Predigt am Ostermontag - 9.4.2007 Textlesung: Jes. 25, 8 - 9 Er wird den Tod verschlingen auf ewig. Und Gott der HERR wird die Tränen von allen Angesich- tern abwischen und wird aufheben die Schmach seines Volks in allen Landen; denn der HERR hat’s gesagt. Zu der Zeit wird man sagen: „Siehe, das ist unser Gott, auf den wir hofften, dass er uns helfe. Das ist der HERR, auf den wir hofften; lasst uns jubeln und fröhlich sein über sein Heil.“ Liebe Gemeinde! Zugegeben: Ich wollte heute an diesem Ostermontag und in dieser Predigt gern eine bestimmte Ge- schichte erzählen, die mir sehr gefällt. Ich hätte sie auch erzählt, wenn der Text, der uns heute zu betrachten vorgeschlagen ist, ganz uns gar nicht zu der Geschichte gepasst hätte. Dann hätte ich zu- vor ja nur sagen müssen: Ich lese uns den Predigttext für heute zur Einstimmung ... Nun passt die Geschichte aber auch noch sehr gut, wie ich finde, denn sie erzählt vom „Tod“ mitten im Leben, von Leid, Tränen und Schmach eines Menschen. Und sie erzählt davon, wie dieser Mensch zu Hoffnung und neuem Leben geführt wird und am Ende durch Gottes Fügung aus der Traurigkeit zur Freude gelangt. So dass er laut jubeln und fröhlich sein kann. Und von nichts ande- rem spricht auch der Prophet Jesaja. Der einzige Unterschied ist, dass er über die Erfahrung des Volkes Israel spricht, meine Geschichte aber über einen Menschen unserer Zeit, ein junges Mädchen aus unseren Tagen. Aber hören sie die Geschichte: Der Osterkuss: Tatjana war seit Weihnachten in der Obersekunda. Sie war mit ihrem Vater aus Russland geflüchtet, und nun sollte sie hier in der kleinen Stadt, wo sich der weißhaarige Gregor Michailowitsch Rodionow verzweifelt bemühte Fuß zu fassen, ihre Ausbildung abschließen. Das war gar nicht leicht. Tatjana, die bisher das Deutsche nur als Fremdsprache auf der Schule betrieben hatte, hatte große Mühe, sich richtig verständlich zu machen. Wenn sie auf eine Frage des Lehrers mit leiser Stimme und in abgehackten, seltsam betonten Worten antwortete, erhob sich zumeist um sie herum ein schlecht unterdrücktes Kichern. Sie litt darunter, denn es war ein Ausdruck all dessen, was die andern für sie fühlten: Ablehnung, Belustigung, Neugier. Sie hatte schon alles versucht, in die Ge- meinschaft der Kameradinnen aufgenommen zu werden. Sie hatte sich freundliche Worte abgerun- gen, sie hatte mitzulachen versucht, wenn sie einen Fehler machte, sie hatte ihre besseren Franzö- sisch-Kenntnisse den anderen zur Verfügung gestellt - aber sie blieb eine Fremde. Sie wusste auch was oder besser wer schuld daran war, dass alle ihre Bemühungen zum Scheitern verdammt waren. Es war Inge die lachlustige gewandte Klassenerste, die schon seit Jahren die Führung der Mädchenschar mit ihrer überlegenen Intelligenz an sich gerissen hatte. Tatjana hatte Inge ebenfalls vom ersten Augenblick an bewundert. Ihre helle selbstsichere Stimme, die Art wie sie den Kopf zurückwarf, wenn ihr etwas nicht passte, die geschmackvolle mit lässiger Selbstverstän- dichkeit getragene Kleidung. Um so mehr schmerzte sie Inges Zurückhaltung, die ihr mehr versagte als nur eine Mädchenfreundschaft, nämlich den Zugang zur Gemeinschaft, aus der sie ausgeschlos- sen war. Dabei wohnten Inge und Tatjana im gleichen Mietshaus, aber sie gingen nie den Schulweg gemeinsam. Tatjana hätte ihrem Vater etwas von ihren Sorgen mitteilen können. Schließlich war er der einzige Mensch, der ihr nahe stand und der ein offenes Ohr für ihre Not gehabt hätte. Aber sie wusste, dass er von Existenzsorgen gequält und von hundert fehlgeschlagenen Plänen zermürbt war und dass er in der Nacht heimgesucht wurde von den quälenden und verworrenen Bildern der Irrfahrt die für ihn noch lange nicht zu Ende war, darum sagte sie ihm nichts. Und nun war es Ostern geworden. Ganz allmählich hatte sich auf den Wiesen und Feldern ein erstes helles Grün gezeigt, an den Bächen und Flüssen blühten die Weidenkätzchen, die hierzulande als Ersatz für die österlichen Palmwedel gebraucht wurden. Die Stare waren aus dem Süden zu- rückgekommen und sangen allmorgendlich ihr helles lockendes Lied. Für Tatjana bedeutete Ostern sehr viel. Zu Hause in Russland war es das Fest der Verbrüderung gewesen an dem angesichts des triumphierenden Gekreuzigten und der wieder erwachenden Natur alle