Predigt zum Drittl. So. des Kirchenjahrs - 7.11.2004 Textlesung: Röm. 14, 7 - 9 Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, daß er über Tote und Le- bende Herr sei. Liebe Gemeinde! Es sind sehr bekannte Verse, die wir heute betrachten sollen. Wie oft mögen sie schon zu hören gewesen sein, wenn wir (einen Verstorbenen in die Leichenhalle überführt, oder) an einem Grab gestanden haben? Es sind Worte, die wir eigentlich immer dann bedenken, wenn wir von einem Menschen Abschied nehmen. Es sind Worte, die uns immer wieder ins Gedächtnis rufen wollen, dass wir als Christen im Leben und im Sterben verbunden sind und bleiben mit Jesus Christus, un- serem Herrn. Weil diese vier Sätze so bekannt sind, bin ich sie wieder und wieder durchgegangen, um ihnen vielleicht doch auch noch etwas Neues, anderes abzugewinnen. Und wirklich, ich habe einen Ge- danken in ihnen gefunden, der auch darin liegt und der sonst immer viel zu kurz kommt. Gleich der erste Satz hat mich darauf gebracht: Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich sel- ber. Gewiss, das soll uns zuerst dahin führen, dass wir erkennen: Wir leben für und mit und vor un- serem Herrn Jesus Christus. Die andere Seite aber ist, wenn wir ehrlich sind, dass wir dieses Ge- fühl, für unseren Herrn zu leben und zu sterben, eigentlich nur in seltenen Momenten unseres Le- ben deutlich empfinden, eben vielleicht dann, wenn ein Mensch gestorben ist und wir ihn auf den Friedhof begleiten. Aber sonst? Sonst liegt uns viel näher, bei einem solchen Wort, "unser keiner lebt sich selber", an die Mitmen- schen zu denken und an unser Zusammenleben mit ihnen. Und selbst das zweite: "keiner stirbt sich selber", hat für mich und ich glaube für uns alle mehr die Beziehung zu den anderen Menschen, die der Abschied von uns sicher sehr treffen, traurig und vielleicht einsam machen würde. Ich glaube darum, es ist an der Zeit, diesem Wort einmal in dieser Hinsicht nachzudenken: Keiner von uns lebt allein, ohne die Gemeinschaft der Menschen, die um ihn ist und keiner stirbt allein, unbeachtet von dieser Gemeinschaft und hoffentlich nicht unbetrauert. - Aber stimmt denn das? Es gibt doch Lebensentwürfe, die sehen zumindest äußerlich so aus, als könnten Menschen gän- zlich ohne die anderen, die Gemeinschaft ihrer Familie, ihres Dorfes (ihrer Nachbarschaft) oder der ganzen menschlichen Gesellschaft auskommen. Mir fallen da die religiösen Einsiedler ein, die es ja auch noch in unseren Tagen gibt. Gerade neulich konnte man im Fernsehen einen Bericht über einen solchen allein lebenden Mann, Mitglied eines Mönchsordens, sehen. Er hatte allerdings wenigstens einmal am Tag noch Kontakt zu seinen Mitbrüdern, zu denen er sich in halbstündigem Fußmarsch zur Mittagsmahlzeit aufmachte. Aber - obgleich es noch viel strengere religiöse Ab- geschiedenheit gibt - gab es schon bei diesem Beispiel eines Einsiedlerlebens Zuschriften von Zuschauern, die das Leben allein und eben nicht für die Mitmenschen scharf verurteilt haben: "Der Mann könnte im Kontakt zu seinen Brüdern und den anderen Menschen gewiss ein gottgefälligeres Leben führen", so hieß es da zum Beispiel. Halten wir fest: Irgendwie ist das Leben in selbstgewählter Einsamkeit etwas, was in unserer Zeit, in dieser doch vielerorts so kalten Welt vor dem Urteil der meisten Menschen wohl nicht mehr bestehen kann. Oder denken wir an ganz reiche Leute, die sich in einer Villa im Nobelort hinter Stahltoren und Elektrozaun vollständig von der Außenwelt abschotten. Das gibt es ja wirklich - und gar nicht so selten. Da mag Angst um das Eigentum eine Rolle spielen. Vielleicht auch die begründete Furcht vor Entführung und Erpressung von Lösegeld. Oft ist es aber auch einfach das schiere Desinteresse an anderen Menschen: "Ich möchte keine Kontakte! Ich brauche niemanden und ich will in Ruhe gelassen werden." Wenn die Sache so liegt, dürfte sich unsere Bewunderung in Grenzen halten, die wir vielleicht angesichts des riesigen Anwesens solcher Menschen hegen, oder des dicken Wagens mit den verdunkelten Scheiben, der zweimal am Tag durch das sich automatisch öffnende Tor fährt und niemand weiß, wer in ihm sitzt ... Im Grunde sind solche Reiche doch arme Menschen; so würden wir sicher