Predigt zum Sonntag „Kantate“ - 2.5.2010 Textlesung: Kol. 3, 12 - 17 So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch unterei- nander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar. (Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.) Liebe Gemeinde! Sicher erwarten Sie heute, wie immer wenn wir Gottesdienst feiern, eine Predigt mit Worten, die aufbauen, die Mut machen und zu einem Leben anspornen, das Gott gefällt. Und solche Worte sol- len Sie heute auch hören - teilweise wenigstens. Aber ist es denn ehrlich, wenn wir alle ernsten Gedanken, allen Widerspruch in unserem Inneren gegen die Verse, die wir gerade gehört haben, unterdrücken? Wäre das redlich und ver- heißungsvoll? Und würde uns das wirklich gut tun und weiter bringen? Ich finde es besser und wahrhaftiger, wenn wir auch die Widerstände, die Fragen und Zweifel zu dem, was wir eben gehört haben, in uns wahrnehmen und klar benennen, dann - hoffentlich - kön- nen wir auch die andere Seite sehen, die uns Zuversicht gibt, gute Vorsätze und uns ermutigt. Aber wir wollen jetzt praktisch werden und uns die Worte aus dem Kolosserbrief eins nach dem anderen vornehmen, ohne das auszublenden, was uns fragwürdig, unrealistisch oder zweifelhaft er- scheint: „So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbar- men, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld ...“ Ersteinmal ist das ja eine ganz wunderbare Sa- che, das müssen wir schon sehen, dass wir zu den von Gott auserwählten und geliebten Menschen zählen dürfen. Aber wie ist das denn mit unserem Erbarmen, unserer Demut und Geduld, wenn un- ser Gegenüber, wenn die Menschen, an die wir unsere Freundlichkeit wenden, uns mit unserem gu- ten sanftmütigen Verhalten nur ausnutzen? Das wird uns doch schnell als Schwäche ausgelegt, wenn wir immer nur lieb und freundlich sind! Immerhin weiß das ja schon das Sprichwort: „Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt!“ Andererseits: Vor dem Hintergrund der großen Liebe Gottes, der uns auserwählt und heiligt, kön- nen wir doch leicht mit Erbarmen, Freundlichkeit und Geduld den Anfang machen und großzügig sein. Da fällt uns doch kein Zacken aus der Krone und der Lächerlichkeit geben wir uns auch nicht preis. Wenn das dann als Schwäche erscheint ... soll es doch! Wir wissen schließlich, dass vor Gott in der Schwachheit Stärke liegt! Die Welt wirklich zum Guten verändert haben selten die Starken, sondern eher Menschen wie Mahatma Ghandi, Mutter Theresa, Albert Schweitzer, Martin Luther King und viele andere schwache, aber in ihrer Schwäche doch mächtige Menschen! Und ich bin ganz sicher, dass jeder von uns auch mindestens eine Frau oder einen Mann kennt, die oder der gerade nicht durch Stärke viel bewegt, sondern durch Demut, Zurückhaltung und Sanftmut ... „... und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!“ Das Ertragen der Mitmenschen kriegen wir ja vielleicht noch hin, aber mit der Vergebung ist das so eine Sache. Wenn ich je- mandem vergeben soll, dann muss der ja wenigstens bereuen, was er mir angetan hat! Oder sagen wir, es muss ihm leid tun - dass er zu Kreuze kriecht, will ja keiner verlangen. Neulich sagt eine Frau zu ihrer Freundin, die mit der Nachbarin im Streit liegt: „Weißt du, Inge, man muss auch vergeben können!“ Und was sagt Inge darauf: „Das will ich ja gern tun, aber meine Nachbarin hat noch nicht darum gebeten. Im Gegenteil, sie meint allen Ernstes, ich hätte sie belei- digt und müsste mich darum bei ihr entschuldigen. Das aber kann ich nicht, denn ich weiß nicht, wofür ich bei ihr um Verzeihung bitten müsste!“ In vielen Beziehungen, die wir haben, ist es ähnlich. Keiner kann den Anfang machen, einen Zwist zu beenden, weil jeder meint, der andere müsste den ersten Schritt tun. Wenn er das täte, dann wollten wir ihm ja schon vergeben! - Irgendwie ist das nicht einfach mit diesen Dingen. Wenn wir aber von daher kommen: „... wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!