Predigt zum 2. Christtag - 26.12.2006 Textlesung: Jes. 11, 1 - 9 Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. Und Wohlge- fallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusam- men weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer be- deckt. Liebe Gemeinde! Ich weiß ja nicht, was sie an diesen Prophetenworten besonders angesprochen hat. Waren es die Bilder voller Hoffnung? Ein Reis wird aufgehen. Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen. Der Säugling spielt am Bau der Giftschlange. Oder waren es diese Worte, die ihnen besonders nahe gingen?: Einer wird kommen, der nach dem Recht richtet, der den Armen und Elenden Gerechtig- keit widerfahren lässt und den Willen Gottes in unserer Welt durchsetzt. Ich bin ganz offen: Bei mir sind weniger die Zukunftsbilder und hoffnungsvollen Aussichten „hän- gen geblieben“. Ich habe mehr die Gedanken im Kopf behalten, die damals und heute die Gegen- wart beschreiben: Dass es Arme gibt - und sogar in unserem reichen Land in unserer Zeit immer mehr! Dass die Elenden unserer Tage immer noch unter der Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft leiden müssen, dass allenthalben Gewalt herrscht - nicht nur in den Kriegs- und Krisengebieten der Erde, sondern auch bei uns - und dass die Gottlosigkeit auf dem Vormarsch ist im angeblich christ- lichen Abendland und die „Erkenntnis des Herrn“ eher zurückgeht - auch in unseren christlichen Kirchen und Gemeinden. Und ich könnte mir denken, dass gerade heute - am 2. Weihnachtstag mit schon etwas Abstand vom „frohen Fest“ - auch jetzt unter uns einige sitzen, die nicht so schnell vergessen wollen, wie die Verhältnisse in unserer Welt und unserem Leben eben doch sind. Für diese Menschen spreche ich heute besonders. Für sie zuerst will ich auch diesen alten Prophetentext auslegen. Aber ich möchte gern auch die anderen gewinnen, dass sie mir zuhören. Auch die, denen eigentlich nicht der Sinn nach schweren oder gar trüben Gedanken steht - an diesem Feiertag. - Ja, da sitzen wir jetzt also hier in der Kirche, Weihnachtsglanz im Gesicht, den sanften Schimmer der Kerzen ... und ich will auch über ernste Dinge reden!? Mitten in all die festliche Stimmung und unsere Gefühle hinein dieser unweihnachtliche Ton!? Aber tut uns das nicht auch einmal gut: Fast wird uns doch all die „Freude“ dieser Tage zur Strapa- ze! „O du fröhliche ...“ - „Freuet euch ... jauchze laut ... jubiliere ... triumphiere ...“ Man mag es sich gar nicht mehr erlauben, an sein Leid und seine Sorgen zu denken, an das Kreuz, an dem wir tragen. Ist es nicht so: Fast hat man ein schlechtes Gewissen, wenn uns doch einmal etwas davon in den Sinn kommt - in dieser „frohen“ Zeit! Wie soll sich das denn auch zum Christbaum, zum Fest, zu Lichterglanz und der wunderbaren Botschaft der Weihnacht reimen? Liebe Gemeinde, hier und heute wird's nun doch einmal ausgesprochen. An Weihnachten, mitten hinein in den Festtrubel mit Freude über Freude: Es gibt auch Armut, Elend, Ungerechtigkeit, Kummer, Sorgen, Krankheit, Leid, Dunkles und Schweres. Und das gehört hinein in unser Leben - auch in diese Zeit, da die Engel singen! Ist das nicht auch einmal tröstlich?! Und wenn wir das hö- ren und drüber nachdenken, merken wir: Die selige Stimmung der Weihnacht, unser frohes Gesicht ... Da war viel Schminke drauf, manches nur äußerlich, nur Fassade. Wenn die Lichter am Baum brennen, wenn wir die schöne alte Geschichte hören, dann ist ja doch nicht alles ausgeschaltet, was uns quält und bedrückt - vielleicht Jahre schon: Wie soll denn einer sein Alter vergessen, seine Schwäche, seine Gebrechen und wie wenig ihn noch am Leben freut - nur weil da jetzt Engel von Freude reden? Wie kann denn einer über sein Leid hinauskommen, den Schmerz einer Trennung, die Trauer eines Abschieds - nur weil jetzt die gnaden-bringende Weihnachtszeit im Kalender steht? Und schließlich: Einer, der mit sich nicht zurecht kommt, dem die Angst ständiger Begleiter ist, der das Dunkel in seinen Innern nicht abschütteln kann - wie soll der zum Staunen über die fro- he Botschaft kommen - bloß weil man sie jetzt in den Kirchen hören kann? All das und wohl noch mehr quält uns heute - wie immer: Schwäche, Krankheit, Schuld, Leid und Trauer ... Es ist wahr: Es gibt auch Armut, Elend, Ungerechtigkeit, Kummer, Sorgen, Krankheit, Leid, Dunkles und Schweres. Und nicht nur irgendwo, sondern bei uns - ganz persönlich. Wie soll da echte Freude aufkommen? Gewiss, wir ringen schon auch um die Freude. Was machen wir nicht alles in dieser Richtung: Einer lässt sich emporheben auf einer Woge des Gefühls. Da kann nicht genug Lametta an den Zweigen hängen! Wieder und wieder singt er die rührseligen Strophen der alten Lieder ... riecht die Luft im Weihnachtszimmer, den Tannenduft ... Aber das ist eigentlich wie eine Flucht in eine Scheinwelt. Mit den Kerzen