Predigt zum 18. Sonntag nach Trinitatis - 15.10.2006 Textlesung: Jak. 2, 1 - 13 Liebe Brüder, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person. Denn wenn in eure Versammlung ein Mann käme mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es käme aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung, und ihr sähet auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprächet zu ihm: Setze du dich hierher auf den guten Platz! und sprächet zu dem Armen: Stell du dich dorthin! oder: Setze dich unten zu meinen Füßen!, ist's recht, daß ihr solche Unterschiede bei euch macht und urteilt mit bösen Gedanken? Hört zu, meine lieben Brüder! Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn liebhaben? Ihr aber habt dem Armen Unehre ange- tan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen? Verläs- tern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist? Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift (3. Mose 19,18): »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, so tut ihr recht; wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter. Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig. Denn der gesagt hat (2. Mose 20,13-14): »Du sollst nicht ehebrechen«, der hat auch ge- sagt: »Du sollst nicht töten.« Wenn du nun nicht die Ehe brichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes. Redet so und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen. Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht. Liebe Gemeinde! Immer wieder freue ich mich daran, wie genau die Heilige Schrift menschliche Verhaltensweisen, Fehler und Schwächen sieht und beschreibt. So fühlt man sich hier doch ertappt, wenn man davon liest, wie gerade wir Christen nicht mit den Armen umgehen sollen: „...und ihr sprächet zu dem Armen: Stell du dich dorthin! oder: Setze dich unten zu meinen Füßen!“ Aber genau so ist es doch im Leben - und nicht nur in der Welt und der Gesellschaft, nein, auch in der christlichen Gemeinde. Und dabei wollen wir „arm“ jetzt nicht nur materiell verstehen. Wir - wie ja schon die Bibel - ken- nen auch andere Armut - etwa die geistliche oder die, was die öffentliche Meinung oder das Anse- hen eines Menschen angeht. Vielleicht haben wir uns ja daran gewöhnt, dass beim Arzt - nicht unbedingt die „Privaten“! - aber doch bestimmte Patienten immer vorzeitig aus dem Wartezimmer verschwinden und viel schneller „dran“ sind als wir anderen. Und wen wundert es noch, dass beim Kommersabend des Vereins di- rekt an der Bühne immer ein reservierter Tisch steht - z.B. für den Herrn Pfarrer, den Ortsvorsteher und die besten fördernden Mitglieder! Und gibt es nicht auch umgekehrt die Erfahrung, dass „die Armen“ die „schlechten Plätze angewiesen bekommen“? Und auch das fällt uns oft gar nicht mehr auf - besonders wenn wir selbst nicht zu den Armen gehören: Beobachten wir uns einmal selbst, wenn wir das nächste Mal den Herrn Direktor begrüßen - und ein andermal - wenn überhaupt - den hochverschuldeten Mitbürger, der überall in der Kreide steht und von Sozialhilfe lebt. Und achten wir auch darauf, wie wir schon auf die Kleidung und das sonstige Äußere eines Menschen reag- ieren! Sicher kennen sie die berühmte Geschichte von Gottfried Keller, deren Titel uns schon sehr treffend entlarvt: „Kleider machen Leute!“ - Daran hat sich bis in unsere Tage nichts geändert. Aber schauen wir noch in die Kirche und die Gemeinden: Selbstverständlich würden wir einem Kirchenpräsidenten oder einem Oberkirchenrat mehr Hochachtung entgegenbringen als den an- deren Mitgliedern in unserem Bibelkreis oder den BesucherInnen des Gottesdienstes. Aber warum eigentlich? Die Leute aus der Kirchenleitung sind Christinnen und Christen wie wir, nichts höheres, nichts besseres. Selbst wenn wir jetzt kommen: Aber sie sind doch studiert und theologisch ge- bildet, oft promoviert und mit allen möglichen Titeln dekoriert ... In der evangelischen Kirche ver- treten wir seit der Reformation das „Priestertum aller Gläubigen“! Keiner ist vor Gott mehr als irgendein anderer Mitchrist. Alle sind von Gott durch seinen Sohn Jesus Christus erlöst, erkauft und sozusagen geadelt. Keiner hat also mehr Ehre verdient als ein anderer. Und so ist es auch in der Gemeinde: Die Frau Pfarrerin, der Herr Pfarrer sind nicht ehrwürdiger als der Küster oder die Organistin. Die Vorsitzende im Kirchenvorstand und jeder Kirchenvorsteher haben ihren Auftrag zwar von allen Gemeindegliedern, das aber macht sie nicht zu Herren, eher zu Dienern der anderen! Hören wir auf Jakobus: „Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn liebhaben?