Predigt zum 13. Sonntag nach Trinitatis - 30.8.2015 Textlesung: Lk. 10, 25 - 37 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“ (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18). Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen! Liebe Gemeinde! Das war eine der bekanntesten Geschichten aus dem Neuen Testament. Und wie das so ist mit be- kannten Geschichten, meinen wir auch, wir wüssten genau, was sie uns lehren will und worin ihre wichtigste Botschaft besteht und die heißt hier: So wie der Samariter sich zu dem Menschen ver- hält, der unter die Räuber gefallen ist, sollen wir uns auch unseren Nächsten gegenüber verhalten. Das ist doch ganz einfach und ganz klar. Ja, und dann legen wir die Geschichte beiseite und wen- den uns wieder dem richtigen Leben zu, in dem solche schlimmen Sachen wie dieser Räuberüber- fall doch eher selten vorkommen. Und - zugegeben - das stimmt ja auch, Gott sei Dank. Was aber nicht stimmt, ist das: Die wichtigste Botschaft der Geschichte vom Barmherzigen Sama- riter ist nicht, dass wir uns so wie der Samariter verhalten sollen, also zu dem Verletzten hingehen und nach Kräften helfen. Das nämlich würden die meisten von uns in einem solch krassen Fall auch ohne Belehrung durch Jesu Geschichte tun. Da die Räuber ja längst weitergezogen sind, es also nur um die Versorgung des Verletzten geht, wäre das bei uns ja unterlassene Hilfeleistung, wenn wir wie Priester und Levit vorbeigingen. Das steht sogar nach unseren Gesetzen unter Strafe! Aber was ist nun hier die wichtigste Botschaft? Wir kommen ihr auf die Spur, wenn wir auf das hören, was der Schriftgelehrte fragt, nachdem Je- sus ihn an die im Gesetz gebotene Nächstenliebe gewiesen hat: „Wer ist denn mein Nächster?“ Wir halten das vielleicht für nicht ganz ernst gemeint. Sicher hat er doch sehr wohl gewusst, dass alle Menschen, wenn sie in Not geraten und uns brauchen, unserer Nächstenliebe empfohlen sind. Aber ich glaube, der Schriftgelehrte wusste es wirklich nicht. Dass Jesus das auch glaubte, zeigt die Geschichte, die er ihm jetzt erzählt. Priester und Levit, also durchaus religiöse, rechtschaffene Menschen gehen an dem Verletzten vor- bei. Sie hätten sich an dem sicher blutenden Mann verunreinigt und ihren Dienst im Tempel nicht mehr versehen können. Also haben sie gewiss zu sich selbst gesprochen: Dieser Mensch tut mir zwar Leid, aber im Sinne des Gesetzes ist er nicht mein Nächster. Mein Dienst im Tempel ist wich- tiger, als diesem Menschen zu helfen. - Wir können uns denken, dass der Schriftgelehrte an dieser Stelle der Geschichte nichts am Verhalten des Priesters und des Leviten beanstandet hätte. Was sonst hätten sie denn tun sollen? Liebe Gemeinde, auch wenn es jetzt sicher kräftig weh tut, wir denken oft gar nicht so sehr viel an- ders als der Schriftgelehrte! Ein paar Beispiele sollen das belegen: - Wir hören von einem Unglück, vielleicht von einem Verkehrsunfall, der sich nur eine Straße wei- ter ereignet hat. Wenn uns jetzt einer berichtet, der den Unfall miterlebt hat, der Mensch, der am schlimmsten verletzt wäre, käme aus Holland oder Slowenien, dann würde uns das sicher nicht so sehr mitnehmen, als wenn wir hörten, es wäre unser Nachbar von gegenüber. Wir fragen also schon, um wen es sich bei dem Verletzten handelt und nicht, ob ihm geholfen wurde und ob wir selbst irgendetwas Hilfreiches tun könnten. - Unsere Nächsten sind also erst einmal die, die wir kennen und die in unserer Nähe wohnen. - Ein Fußballer aus einer Mannschaft, die schon einige Male gegen den Club gewonnen hat, dessen Anhänger wir selbst sind, hat sich bei einem Spiel einen Kreuzbandriss zugezogen. Er wird einige Monate nicht für seinen Verein antreten können. Würden wir das nicht möglicherweise mit einiger Genugtuung aufnehmen? Und wie ganz anders würden wir reagieren, wenn