Predigt zum 4. So. nach "Trinitatis" - 19.6.2005 Textlesung: 1. Mos. 50, 15 - 21 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, daß sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten. Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Statt? Ihr ge- dachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen. Liebe Gemeinde! Wenn das ein Filmstoff wäre, würden die Kritiker hinterher sicher in der Zeitung schreiben: Im Film von Regisseur XY ging es um große Gefühle! Oder: Zentraler Gegenstand der Verfilmung dieses biblischen Stoffs war das uralte Thema: Schuld und Vergebung. Und wirklich: Hier wird et- was angesprochen, das die Menschen schon immer - und besonders seit sie an einen Gott glauben - im Innersten angerührt und beschäftigt hat: Wie erlange ich Gnade bei Gott und den anderen Men- schen, wenn ich mir Schuld aufgeladen habe. Oder - nicht so theologisch gesprochen - wie komme ich mit den Mitmenschen und mit Gott wieder ins Reine, was muss ich tun, dass sie mir verzeihen? - In der Geschichte von Josef und seinen Brüdern, besonders in den Versen, die wir eben gehört ha- ben, erfahren wir, wie das geht. Aber was hatten die Brüder Josefs getan, was war ihre Bosheit Josef gegenüber gewesen? Sicher erinnern sie sich: Sie hatten Josef in einen Brunnen geworfen und dann an vorbeiziehende Kaufleute verschachert, die ihn in Ägypten weiterverkauften. So war er an den Hof des Pharao ge- kommen und nach einigen Jahren als Diener des Königs bis zum 2. Mann in Ägypten aufgestiegen. Schließlich ist ausgerechnet er in einer schrecklichen Hungersnot der Retter seiner Familie ge- worden. Ein Beispiel dafür, dass Gott noch aus der übelsten menschlichen Bosheit seinen göttlichen Segen machen kann! So haben alle erfahren, dass es stimmt, was Josef hier sagt: Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. Die Brüder Josefs hatten also den eigenen Bruder verkauft und dazu noch ihrem alten Vater weiß gemacht, sein Lieblingssohn Josef wäre einem wilden Tier zum Opfer gefallen. Den Bruder versklavt, den Vater belogen und betrogen - etwas Schlimmeres konnte man sich damals (und kann man sich ja auch heute noch) kaum vorstellen. Mit gutem Grund haben also die Brüder vor Josef ein schlechtes Gewissen! Ihre Schuld ist eigentlich unvergebbar! Josef hätte jedes Recht und ja auch die Macht gehabt, seine Brüder ins Gefängnis zu setzen, ja, sie sogar umbringen zu lassen. Ich glaube, jetzt erst begreifen wir richtig, was in der Vergebung geschieht - nicht nur hier! Und ich bin ganz sicher, das hat nicht nur mit Josef und seinen Brüdern zu tun, sondern mit uns heute ganz genau so, ja, wenn nicht alles täuscht, sogar noch mehr! Das will ich erklären: Nichts ist in der kirchlichen Praxis und im christlichen Glaubensleben in den letzten Jahre so sehr vernachlässigt worden, wie die Tatsache, dass wir "allzumal Sünder sind", um es mit Paulus zu sagen (Röm. 3,23) und dass wir auch immer Sünder bleiben - wenn auch gerechtfertigt durch Chris- tus. Mit anderen Worten: Die Sünde, die wir vor Gott haben und die Schuld, die uns unseren Mit- menschen gegenüber auf der Seele liegt, wird verharmlost. Wir reden uns ein und wir lassen uns einreden, das wäre doch alles gar nicht so schlimm, jedenfalls nicht so, dass wir uns darüber grämen und mit einem schlechten Gewissen quälen müssten. Und überall in unserer Gesellschaft bekommen wir Hilfe dazu, Sünde und Schuld abzutun, zu vergessen und allenfalls als harmlose Kavaliersdelikte gelten zu lassen. Und auch in der Kirchengemeinde stehen wir in der Gefahr, zu rasch von Vergebung zu reden und davon, dass wir durch Jesus Christus doch wieder mit Gott in Ordnung sind - und leider wird auch auf vielen Kanzeln entsprechend gepredigt. Aber das soll hier nicht ohne Beleg stehen bleiben: Geht ihnen das nicht auch immer wieder zu schnell, dass uns gesagt wird, wenn wir falsch gehandelt und irgend eine Bosheit begangen haben, "aber der oder die hat sich doch auch nicht besser, ja, noch viel schlimmer verhalten"! Und ist es nicht auch umgekehrt so: Dass wir - kaum hat uns jemand in irgend einer schlechten Sache seine Gewissensnöte offenbart - schon davon reden, dass "es Leute gibt, die weiß Gott größere Schuld auf sich gehäuft haben, aber kein Mensch wirft es ihnen vor, darum solle er sich das auch nicht so zu Herzen nehmen ...!" Und in der Gemeinde sprechen wir eben auch zu schnell davon, dass wir durch Christus gerecht geworden sind, dass er doch alle Schuld auf sich genommen und ans Kreuz getragen hat. Und (ich fürchte, zunehmend) viele Prediger