“ Wenn wir ganz ehrlich sind, dann gefällt uns dieses Wort nicht so gut! Und das ist ja auch klar, denn - wie wir gesehen ha- ben - verhalten wir uns oft so, als hätte Gott die Reichen, die Mächtigen, die mit der höheren Bil- dung, den großen Namen und dem größeren Einfluss auserwählt! Dabei ist das doch das schönste, größte und beste am Evangelium, dass es sich eben nicht zuerst an die auf irgendeine Weise Rei- chen wendet! Nein, ganz deutlich: Gott ist parteiisch! Er steht ein für allemal auf der Seite der Ar- men, der Zu-kurz-Gekommenen, der Schwachen, der Kranken, der Behinderten, der Ausgestoßenen ... Mit einem Wort gesagt: Gott ist zuerst für die Menschen da, die am Rande sind - die wir anderen dorthin gestellt und oft genug gedrängt haben. Ganz erstaunlich ist dabei unser seltsames - eigentlich zweigleisiges - Denken: Einerseits fühlen wir uns doch hingezogen gerade zu den biblischen Geschichten, die Gott auf der Seite der Kleinen, Geringen und Armen zeigen: Die Weihnachtsgeschichte ist dafür wohl das stärkste Beispiel, aber auch die vom Samariter oder die vom kleinen Zöllner Zachäus (- und wir könnten sicher noch Hun- dert andere Beispiele in der Schrift finden!). Wenn sie (nur) geschrieben stehen, gefallen uns diese Geschichten. Sie tapfer in unser Leben zu übertragen, fällt uns dagegen schwer. Da suchen wir Gott nicht in der Futterkrippe, der Verletzte, der unter die Räuber gefallen ist, muss an der Straße liegen- und Zachäus auf dem Baum sitzen bleiben. Jakobus sagt dazu: „Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Ge- walt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen? Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist?“ Liebe Gemeinde, ich bin weit davon entfernt, sie nun gegen die Begüterten, gegen die an Geld, Ansehen oder Macht Reichen aufzuhetzen oder sie auch nur gegen sie einzu- nehmen. Dazu ist mir und sicher uns allen auch persönlich viel zu nah, was in unserer Welt, Gesell- schaft und Gemeinde doch auch und gerade den „Armen“ immer wieder an Unehre, Herabsetzung und Ungerechtigkeit angetan wird. Und dabei ist eben keiner von uns unbeteiligt! Und doch stimmt das: Es sind wirklich die auf unterschiedliche Weise „Reichen“ die im Evangelium als die Men- schen genannt werden, die mit der frohen Botschaft von Jesus Christus viel größere Mühe oder die mit Gott wenig zu tun haben (wollen), als die Geringen und Armen. Und umgekehrt: Immer hat sich Jesus zu denen besonders hingezogen gefühlt, die arm, schwach und verachtet waren. Ich fin- de, das müssen wir einfach einmal wahrnehmen und wir müssen endlich unsere Schlüsse daraus ziehen! Und wie, das sagt uns Jakobus auch: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, so tut ihr recht; wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Über- treter. Liebe Gemeinde, wir haben es oft gehört und wir sagen es ja auch hin und wieder in Kreisen der Gemeinde: Gott sieht die Person nicht an! Vielleicht ein wenig anmaßend könnten wir jetzt sagen: „Mach’s wie Gott!“ Aber wirklich, darum geht es: Dass wir wie Gott das tut, nach dem Herzen schauen. Oder anders gesagt: Dass wir den Menschen sehen, nicht seine Kleidung, nicht seine Herkunft, nicht sein Bankkonto und nicht seinen Doktortitel. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Das können wir erst, wenn wir wirklich den Nächsten im Mitmenschen sehen und nicht sein Geld, nicht sein Ansehen in der Welt, nicht seinen Einfluss in die Gesellschaft und nicht seine Macht und was sie uns vielleicht noch nützen kann. „Redet so und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen. Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barm- herzigkeit aber triumphiert über das Gericht.“ Freiheit, das ist es, was uns durch unseren Herrn als eine seiner größten Gaben geschenkt ist: Freiheit von allem Äußeren, Freiheit von persönlichen In- teressen im Blick auf unseren Nächsten, Freiheit auch zur Liebe, ohne Ansehen der Person und ohne jede Frage, ob dieser konkrete Nächste meine Liebe verdient hat. Vergessen wir es nicht: Gott sieht um Christi willen auch unsere Fehler, unsere Sünde und Schuld nicht an. Er ist barmherzig uns gegenüber. Tun wir’s ihm an unseren Nächsten gleich. Dann wird es auch ihnen leichter fallen, unser Herz anzusehen und barmherzig zu uns zu sein. AMEN