Predigt zum 1. Adventssonntag - 27.11.2005 Textlesung: Offb. 5, 1 - 14 Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel. Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Gestalten und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande. Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß. Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Gestalten und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen, und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus al- len Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen und hast sie unserm Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden. Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Gestalten und um die Ältesten her, und ihre Zahl war viel- tausendmal tausend; die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Und die vier Gestalten sprachen: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an. Liebe Gemeinde! Von diesem Tag an, dem 1. Advent und damit dem Beginn des neuen Kirchenjahrs, ist uns Predi- gern und Predigerinnen eine Reihe von Predigttexten aufgegeben, die als besonders schwierig gilt. Und wenn sie eben aufmerksam zugehört haben, wissen sie, was so schwierig ist an diesen Texten: Z.B. entfalten sie eine Bilderwelt, die uns sehr fremd und unverständlich ist, reden von Dingen und Ereignissen, die seltsam und geheimnisvoll anmuten und von einer Zeit, die entweder fern und lange vergangen oder fern und zukünftig ist. Es fällt jedenfalls schwer, aus solchen Versen irgend etwas herauszuholen, was uns heute unmittelbar ansprechen kann. Und doch können und wollen wir uns um diese Texte nicht herumdrücken. Sie stehen in der Heili- gen Schrift und sie haben die Menschen in der Zeit, da sie aufgeschrieben wurden angesprochen und sie sollen auch uns heute - nach Gottes Willen - ansprechen. So sind also wir Verkündiger des Evangeliums von Jesus Christus selbst gefordert - vielleicht noch mehr als sonst - aus solchen schwierigen Texten den wichtigen und beherzigenswerten Kern herauszuschälen. Aber wo liegt der heute? Ich glaube, wenn wir nach Jesus Christus in diesen Versen fragen, sind wir auf dem richtigen Weg! Denn er ist das Lamm, von dem hier die Rede ist. Er ist die Wurzel Davids, der Löwe aus Juda. Er ist würdig, das Buch mit den sieben Siegeln aufzutun. Er ist geschlachtet und hat mit seinem Blut die Menschen für Gott erkauft. Er ist darum würdig zu nehmen „Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob“. Ihm ist die „Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Sicher werden wir dazu mit dem Kopf nicken und ja sagen können, wie die vier Gestalten, von denen uns hier erzählt wird: Amen, ja, so ist es. - Sind wir damit mit diesen Versen zu Beginn des Kirchenjahrs schon am Ende? Es ist für mich ausgerechnet der letzte kleine Satz dieser Vision voller Geheimnisse, Rätsel und Bilder, der mir klar gewiesen hat, worüber wir sprechen und nachdenken sollten: „Und die Ältesten fielen nieder und beteten (das Lamm) an.“ Denn bei allem Verständnis, das wir dafür aufbringen, wer und was das „Lamm“ ist und welche Bedeutung es für die Menschen hat, mit dem „nieder- fallen und anbeten“ haben wir es nicht so. Aber ich will auch die Erklärung, für das, was ich da be- haupte, nicht schuldig bleiben: Ganz ausdrücklich spreche ich jetzt nicht etwa von den Politikern in unserer Regierung, bei deren Reden und Entscheidungen wir nun weiß Gott jede Anbetung Jesu Christi, jeden Kniefall vor seinem Willen und seiner ewigen Macht vermissen müssen (- was auch für die Damen und Herren aus den C-Parteien gilt und bei ihnen besonders fragwürdig und traurig ist!). Ich denke hier auch nicht an Industrielle, Unternehmer und die Manager der Wirtschaftsimperien, denen die Gebote Gottes meist weniger wichtig sind, als die Gesetze des Marktes und die ihren Kniefall eher vor dem Mammon und den Interessen der Aktionäre nach Steigerung der Dividende machen als vor dem Lamm, das geschlachtet ist und dem Löwen aus Juda, dem allein Lob und Ehre gebührt. Nein, ich will von uns reden, von dir und mir, die wir uns Christen nennen und damit auf Jesus Christus berufen, als unseren Herrn, die Mitte unseres Lebens in dieser und unsere Hoffnung auf das Leben in der ewigen Welt. Fallen wir nieder vor ihm? Beten wir ihn an - wenn wir einmal ab- sehen von diesem Gottesdienst und unserem Morgen- oder Abendgebet? Sicher, das sind nur Bilder, Umschreibungen dafür, dass Jesus Christus für uns wichtig ist, bedeu- tend und der eine, um den sich alle unsere Gedanken drehen ... Wir müssen nicht ständig buch- stäblich auf die Knie gehen und unser Alltag muss nicht von morgens bis zum Abend begleitet sein vom Händefalten, einem andächtigen Blick und dem Gemurmel unserer Lippen. Aber wie oft über Tag denken wir wirklich an IHN? Wann fragen wir: Was hätte ER wohl jetzt getan? Wo lassen wir uns von IHM in unsere Vorhaben, unsere Pläne, unser Denken, Sprechen und Handeln hineinreden? Was uns zuerst dazu einfällt, ist gewiss dies: Aber so bedeutend ist mein Tag doch gar nicht. Was habe ich schon zu entscheiden? Was hat denn Belang von allem, was ich zwischen Aufstehen und Niederlegen so tue und lasse? Manche von uns machen auch sicher