nur der nahe Weg in die Stadt versperrt, sondern auch der zur Kirche. Sie mussten jetzt eine weite, mühevolle Strecke zurücklegen, für deren Bewältigung die Kräfte vieler Heimbewohner nicht mehr ausreichten. Die Forderungen der Stadtväter und zahlreicher Bürger, die Gartentore zu öffnen, stießen bei Herrn Sturgis auf taube Ohren. So schritt denn an jenem Adventssonntag nicht nur der Chor, der das Lied anstimmen sollte, zu Stur- gis' Haus, sondern es schlossen sich auf Vorschlag von Pfarrer Weissel zahlreiche arme und ge- brechliche Leute aus dem Heim den Sängern an. Mit ihnen selbstverständlich auch der Dichter selbst. Nachdem der Chor vor dem Gartentor des Geschäftsmannes Aufstellung genommen hatte, hielt Weis- sel eine kurze Predigt. Mit großem Ernst sprach er von der hochmütigen Verblendung, mit der viele Menschen dem König aller Könige, der ja auch das Kind in der Krippe sei, die Tore ihres Herzens versperrten, so dass er bei ihnen nicht einziehen könne. Mit erhobener Stimme fuhr er fort: „Und heute, lieber Herr Sturgis, steht er vor eurem verriegelten Tor. Ich rate euch, ich flehe euch an bei eurer Seele Seligkeit, öffnet ihm nicht nur dieses sichtbare Tor, sondern auch das Tor eures Herzens und lasst ihn demütig mit Freuden ein, ehe es zu spät ist.“ Er hatte das letzte Wort noch nicht ausgesprochen, als der Chor zu singen begann: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit! Es kommt der Herr der Herrlichkeit, ein König aller Königreich, ein Hei- land aller Welt zugleich, der Heil und Leben mit sich bringt ...“ Sturgis stand wie angewurzelt. Kurz vor Beendigung des Liedes aber - die Sänger sahen es mit Erstaunen - griff er in seine Tasche und brachte einen Schlüssel zum Vorschein, mit dem er die Gartentore aufsperrte. Und von diesem Zeitpunkt an wurden sie nie mehr verschlossen. Die Heimbe- wohner hatten ihren kurzen Weg zur Kirche wieder, der noch lange Zeit „Adventsweg“ genannt wurde. Liebe Gemeinde, eine schöne Geschichte, nicht wahr? Und sie ist nicht erfunden, sondern so ges- chehen - vor vierhundert Jahren. Damals ging es um einen Weg, den arme und gebrechliche Leute zur Kirche und in die Stadt gehen konnten. Heute geht es um einen Weg, auf dem die Armen und Schwa- chen der Gesellschaft nicht abgehängt werden. Und auch heute will und kann diese Geschichte wieder geschehen! Wie das geht, lernen wir aus der Geschichte selbst: Wir hören, dass wir die Tür unseres Herzens aufschließen sollen. Wir bekommen ein Versprechen, dass - wenn wir das tun - Heil und Leben zu uns kommt. Wir erfahren, dass wir selbst den Schlüssel in der Hand haben und es also in unserer Hand liegt, die Tür unseres Herzens zu öffnen: Dass der Weg frei wird und ER einziehen kann und mit ihm die Freude und die Erfüllung der Sehnsucht vieler Menschen. Alles wird nicht an- ders, wenn wir ihm unsere Herzenstür aufschließen. Aber es ist ein Anfang. Der Anfang. AMEN Nach der Predigt wird Lied EG Nr. 1, 1-4 gesungen