“, dann könnten wir den anderen Menschen vielleicht ein wenig entgegenkommen: Auch wenn wir - wie wir fest glauben - nicht am Zerwürfnis schuld gewesen sind, auch wenn die Klage des anderen unberechtigt sein mag - zeigen wir doch unsere Bereitschaft zu vergeben! Wie begegnen wir denn meistens den Menschen, die uns geärgert oder verletzt haben? Wir ziehen die Augenbrauen hoch, wenn wir sie sehen, wir tragen unsere Meinung von ihnen auf dem Gesicht. Wir vermeiden Situationen, wo wir mit ihnen sprechen müssten, und gehen ihnen, wo wir nur können, aus dem Weg. Liebe Gemeinde, das mag ja nun umgekehrt auch so sein. Auch die Menschen auf der anderen Seite einer solchen Beziehung meinen ja, wir hätten uns bei ihnen zu entschuldigen. Also meiden sie uns auch, also lassen sie uns auch spüren, was sie von uns halten. „... wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!“ Wie hätte das Jesus wohl gemacht, wenn er die Vorbehalte oder den Ärger eines anderen gespürt hätte, ohne dass er dazu Anlass gegeben hat? Ich glaube, er hätte sich nichts anmerken lassen. Er hätte jeden Menschen mit genau derselben Freundlichkeit behandelt, seine Nähe gesucht, wie die jedes anderen auch - und er hätte den anderen Menschen damit überwunden. Denn unser ablehnendes Verhalten nährt die Ablehnung des anderen. Unser Ärger kommt im Ärger des anderen zurück. Misstrauen schürt Misstrauen. Verachtung bringt Verachtung hervor. Ja, gewiss, ganz leicht ist das nicht, es anders zu versuchen. Das kostet Überwindung. Aber was können wir eigentlich verlieren ... und wie viel können wir gewinnen! „Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar.“ Eine schöne Vorstellung: Wir „ziehen an die Liebe“ wie ein Kleid, unter dem alle Zwietracht, alle Ablehnung, alles, was wir vielleicht gegen die Mitmenschen empfinden, verschwindet. Und tatsächlich, die Liebe ist das „Band der Vollkommenheit“, da sind wir miteinander verbunden, in der Gemeinde, in der Familie, in der Nachbarschaft und Freundschaft - und nichts mehr trennt uns, jedenfalls keine bösen Gedanken, kein Streit, kein Hass, kein Neid und nichts anderes, was den „Frieden“ zwischen uns gefährdet oder gar zerstört. So können wir dem gerecht werden, was gerade als Christinnen und Christen unsere Berufung ist: „Leib Christi“ zu sein. Wohl wird auch hier wieder in uns die Frage laut werden, ob es denn an uns liegt, wenn so wenig Liebe zwischen den Menschen unserer Tage und unserer Umgebung ist. Und ob nun gerade wir das „Band der Vollkommenheit“ zerschneiden - da haben wir gewiss auch unsere - vielleicht berechtig- ten - Zweifel. Aber wie soll sich hier denn etwas verändern und ein Neuanfang möglich werden, wenn nicht wir uns dafür einsetzen, dass Liebe zwischen uns entsteht und wächst, dass wir zusam- menwachsen und verbunden werden zum Leib unseres Herrn und der Friede Christi sich unter uns ausbreitet? - Nur ein wenig Nachdenken wird es uns offenbaren: Es geht nur so, dass wir selbst die Dinge angehen, wir selbst uns nach Kräften einbringen und dem Frieden Christi unter uns dienen! Am Anfang dieser Predigt habe ich gesagt, dass Sie heute auch Worte hören sollen, die aufbauen, die Mut machen und zu einem Leben anspornen, das Gott gefällt. Wenn das auch bei allem, wovon bisher in dieser Predigt die Rede war, noch nicht herausgekommen ist, dann sollen Sie jetzt aber noch wenigstens einen Gedanken hören, der wirklich aufbaut, Mut und Kraft zum Guten schenkt: Neben aller Mühe, die damit verbunden sein mag, so zu leben, zu reden und zu handeln, dass die Beziehungen zwischen uns in Ordnung kommen und wir in Liebe und Frieden zusammenfinden und das Band zwischen uns enger wird ... Es macht einfach auch eine große Freude, sich für diese Ziele einzusetzen, es schenkt Zufriedenheit und die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein, auf einem Weg, der uns selbst glücklich macht und auch Gott gefällt. Und wie von selbst wächst dann aus dieser Zufriedenheit und Freude die Dankbarkeit in unserem Herzen. AMEN