Freundschaften erneuert und entstandene Feindschaften begraben wurden. Schon früh am Morgen ging ein jeder, in sein bestes Gewand gekleidet, zur Kirche, in der Hand eine große, weiße Kerze. Und mit dem ersten Menschen, dem man an diesem Festtage begegnete, war man verpflich- tet, Ostergruß und Bruderkuss auf beide Wangen zu tauschen. Das gab einem das Gefühl von Har- monie und Einklang mit Gott und der Welt, eine Empfindung, die Tatjana seit langem nicht gekostet hatte. Der Vater schlief noch, als sie sich zum Kirchgang fertig machte. Erst gegen Morgen war er in einen unruhigen Schlummer gesunken, der ihn noch immer gefangen hielt. Sie wartete auf ihn, um den heimatlichen Brauch mit ihm zu vollziehen, als es plötzlich an der Wohnungstür klingelte. Tatjana öffnete. Draußen stand Inge, die Schulkameradin, einen Brief in der Hand, den der Bote wohl versehentlich in den falschen Kasten geworfen hatte. Eine Blutwelle schoß Tatjana zum Herzen und färbte ihr Gesicht dunkel bis zu den Haarwurzeln. Der Osterkuss! Nun war sie dazu verurteilt, mit ihrer Widersacherin Kuss und Begrüßung zu tauschen! Einen Augenblick zögerte sie, dann zog sie Inge herein, küsste sie feierlich auf beide Wangen und sagte »Christ ist erstanden.« In Inges Gesicht kämpften Verlegenheit, Erstaunen und Bewunderung einen kurzen Kampf. »Du musst antworten: Er ist wahrhaftig auferstanden!« sagte Tatjana leise. »Es ist ein russischer Brauch.« »Er ist wahrhaftig auferstanden«, wiederholte Inge gehorsam, und, als hätte sie nun erst den Sinn ihrer Worte erfasst, begann das Eis zu schmelzen, das die beiden bisher voneinander ge- trennt hatte. Als Inge schließlich ging, war der Ostertag über eine Stunde älter geworden. (Margarete Kubelka) Liebe Gemeinde! Eine schöne Geschichte, nicht wahr!? Ich glaube, sie rührt unser Herz deswegen so an, weil wir uns solche Erfahrungen auch wünschen, manche vielleicht nur ein bisschen, andere sehnlich und schon seit Jahren. Auch in unserem Leben regiert an manchen Stellen der Tod: Zwar sind wir körperlich lebendig, aber Schuld, Missverständnisse, Ausgrenzung oder Feindschaft lähmen jede Freude, zer- stören die Gemeinschaft zwischen uns und lassen uns nebeneinander her leben, als wären wir Fremde und nicht Nachbarn, Kollegen, Verwandte oder wie hier: Schulkameradinnen. Und oft finden wir einfach keinen Weg, die eingefrorenen, toten Beziehungen aufzutauen und zu neuem Leben zu erwecken. Wir leiden lange daran, probieren dieses und jenes, aber vielleicht liegt es an uns oder an der anderen Seite, es ändert sich nichts, wir kommen nicht zueinander. Der Prophet Jesaja verheißt dem Volk Israel in der auswegslosen Situation der Verbannung in Ba- bylon, dass Gott ihre Schmach aufheben, sie wieder sammeln und nach Hause bringen wird. Dann werden sie wieder fröhlich sein und jubeln können und neues befreites Leben finden, dem der Tod nichts mehr anhaben kann. Das ist die Erfahrung von Ostern, die auch in der Geschichte von Tatjana und Inge aufscheint. Und es ist hier wie da die Verwandlung, die aus Traurigkeit Freude, aus Klage Jubel und aus dem Tod neues Leben schafft. Und sie kommt - hier wie da - eben nicht von Menschen, Gott verwandelt die Herzen, die Gedanken, die Situation, so dass die Todesstarre weichen muss und Wärme und gute Beziehung zwischen den Menschen entsteht. Das soll uns, die wir vielleicht noch an manchen Stellen unseres Lebens und unserer Gemeinschaft mit anderen Menschen Kälte, Misstrauen und Unverständnis beklagen müssen, nun nicht untätig warten lassen, bis Gott unsere Beziehungen heilt und gut werden lässt. Aber wo wir uns wirklich bemüht haben, wo wir immer wieder versucht haben, die Verbindung zu kitten, das Gespräch wie- der aufzunehmen, die Trennung zu überwinden und Hemmnisse beiseite zu räumen, und wo wir immer wieder damit keinen Erfolg hatten, da sollen wir doch die Hoffnung nicht aufgeben: Es kommt der Tag, an dem Gott handelt. Es kommt die Zeit, zu der wir seine Hand spüren, in der sein Segen heilt, was uns entzweit hat und die Auferstehung seines Sohnes Jesus Christus auch in unse- rem Leben wahr wird und wir ein Stück Leben erfahren, wo vorher der Tod regiert hat. Dass dies geschehen kann und immer wieder geschieht, feiern wir an Ostern. Dass dies auch bei uns ge- schieht, wünsche ich uns von Herzen. AMEN