Predigt zum Ewigkeitssonntag - 26.11.2006 Wir wollen uns einstimmen lassen auf diese Predigt durch Worte aus dem Buch des Propheten Je- saja: Textlesung: Jes. 65,17-19 (20-22) 23-25 Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daß man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich will Jerusalem zur Wonne machen und sein Volk zur Freude, und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens. Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht. Sie werden Häuser bauen und bewohnen, sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen. Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse. Denn die Tage meines Volks werden sein wie die Tage eines Baumes, und ihrer Hände Werk werden meine Auserwählten genießen. Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des HERRN, und ihre Nachkommen sind bei ihnen. Und es soll geschehen: ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. Wolf und Schaf sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muß Erde fressen. Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR. Liebe Gemeinde! Menschen, die am Totensonntag (Ewigkeitssonntag) in den Gottesdienst gehen, haben Fragen. Sie möchten hier in der Kirche Antwort bekommen. Es sind schmerzliche Fragen, die wir heute mitge- bracht haben, denn sie drehen sich um den Tod. Nicht den Tod auf den Straßen oder weit weg in den Kriegs- oder Hungergebieten der Welt, sondern den, der uns ganz nah gekommen ist: Als unser Angehöriger starb. Als wir unseren Vater, unsere Schwester, unsere Mutter oder den Bruder ver- loren haben. Das beschäftigt uns, immer wieder und heute besonders: Was ist jetzt im Tod mit diesen Menschen? Wohin sind sie gegangen? Wie geht es ihnen jetzt? Das sind unsere Fragen. Ich will eine Geschichte erzählen. Sie könnte sich hier bei uns zugetragen haben, auf unserem Friedhof. Wann? Erst gestern. - Hier ist diese Geschichte: Eine ältere Frau geht zum Grab ihres Mannes. Unter dem Arm trägt sie ein Bündel mit Tannen- reisern. An ihrer Seite springt ein kleines Mädchen, das Enkelkind der alten Frau. Das Grab, vor dem sie jetzt stehen bleiben, ist noch frisch. Der Erdhügel erhebt sich noch höher als bei den Gräbern ringsum. Noch kein Stein ist aufgestellt; ein schlichtes Holzkreuz nennt den Namen des Verstorbenen und das Sterbedatum. Kaum fünf Monate ist das her, seit es geschah ... Die alte Frau beginnt, mit den Reisern den Grabhügel abzudecken, denn dazu ist sie gekommen. Doch nicht nur darum. Immer wieder treibt es sie in die Nähe dessen, der hier liegt, mit dem sie fast 50 Jahre zusammengelebt, den sie geliebt hat und der ihr so fehlt ... Und sie bückt sich jetzt tiefer bei ihrer Arbeit, denn das Kind soll ihre Tränen nicht sehen. Die Kleine betrachtet schweigend das Kreuz. Sie liest den Namen. Sie weiß, das ist ihr Großvater gewesen, ihr Opa, wie sie ihn nannte. Sie erin- nert sich noch gut an den alten Mann. Er hat sie beim Spazierengehen immer an der Hand genom- men und sie seinen „kleinen Schatz“ genannt. Und er hat so schöne Geschichten gewusst. Sie weiß auch noch, wie er plötzlich krank wurde, wie sie dann nur noch einmal zu ihm durfte und man einige Zeit darauf zu ihr sagte: „Der Opa ist jetzt nicht mehr bei uns.“ Auch die Feier in der Kirche ist ihr noch vor Augen. Die vielen schwarzgekleideten Leute mit den ernsten Gesichtern. Der Gang hinter dem Sarg her und wie die Männer dann den dunkelbraunen Holzkasten in die Erde gelassen haben. In dem Kasten war ihr Großvater gelegen, ihr Opa, das hatte man ihr gesagt. Aber wo war er jetzt? Immer noch da drin, in diesem Kasten, in dem Grab vor ihren Füßen? Und sie fragt jetzt die Großmutter: „Oma, wo ist Opa jetzt? Was ist mit ihm geschehen?“ Die alte Frau hat die Frage wohl gehört, doch sie antwortet nicht gleich. Was soll sie sagen? Sie will es sich nicht einfach machen und sprechen: „Beim lieben Gott.“ Sie kann doch nicht ihrem Enkelkind sagen, was ihr selbst nichts sagt und - vor allem - nicht hilft. Denn wo ist das, „beim lie- ben Gott“ und wie ist es dort? Das möchte sie selbst gern wissen. Und den „lieben Gott“ kann sie ja auch noch nicht wieder verstehen, denn er hat ihr den Mann genommen, hat ihn ihr von der Seite gerissen - viel zu früh! Und sie muss bis heute auch immer wieder fragen, warum es ihr Mann so schwer haben musste zuletzt, diese langen Wochen des Leidens ... warum? - Das kleine Mädchen fragt noch einmal: „Wo ist der Opa denn jetzt?