vertreten in unseren Tagen die Ansicht, dass man den Men- schen, die überhaupt noch in einen Gottesdienst gehen, doch nicht mit so etwas wie Schuld und Sünde kommen dürfe. (Entsprechend gut oder schwach sind dann auch die Abendmahlsfeiern in solchen Gemeinden besucht!) Was will ich nun damit sagen? - Ganz einfach dies: Vor jeder Vergebung, bevor ich meinem Mit- menschen verzeihen kann oder er mir, muss noch etwas stehen, was die katholische Bußlehre die "Zerknirschung des Herzens" nennt und Martin Luther mit "Reue" oder "Erkenntnis der Sünde" bezeichnet hat. Wir untereinander würden vielleicht davon reden, dass uns etwas "leid tut" oder dass wir uns gern "ent-schuldigen" würden. Ohne diese Reue, Zerknirschung oder das Gefühl und das Aussprechen dessen, dass uns etwas "leid" ist, kann es kein Verzeihen geben, auch wenn wir uns heute nach Kräften bemühen, es eilig zu überspringen. Ich halte es in diesem Zusammenhang für bezeichnend und für eine Sache, die uns sehr nachdenk- lich machen müsste, dass unsere evangelische Konfession eigentlich genau dadurch entstanden ist, dass man in der kirchlichen Lehre und Praxis zur Zeit Luthers allzu rasch von der Schuld zur Ver- gebung gesprungen ist. "Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: Tut Buße, da wollte er, dass das ganze Leben der Gläubigen eine Buße sei!" So hat es Luther 1517 in der ersten der 95 Thesen denen entgegengehalten, die an Menschen ohne Reue und Schuldbewusstsein Ablassbriefe zur Vergebung der Sünden verkauften. "Das bessert die Menschen nicht", hat er hinzugefügt, "das macht sie nur träge und wiegt sie in falscher Sicherheit." "Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. ... Sie lassen ihm sagen: Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters!" Liebe Gemeinde, auch hier spüren wir etwas davon, dass es eben nicht ohne Reue abgeht. Ja, es gibt Grund zur Zerknirschung! Wir haben böse gegenüber unserem Bruder gehandelt! Und: Ja, das war eine Missetat! Wir haben Schuld auf uns geladen und Gott gegenüber Sünde! Die Angst, die in den Seelen der Brüder Josefs nistet, ist echt - und weil sie zur Reue führt, ist sie heilsam! Und allein das kann das Verhältnis zwischen Josef und seinen Brüdern wieder herstellen und allein das kann auch vor Gott Vergebung erlangen. Und sehen wir auch noch dies: Josef verharmlost durchaus nicht, was ihm die Brüder angetan ha- ben, nein, er sagt: "Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen ..." Kein Wort wie: Das war doch alles nicht so schlimm oder Schwamm drüber oder gar: andere haben größere Bosheit getan ... Vielmehr: Ja, ihr habt sehr schlecht an mir gehandelt. - Jetzt - und eben erst jetzt! - kann wieder alles in Ord- nung kommen zwischen den Menschen und Gott und das heißt niemals, Fünfe gerade sein lassen, sondern Schuld mit Schuld benennen, Schuld bereuen, Schuld bekennen und dann - Vergebung empfangen. Liebe Gemeinde, vielleicht denken wir jetzt ja, dass sich das alles doch sehr gesetzlich anhört und wenig "evangelisch". Sieht es denn nicht fast so aus, als könnte uns (nur) unsere Reue die Verge- bung Gottes und der Menschen erwerben? Und ist das dann nicht "verdienstlich" gedacht? Nein, es bleibt dabei: Die Vergebung, die Rechtfertigung vor Gott, hat uns allein Jesus Christus er- worben! Wir können und müssen dafür nichts mehr tun. Und trotzdem: Eine Vergebung, die jeder Sünde rasch und sozusagen wie selbstverständlich folgt, wäre "billige Gnade". Und Gnade, wenn sie billig ist, führt uns nicht zur Erkenntnis, dass wir uns falsch verhalten haben und schon gar nicht zur Besserung. Dazu aber will uns Gott führen. Und auch bei Schuld zwischen den Menschen ist es zu einfach, wenn sie uns gar zu schnell zugesprochen wird. Und ich glaube, ganz tief drinnen in un- serer Seele haben wir auch noch ein Wissen davon, dass zur Vergebung Gottes, dass zum Verzei- hen zwischen den Menschen auch gehört, dass ich einsehe und bereue, wo ich böse gehandelt habe. Und auch bei unseren Mitmenschen darf ich davon ausgehen, dass ihr Gewissen mit dem allzu schnellen Verzeihen nicht zufrieden ist, denn das Gewissen ist uns von Gott gegeben, darum will es nicht durch ein dahin geworfenes: "Ist schon wieder gut!", sondern durch wahre Reue und Zerknir- schung besänftigt werden. Die Brüder sagten zu Josef: "Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters!" Da antwortete Josef: "Fürchtet euch nun nicht ... Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen." So kommt Schuld zwischen Menschen in Ordnung. So wird Sünde von Gott vergeben.