Predigt zur Jahreslosung 2006 - 1.1.2006 Jahreslosung 2006: Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht. Jos. 1,5b Liebe Gemeinde! Sie verstehen das vielleicht nicht gleich, aber mir hat ein Wörtchen an dieser schönen Losung für das begonnene Jahr besonders gefallen. Auch dass es gleich zweimal in diesem kurzen Vers aus dem Buch Josua steht, freut mich sehr. Was ich meine? Das Wörtchen „dich“! Was mir daran so Freude macht? - Nun, es hätte ja auch heißen können: Ich lasse den Menschen nicht fallen und verlasse ihn nicht. Oder: Es könnte statt „dich“, „euch“ dastehen. Aber es heißt: Ich verlasse dich nicht! Gott spricht uns also ganz persönlich an. Er meint nicht irgend jemand anderen, sondern mich! Seine Zusage gilt nicht der Menschheit allgemein, sondern dir! Sie fragen immer noch, was daran so besonders ist? Einige unter uns sind Rentner, oder Pensionäre. Immer wieder, gerade in den letzten Jahren, wurde ihnen das Geld, mit dem sie leben müssen, gekürzt. Nicht so, dass man ihnen ein paar Prozent ab- gezogen hätte, aber ihr Einkommen wurde nicht an die gestiegenen Lebenshaltungskosten angepasst (wie es eigentlich dem Gesetz entspricht!), sondern blieb unverändert. Und einige Kos- ten, die es früher gar nicht gab, kamen neu auf sie zu. - Aber warum fällt mir das in diesem Zusammenhang ein? Weil diese Maßnahmen der verdeckten Rentenkürzung eben nicht „persönlich“ sind. Die Art, wie Gott mit uns umgeht, wäre ganz anders vorgegangen: Sie hätte hingeschaut auf den einzelnen Menschen und dann gesagt: Dieser Witwe, die mit 60 % der kleinen Rente ihres früh verstorbenen Mannes auskommen muss, kann ich nicht noch mehr wegnehmen. Sie kommt ja so kaum aus mit ihrem Bisschen Geld. Und wenn es schon sein muss, hätte Gottes Art den Beziehern großer Renten und Pensionen größere „Opfer“ abverlangt, als denen, die so schon an der Armutsgrenze leben. Was für die besser gestellten Ruheständler meist gar kein Opfer wäre. Oder denken wir an die jungen Leute, die eine Ausbildungsstätte suchen. Wir lesen dann in der Zei- tung und hören es in den Medien: Es gäbe so und so viele Bewerber und Bewerberinnen auf so und so viele Lehrstellen ... Und wenn dann wirklich Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben, obwohl doch nicht alle Jugendlichen in einem Lehrbetrieb untergekommen sind, dann denken wir schnell: Wenn das so ist, dann dürfen sich die jungen Leute aber nicht beschweren! Es kann doch nicht sein, dass sie eine angebotene Lehrstelle ausschlagen! Schließlich sagen wir auch noch: „Ihr seid aber auch nicht flexibel und irgendwie undankbar!“ - Gott sagt eben nicht „ihr“, sondern „du“ zu den Jugendlichen. Und Gott sieht z.B. die Begabung, die er in einen jungen Menschen hineingelegt hat und auch das, was einem fehlt oder woran es bei ihm mangelt. Wenn wir auch einmal so schauen, kommen wir zu einer ganz anderen Sicht und einem milderen Urteil: Das junge Mädchen, dass so gern Goldschmiedin geworden wäre, kann nicht in einer Bauschlosserei arbeiten. Der junge Mann, der vom Automechanikerberuf geträumt hat, wird niemals Liebe zum Metzgerhandwerk entwickeln. Und nur weil in einer bestimmten Region gerade viele Lehrstellen am Bau offen sind, werden sich nicht auch viele junge Menschen finden, die sich für einen Beruf mit schlechten Zu- kunftsaussichten ausbilden lassen. Die andere Seite ist schließlich, dass viele Betriebe, die begehrte Lehrstellen anbieten könnten, gar nicht mehr ausbilden, ja, sich lieber durch hohe Ausgleich- szahlungen von ihrer Verpflichtung dazu freikaufen. Aber es gibt nicht nur Beispiele aus der Politik und Wirtschaft dafür, dass uns heute oft der Blick auf den einzelnen Menschen abhanden gekommen ist. Auch in der Kirche ist das zunehmend so. Es soll gespart werden und das ist sicher auch nötig. Aber doch nicht so, dass man in allen Bereichen gleichmäßig kürzt. Vieles ist durchaus verzichtbar. Anderes nicht. Der einen Gemeinde z.B. tut es nicht sonderlich weh, wenn sie 10 % weniger Haushaltsmittel zur Verfügung hat. Eine andere wird darüber ihren zahlreichen Verpflichtungen, Aufgaben und ihrer Gemeindearbeit nicht mehr nach- kommen können und über kurz oder lang sterben. Und es kann auch nicht so sein, dass man nur nach der Zahl der Gemeindeglieder fragt, wenn man berechnet, ob einer Gemeinde eine Pfarrerin oder ein Pfarrer zusteht. Schon die Arbeit, die eine oder einer macht, ist ganz unterschiedlich nach dem Aufwand und der Häufigkeit. Selbstver- ständlich hat eine Pfarrerin mit drei Altenheimen auf ihrem Gebiet mehr Beerdigungen als ein Pfar- rer in einer neuen, jungen Wohnsiedlung. Und auch die Bedürfnisse von Gemeinden sind ganz ver- schieden, auch nach der jeweiligen Tradition und der Frömmigkeit. - Eine Kirche, die zu ihren Ge- meinden „du“ sagt, würde individuell nach den Bedürfnissen und dem echten Bedarf nach Kirche fragen. So manche kleine Gemeinde hätte ihre volle Pfarrstelle sicher. Andere - auch viel größere - müssten mit einem halben Pfarrdienst