“ - Liebe Gemeinde, da steht es vielen von uns auch wieder vor Augen, was da an uns, in unserer Fa- milie geschehen ist, erst vor ein paar Wochen oder Monaten oder vor Jahren vielleicht ... Die schweren Stunden am Sterbebett fallen uns ein, das Gefühl der Ohnmacht, das Leiden mit ansehen müssen und nicht helfen können, nur warten und bangen und hoffen ... Und endlich der Schmerz - als es dann geschehen war. Der Schmerz, den wir meinten, nicht ertragen zu können. Und dann die- ser furchtbare letzte Gang, diese kaum einhundert Meter hinter dem Sarg her, die nicht enden woll- ten. Der dreimalige Erdwurf, die Worte des Pfarrers wie aus weiter Ferne, die es uns doch so grausam deutlich machten: Dieser Mensch wird nun nicht mehr sein. Wir sind allein ... ohne ihn. Wir werden seine Stimme nicht mehr hören, seine Liebe wird uns fehlen, sein Rat, seine Hilfe ... Erde zu Erde ... Dieser Mensch ist jetzt tot. Asche zu Asche ... Nichts wird mehr so sein, wie es war. Staub zu Staub ... Gestorben! Ein Leben ist zu Ende, für immer ... und wir ... allein. - Da ist sie auch für uns entstanden, diese Frage: Was wird aus diesem Menschen im Tod. Wo geht er hin. Wo ist er jetzt? Gewiss, ein paar tröstliche Gedanken haben uns damals auch erreicht. Durch den Schmerz und die Trauer hindurch. Vielleicht erinnern wir uns noch an die Grabpredigt. Wie hieß es da: „Der Tod ist eine Tür, er ist nicht nur ein Ende, sondern auch ein Eingang zum Leben.“ - „Der Verstorbene ist jetzt in Gottes Hand. Sein Leben ist bewahrt, aufgehoben bei Gott“ Und wir haben auch gehört, wa- rum wir Hoffnung auf ein neues Leben nach dem Tod haben dürfen: „Jesus Christus hat uns das erworben. Er ist der Erstling der Auferstandenen. Er hat den Tod besiegt.“ Gute Worte waren das. Gut gemeint und schön. Nur - sie halfen ja nicht wirklich. Der Platz, den unser Verstorbener zu Hause immer eingenommen hatte, blieb leer! Die Stimme, die uns immer so vertraut gewesen, für immer verstummt. Die herzliche Verbindung zu diesem lieben Menschen - endgültig abgerissen. Das waren schwere Tage - kurz danach. Das waren bittere Erfahrungen der Einsamkeit, die wir da machen mussten. Die ganze Härte des Todes hatte uns getroffen - und sind wir denn darüber hin- weg? Immer wieder und immer noch ist doch auch bei uns Ziel aller Gedanken und allen Grübelns diese eine Frage: „Was ist mit ihm, was ist mit ihr geschehen? Wo ist dieser Mensch jetzt im Tod?“ - Wer gibt uns Antwort? Wie ging das weiter, gestern auf dem Friedhof? - Die Kleine hatte noch einmal gefragt. Die Großmutter konnte nicht mehr länger ausweichen. So schaut sie von ihrer Arbeit auf - weiß noch immer nicht, was sie antworten soll - da fällt ihr Blick auf einen Grabstein in der Nähe und sie li- est: „Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.“ Und auf einmal weiß sie es, weiß, was sie ihrem Enkelkind sagen kann, und weiß auch, was sie selbst wirklich tröstet und was ihr hilft: „Ich glaube, dass der Opa schon vorausgegangen ist in eine neue Welt, in den Himmel Gottes, in den wir auch einmal kommen.“ Die alte Frau weiß nicht warum, aber die Kleine ist damit zufrieden. Und als die Großmutter jetzt noch hinzufügt: „Und es geht dem Opa gut dort, er hat keine Schmerzen mehr und muss nicht mehr leiden“, da lächelt die Kleine und sagt: „Dann ist das für den Opa ja schön, dass er jetzt im Himmel ist. Und wir werden ihn doch auch einmal wied- ersehen, nicht, Oma?“ Und da stehen dem Kind auf einmal wieder all die herrlichen Spaziergänge mit dem Großvater vor Augen, es hört wieder in seinem Inneren Opas Stimme ... mein kleiner Schatz ... und sie weiß, dass er im Himmel ist und sie ihn dort wiedersehen wird ... und sie freut sich darauf ... Und wie sie jetzt zur Oma hinschaut, da spürt sie, auch sie weiß es, dass sie sich um den Opa keine Gedanken mehr machen muss. Zwar wischt sie jetzt noch verstohlen die Tränen aus den Augen, aber auch sie ist nicht mehr ganz so traurig. Liebe Gemeinde, wir sind keine Kinder. Ob uns das auch genügt: Der Mensch, der uns verlassen hat, ist bei Gott im Himmel, in der neuen Welt, die er schaffen will. Ob das auch zu uns sprechen kann, wenn wir an den eigenen Verlust denken: Wie oft steht uns doch der Mensch, den wir ver- loren haben, vor der Erinnerung? Alles, was er uns gewesen ist, für immer verloren ... oder doch nicht für immer? Seine Stimme nie mehr hören ... oder vielleicht doch irgendwann wieder? „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.“ Wenn das unsere Zukunft ist: Ein neuer Himmel ... Und die Menschen, die wir lieb hatten, sind schon dort, leben schon in Gottes Nähe ... nur vorausgegangen ... wir werden uns wiedersehen ... wieder bei ihnen sein auf ewig ... „Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe.“ Wir hören es, aber es fällt uns noch schwer zu glauben. „Denn siehe, ich will Jerusalem zur Wonne machen und sein Volk zur Freude.“ Wenn das wahr wäre: Gott schafft eine neue ewige Welt für uns, unsere Lieben sind schon dort und warten auf uns. Wenn das wahr wäre! „Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens.“ Die Großmutter gestern hat am Grab ihres Mannes nicht nur die Tannenreiser zurückgelassen, sondern auch ein wenig Last und Traurigkeit ihres Herzens. Und sie hat auf dem Weg nach Haus ihr Enkelkind lange angesehen und sich gefreut, wie es schon wieder so fröhlich springen und plaudern konnte, so als wüsste es genau: Um den Opa muss ich mir gar keine Sorgen mehr machen, der ist bei Gott im Himmel und ich werde ihn einmal wiedersehen!