geltend, dass sie ja leider kaum Berührung mit anderen Menschen haben. Wieder andere meinen vielleicht, das Verhältnis zu Jesus Christus wäre doch schließlich auch Privatsache und ginge niemanden etwas an. Mit dem letzten wollen wir gleich aufräumen: Wenn Jesus Christus unser Herr ist, dann sind wir alle seine Leute, ja, seine Geschwister. Wir gehören also in die eine große Familie der Kinder Got- tes. Und Schwestern und Brüder, die vor einander verbergen, woran sie glauben, was sie bewegt und erfreut, woran sie leiden und worauf sie hoffen, solche Geschwister kann ich mir nicht vorstel- len! Und ich glaube auch, dass unser Alltag - auch für Alleinlebende - viel mehr Möglichkeiten bietet, als wir zuerst denken, unserem Herrn Lob und Preis und Ehre zu geben: Neben dem, was wir für uns in der Stille unseres „Kämmerleins“ an Gebeten sprechen und IHM an Ehrerbietung erweisen, ist jeder Kontakt mit anderen Menschen, ja, schon jeder Gang außer Haus in die Öffentlichkeit eine Gelegenheit zu zeigen, wer unser Leben regiert, wer für uns das Maß aller Dinge und die Mitte un- seres Glaubens ist. Hier geht es nicht um irgendwelche Demonstrationen von Frömmigkeit. Ich meine die kleinen Gesten, den Ausdruck unseres Gesichts, das Wort zur rechten Zeit, die Antwort auf die unausgesprochene Frage, aber auch das Schweigen, wenn andere zu viel sagen, den Ein- spruch, wenn der gute Ruf von Menschen beschädigt wird und das Bemühen, alles zum Besten zu kehren und noch so manches andere, was wir bei IHM lernen können. Aber damit das nicht so rätselhaft und undeutlich bleibt wie die Worte, die wir am Anfang dieser Predigt aus der Bibel gehört haben, will ich etwas aus dem Leben und dem Alltag von Menschen erzählen, kleine Dinge, Ereignisse, die nicht einmal den Anspruch erhebe, richtige Geschichten zu sein. Aber so kann Anbetung Jesu Christi und der Kniefall vor ihm als unserem Herrn heute ausse- hen: Ein Junge so im Alter unserer Konfirmanden steht durch die Verlegung des wöchentlichen Re- ligionsunterrichts auf die 6. Stunde Dienstags und Donnerstags unvermittelt vor der Frage, ob er weiter am Unterricht teilnehmen oder nicht lieber austreten und zweimal in der Woche eine Stunde früher nach Hause zu kommen. Erschwert wird die Entscheidung dadurch, dass sie keineswegs pri- vat ist. Die Klassenkameraden haben schon zahlreich beim Direktor ihren Austritt erklärt und da soll man nun als einer der wenigen dazu stehen, dass einem gerade die Religionsstunden immer Freude gemacht haben und wichtig waren? Was werden die anderen denken, wenn man „drin“- bleibt? Was werden sie über einen sagen? Und dann allein ihre mitleidigen Blicke! - „Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewig- keit!“ Eine ältere Frau, die täglich zur gleichen Stunde das Grab ihres Mannes besucht, bemerkt seit langem, dass eine andere Frau immer zur selben Zeit wie sie auf den Friedhof kommt. Sie macht sich an einem noch recht frischen Grab in der nächsten Gräberreihe zu schaffen, bringt alle paar Tage Blumen und verharrt oft lange reglos am Fuß der Ruhestätte. Sie ist noch wesentlich jünger und sie weint oft, wenn sie so gedankenversunken am Grab steht. Die Ältere weiß nichts Genaues, aber sie vermutet doch, dass die Jüngere so wie sie selbst ihren Mann verloren hat. Auch ahnt sie, warum sie immer gerade zu der Zeit ans Grab tritt, wenn sie das auch tut. Ganz offensichtlich wird sie nicht fertig mit dem Abschied. Sicher wünscht sie sich, dass sie, die Ältere, einmal das Gespräch mit ihr sucht. Vielleicht hofft sie auf eine Hilfe, einen Trost, ein wenig Begleitung in der schweren Zeit der Trauer, wenn die Wunden noch so weh tun und die Einsamkeit und das Dunkel um einen herum noch so dicht ist. Und sie hätte ihr doch auch ein paar gute Worte zu sagen, von ihrem Glauben an die Auferstehung, von ihrer Hoffnung auf das ewige Leben und das Wiedersehen mit den lieben Menschen, die ihr vorausgingen. Ob sie nicht morgen einfach einmal hinübergehen sollte, die paar Schritte ... „Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ Wir alle begegnen jeden Tag anderen Menschen. In unserer Familie, auf der Straße, beim Einkaufen, im Wartezimmer des Arztes ... Wir können stumm und zugeknöpft aneinander vor- beigehen oder nebeneinander sitzen. Wir können aber auch die anderen Menschen bewusst und freundlich wahrnehmen, wir können ihnen ein Lächeln schenken und versuchen, in ihren Ge- sichtern zu lesen. Wir können dann auch fragen, wie es ihnen geht. Ich meine dabei nicht das for- schende Erkundigen aus Neugier, sondern das hilfreiche Fragen um der anderen Willen: um ihnen geschwisterlich nah zu sein, ihnen mit einem Wort, einem Rat oder einer eigenen Erfahrung zu helfen, einen Weg zu zeigen oder ihnen die Last, die sie tragen müssen, etwas leichter zu machen. In alledem zeigen wir ohne große, stolze Geste und ohne Überhebung zu wem wir gehören, wer Herr unseres Lebens und Halt unseres Glaubens ist und erfüllen an dem Ort, an den Gott uns in der Welt gestellt hat, was uns heute vom Lamm, das für uns geschlachtet ist, von der Wurzel Davids, dem Löwen aus Juda gesagt ist: Ihm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewig- keit! Amen!