auskommen und durch ihre Beteiligung an der Gemeindear- beit zeigen, dass sie mehr Betreuung brauchen. Zuletzt - und das ganz bewusst - wollen wir aber noch auf unser persönliches Leben schauen, denn dort fällt uns das „Du“ gegenüber den Menschen, die wir ja lieben und mit denen wir verwand- tschaftlich verbunden sind, gewiss besonders leicht. Und doch ... Von welchem Menschen in un- serer Nähe wissen wir wirklich genug, um so ganz beurteilen zu können, warum er oder sie so oder so geworden oder geblieben ist? Kennen wir wirklich die Umstände und Gründe, warum unser 15- jähriger Neffe auf einmal in der Schule so abfällt und wahrscheinlich sitzen bleiben wird? Sehen wir das richtig, wenn wir die Schuld an der Krise in der Ehe unserer Tochter und unseres Schwiegersohns nur bei ihm suchen? Und wer kann bei seinen eigenen Kindern oder Enkeln ausschließen, dass sie Kontakte zu Kreisen haben, in denen sie nun wirklich nichts Gutes lernen können? Die andere Seite ist die: Wir sind oft genug nur mit uns selbst beschäftigt. Wir haben eigentlich gar keine Zeit, uns mit den Sorgen und dem Kummer anderer zu befassen. Und selbst wo es um die Menschen geht, die uns vertraut, nah und unser „eigenes Fleisch und Blut“ sind, ist das so. Darum wissen wir so wenig und kennen auch die Menschen unserer Umgebung nur sehr oberflächlich - wenn wir ganz ehrlich sind. „Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“ Liebe Gemeinde! Gott sagt du zu uns. Er meint uns, dich und dich und mich - ganz persönlich. Er kennt uns, denn er hat uns von Mutterleib und Kindesbeinen an (EG 321,1), wie wir nachher singen werden, immer begleitet. Er hat all die Gaben in uns hineingelegt, die wir heute haben und die sich nun so oder so entwickeln. Gewiss ist dabei nicht alles vorherbestimmt. Es gibt Versuchungen, die so stark werden können, das wir ihnen nachgeben. Es gibt Schicksalsschläge, die uns aus der Bahn werfen können. Und manchmal ist es die Bosheit anderer Menschen, die uns ein Bein stellt, so dass wir fallen. - Gott aber lässt uns nicht los! Er hebt und richtet uns wieder auf, und er geht die ersten Schritte in der rechten Richtung mit uns. Alles was wir tun sollen ist: Vertrauen haben! Gott sagt du zu uns. Er weiß den Gedanken, der uns noch gar nicht in den Sinn gekommen ist. Jede Regung meines Herzens ist ihm bekannt, noch bevor ich selbst sie empfinde. Er hat mich ja geschaffen und mir das fühlende Herz und die manchmal so leicht zu verletzende Seele gegeben. Andererseits aber, was für ein Segen ist das doch auch: Mit anderen fühlen, nicht so hart und kalt über alles Leid der Mitmenschen hinweg gehen können, sondern es sich nahe gehen lassen, mit- leiden, mit-gehen, mit-tragen ... Sicher werden wir dabei immer wieder an die Grenze kommen und manchmal darüber hinaus. Dann werden wir allein und von allen Menschen verlassen dastehen und nicht wissen, was wir tun sollen. - Gott wird uns nicht verlassen! Er ist dann besonders nah, wenn kein Mensch mehr weit und breit ist, der uns hilft. Gott wartet auf unser Gebet und er wird helfen. Vielleicht ganz anders, als wir es dann erhoffen und wünschen. Aber so, wie es gut und richtig ist. Gott sagt du zu uns: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht! Vielleicht ermutigt uns sein Du zu uns, dass auch wir ein neues Verhältnis zu den Menschen ge- winnen - uns wenigstens darum bemühen. Besser zuhören wäre schon viel. Mit unserem Urteil über die anderen zurückhaltender sein, wäre noch mehr. Manchmal ergibt sich nach einer Weile und mit einiger Geduld und einem Vorschuss an Vertrauen, den wir geben, ein ganz anderes Verständnis. Häufig können die Menschen ja auch gar nicht gleich so über sich selbst sprechen. Viel zu oft ha- ben sie doch schon erfahren, dass niemand sich dafür interessiert, wie es bei ihnen innen im Herzen aussieht. Da braucht es Zeit, bis sie sich wieder öffnen können. Geben wir ihnen diese Zeit! Und vielleicht schenken wir so an andere weiter, was uns Gottes Wort heute für uns persönlich ver- spricht: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“ Das wird auch unseren Gemein- schaften und unserer Gemeinde gut tun, wenn wir immer mehr solche Menschen in unseren Reihen haben, die sich nicht damit zufrieden geben, dass Gott für sie da ist, sondern daraus auch die Auf- gabe ableiten, für ihre Mitmenschen da zu sein. Und das wird auch für unsere Gesellschaft gut sein, wenn es mehr Menschen in Politik, Wirtschaft und Kirche gibt, die bei ihren Mitmenschen so hin- hören und hinschauen, wie Gott das bei uns tut: Genau, interessiert, individuell, persönlich, so dass wir dem Einzelnen und dem, was er braucht, gerecht werden. Liebe Gemeinde, das kann nun das Jahr werden, in dem wir von Gottes Wort angesprochen und be- flügelt zu Menschen werden, die seiner Zusage vertrauen und sie im Denken, Reden und Handeln allen denen weitergeben, die unser „Du“ nötig haben, wie wir das „Du“ Gottes: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“