gehen auch die Gefühle aus. Was wir vergessen und verdrängen woll- ten, wird uns um so grausamer wieder überfallen. Ein anderer überdeckt die innere Leere durch Arbeit - selbst an den Feiertagen. Da gibt's in man- chem Haus weihnachtliche Betriebsamkeit rund um die Uhr. Und fing das nicht schon in der Ad- ventszeit an?: Jeden Tag zwei Sorten Plätzchen backen ... der Geschenkerummel ... die ganzen Vorbereitungen ... Und jetzt: Die ganze Mühe um die Esserei, den Braten ... stundenlang in der Kü- che, der Abwasch, das Aufräumen ... Und auch so sieht es in manchen Häusern aus: Endlich einmal frei, zu Hause und Zeit für dieses und jenes ... Bloß keine für das Eigentliche - die Freude! Die will sich nicht einstellen! Es gibt auch solche Leute: „Ach, hören Sie mir doch auf mit Weihnachten ... Freude und so ... alles Humbug. Ein Tag wie jeder andere. Nichts besonderes für mich ... nur mal nicht in den Betrieb müssen, mal ausschlafen können und - naja - auch ein bisschen feiern ... wegen der Kinder, versteht sich!“ Aber - glauben sie mir, liebe Gemeinde - in einer kleinen Viertelstunde, vielleicht am Heili- gen Abend schon, vielleicht an den Feiertagen erst, da kommen die Gefühle, die so schmerzlich zum Bewusstsein bringen, wie kalt es in manchem Herzen ist, wie leer und freudlos. Und dann kommt sie, die Sehnsucht nach etwas, das wir aus der Kindheit kennen ... keiner hat es ganz verges- sen: die leichten frohen Gedanken, wie sie zu diesem Fest gehören, ein wenig Hoffnung, ein wenig Glück, ein wenig Freude ... Noch einmal: Und es gibt ungeeignete Versuche, damit fertig zu werden. Wie aber finden wir trotz allem zur Freude? Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Das Reis ist aufgegangen! Aber eben nicht in einer Scheinwelt aus Glitzer und Frohsinn, aus lieblichem Engelsgesang und Leugnung des Dunklen und Schweren, des Leids und des Kum- mers, des Elends und der Sorgen. Mitten hinein in die Welt, so wie sie ist, kommt der, der sie rettet! Der Stall, in dem er zur Welt kommt, ist gerade recht, so wie er ist: so kalt, so zugig, so unwirtlich. Da wird kein großer Putz veranstaltet, der Dreck ausgeräumt, das Vieh ausquartiert oder noch schnell ein bisschen Farbe aufgetragen ... Mitten hinein geht der Heiland; Gott ist sich nicht zu gut für den Unrat und die Kälte eines Viehstalls. Die Krippe, in die man ihn legt, verbirgt nicht, was sie ist: kein Bettlein, kein Wiegelein, nicht ein- mal ein niedliches Krippelein. Ein einfacher Viehtrog, schmucklos, schartig und hart ... kaum eine Stunde her da fraß noch der Esel daraus. Das ist Gottes erstes Lager auf dieser Erde. Er scheut nicht die Härte einer Futterkrippe. Die Hirten, die als erste von seiner Geburt hören, gefallen ihm, so wie sie sind: so zerlumpt, so schlecht, so schuldbeladen. Er lässt ihnen nicht sagen: Sucht euren Sonntagsstaat, dann dürft ihr an die Krippe treten ... Seine Botschaft an sie heißt nicht: Bessert euch, dann komm ich auch zu euch! Nein, das ist seine frohe Nachricht für sie: Fürchtet euch nicht! Euch ist heute der Heiland geboren! Macht euch auf zu ihm! - Könnte uns das nicht Mut machen, nun auch zu uns Ja zu sagen, uns an- zunehmen - so wie wir sind? In dein Herz, in all deine Traurigkeit, dein Elend, deine Schuld hinein will ER geboren werden! Das ist ihm ja gar nicht zu trostlos bei dir! Das ist ihm nicht zu dunkel und kalt in dir! Da musst du nun gar nicht all das gemachte Gefühl zusammenraffen, damit er zu dir kommen kann. Lass doch deine Mühe um die künstliche Freude, die du dir auflegst, wie eine weitere Last. Er kommt auch ohne, dass du dich schmückst, ohne dass du dich putzt. Er kommt in dein Leben hinein, so farblos, so einfach und unbedeutend es auch ist! Es ist ihm nicht zu klein und zu eng in dir! Ihm ist es nicht zu leer in deinem Innen! Du brauchst deine Armut nicht mehr verbergen. Warum noch so betrieb- sam, warum noch mit all der Arbeit die innere Leere auszufüllen versuchen? Er bringt die Fülle! Er kann dein Leben neu machen! Lass ihn doch ein! Und steh’ heute doch auch zu deiner Sehnsucht: Nach Liebe, nach Wärme, nach Hoffnung und Glück. Er kommt ja, sie zu stillen! Du magst Jahre nicht mehr an ihn und sein Wort gedacht haben, du magst seine Geburt bei dir längst nicht mehr für möglich halten, du magst über deiner unerfüllten Sehnsucht hart und grau geworden sein ... So wie du bist, bist du ihm recht. Er will zu dir kommen. Du sollst ihm Herberge werden und er wird dein Friede und deine Freude sein. Liebe Gemeinde am Christfest! Es gibt Armut, Elend, Ungerechtigkeit, Kummer, Sorgen, Krankheit, Leid, Dunkles und Schweres in dieser Welt! ER aber kommt mitten hinein in diese Welt und verwandelt sie damit. Mit ihm kommt auch die Freude, die echt ist, nicht aufgesetzt und keine Last. Eine solche Freude wünsche ich ihnen und dass der, der sie uns bringt, bei ihnen bleibt. AMEN