einer aus unserem Club so viel Pech gehabt hätte! - Wir machen also klare Unterschiede: Unsere Nächsten sind erst einmal die, die für uns wichtig sind und dem nützlich, woran uns persönlich liegt. - Und es gibt noch viele Beispiele dafür, dass nicht die jeweilige Not anderer Menschen uns be- wegt, sondern dass wir fragen, wer ist die Person, die diese Not leidet: Das Elend der Flüchtlinge, die gerade zu Tausenden nach Europa zu gelangen versuchen, geht uns bei weitem nicht so nah, wie der relativ harmlose Schicksalsschlag, der einen fernen Verwandten getroffen hat. Wenn ein Kind aus der Schule unseres Sohnes, unserer Tochter oder unseres Enkels mit Mobbing verfolgt wird, dann erregt uns das weit weniger, als wenn es um unsere eigenen Kinder oder Enkel ginge. Und schließlich sind wir auch nicht so schnell bereit, einem Kollegen oder einer Kollegin aus einer anderen Abteilung beizuspringen, wenn diese vom Chef ungerecht behandelt werden, als wenn es sich um den Mitarbeiter, die Mitarbeiterin handelt, die uns im Büro direkt gegenüber sitzen. Auch bei uns steht also im Hintergrund unseres Handelns immer wieder die Frage: Wer ist denn mein Nächster? Aber wir bleiben nicht ohne Antwort. Die Geschichte, die Jesus damals dem Schriftgelehrten und uns heute erzählt, sagt sie deutlich: „Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf sei- ne Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pfleg- te ihn.“ Keinen Augenblick hat der Samariter gezögert. Keinen Moment hat er dafür verschwendet, sich die Frage zu stellen, wer der Verletzte ist und ob er denn verpflichtet wäre, ihm zu helfen. Auch der Gedanke, ob er sich an dem blutenden Mann vielleicht verunreinigt, ging ihm sicher nicht durch den Kopf. Was ihn bewegt, ist nur das: Dieser Mensch braucht Hilfe, meine Hilfe, denn ein anderer ist nicht da! Besonders peinlich für Priester und Levit und für den Schriftgelehrten, der Jesus befragt hatte, ist die Tatsache, dass Jesus einen Samariter hier richtig und menschlich handeln lässt. Die Menschen aus Samaria hatten einen anderen Glauben und waren bei den „rechtgläubigen“ Juden verachtet. So aber wird es deutlich: Nichts darf unserer Liebe zum Nächsten im Weg stehen. Keine eigenen Vor- behalte wegen der Herkunft, der Hautfarbe oder der gesellschaftlichen oder verwandtschaftlichen Stellung dessen, der Hilfe braucht. Keine Nützlichkeitserwägungen, keine Bedenken wegen der Folgen unseres Handelns. Wenn ein Mensch uns braucht, sollen wir hingehen und nach Kräften helfen. Das ist die wichtigste Botschaft der Geschichte vom Barmherzigen Samariter: Unser Nächs- ter ist jeder Mensch, der uns begegnet und unsere Hilfe nötig hat. Vielleicht denken wir jetzt: Diese unbedingte Liebe zum Nächsten ist in der Praxis des Lebens gar nicht so einfach! Und das stimmt. Aber Jesus erzählt seine Geschichte vom Samariter genau darum, dass wir diese Liebe lernen, denn ich glaube fest, man kann sie lernen. Es ist mit der Nächstenliebe ähnlich wie mit manchen anderen Dingen, die zeigen, dass wir Chris- ten sind: Das Gottvertrauen zum Beispiel müssen wir auch lernen. Es ist nicht gleich da, aber es entsteht und wächst, wenn wir es damit probieren. Und Treue und Verlässlichkeit sind solche Din- ge, die erst gelernt werden müssen und darum auch unsere Mühe kosten. Immer aber gibt es uns auch viel, wenn wir diese Dinge gelernt haben: Die Nächstenliebe, das Gottvertrauen, die Treue, die Verlässlichkeit... Wir spüren dann, es tut einfach gut, eine Christin, ein Christ zu sein. Der Schriftgelehrte damals hat es begriffen: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste ge- wesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“, fragt Jesus. „Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!“ Lassen Sie uns das von heute mitnehmen: Geh hin und tu desgleichen! AMEN