denken. Vielleicht fällt uns jetzt auch noch der eine oder andere Sonderling aus unserem Dorf (unserer Nachbarschaft) ein, der sich auch nur ganz selten einmal auf der Straße sehen lässt, der ganz für sich lebt und von dem die Gerüchte gehen, er hätte sich mit seinen Familienangehörigen überwor- fen und ginge nur manchmal mitten in der Nacht spazieren. Wir wollen darüber nicht urteilen, zu- mal wenn wir nichts Genaues wissen. Eins aber gilt für alle, die auf diese oder jene Weise allein le- ben, abgetrennt von der Gesellschaft: Es geht eigentlich nicht! Es funktioniert nicht, dieses Leben ohne die anderen! Der Einsiedler braucht die Nahrung, die ihm andere bereiten, oder ihm - wenn er nicht selbst zu den Mahlzeiten ginge - gebracht würde. Die Reichen hinter ihren hohen Mauern brauchen Strom, einen Telefonanschluss und Wasser, die ihnen das Gemeinwesen liefert. Und selbst wenn diese Menschen, die für sich die Einsamkeit und Trennung von der Gemeinschaft gewählt haben, ohne Strom, Wasser und irgendwelche Lebensmittel von außen auskommen kön- nten, so brauchen sie doch einmal einen Arzt und falls es bei ihnen brennt, die Feuerwehr und damit doch die Hilfe anderer. Aber dieses Wort reicht ja noch viel tiefer: Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich sel- ber. Kann denn einer ohne die Zuwendung anderer leben? Psychologen und Mediziner würden ge- wiss antworten: Nein, das kann er nicht! Ein Kind ohne die Liebe seiner Eltern würde schon im Säuglingsalter sterben müssen. Und nicht nur, wenn es keine Nahrung bekäme. Auch der Entzug al- ler Liebe und der Zärtlichkeit, die sie hervorbringt, ist tödlich. Aber auch Erwachsene brauchen die Liebe anderer Menschen, ihre Achtung, ihre Teilnahme, ihr Interesse. Schon die Vorstellung ist ja schrecklich, aber ein Mensch, den wir alle nicht mehr wahrnehmen, links liegen lassen und wie Luft behandeln würden, müsste an seiner Seele verkümmern und lange vor der Zeit sterben. Ja und auf einmal sind wir jetzt selbst mittendrin in der Betrachtung dieses Wortes und in den Ge- danken, die sie auslöst: Denn wir sind es doch auf der anderen Seite, die den Menschen diese Zu- wendung geben oder verweigern. Wir sind es, die nach ihnen fragen, oder sie abschreiben. Wir be- handeln sie, als gäbe es sie nicht oder bringen ihnen die angemessene Beachtung entgegen. Es mag ja sein, dass wir bei dem Einsiedler und den Reichen, über die wir gesprochen haben, mit unserer Liebe ins Leere laufen. Aber es gibt andere, viele andere auch in unserer Nähe, die warten auf uns und unsere Zuwendung - und da mag mancher dabei sein, den wir als "Sonderling" oder "Außen- seiter" abgehakt haben! Und da bekommt auch dieses Wort: Unser keiner lebt sich selber!" noch einmal eine andere Bedeu- tung, ja, es liegt gar eine Mahnung in ihm: So wie du nicht für dich allein leben kannst, getrennt von den Menschen, abgetan von ihnen und vielleicht immer übersehen und gemieden, so kann es auch dein Mitmensch nicht! Und das gilt auch für den, von dem alle sagen: "Der will das ja gar nicht anders! Der bleibt lieber für sich. Und außerdem ist der zu allen, die sich ihm nähern immer so unfreundlich und abweisend." - Das mag alles stimmen, und dennoch bleibt er unser Nächster! Und trotzdem geht er zugrunde an seiner - wenn auch selbstgewählten! - Absonderung von den Menschen. Aber vielleicht ist die widerborstige Art, die er heute an den Tag legt, nicht Ursache un- serer Ablehnung ihm gegenüber, sondern die Folge??? Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Was bleibt, ist der klare Auftrag an uns, auch die Menschen in die Gemeinschaft einzubeziehen, die sich, wie wir meinen, von ihr getrennt haben. Und keine Mühe in dieser Aufgabe ist vergeblich. Gewiss: Manchmal wird das sehr lange dauern, bis sich eine oder einer wieder in die Gemeinschaft traut. Aber wie lange mag oft die Zeit gewesen sein, in der diese Menschen Verachtung und Desinteresse von denen erfahren und erleiden mussten, die ihren Platz in der Gemeinschaft (des Dorfes) oder auch der Kirchengemeinde schon gefunden haben? Eins weiß ich bestimmt: Ohne diese Annahme durch uns Menschen kann nicht wahr werden, was dieses Wort weiter sagt: Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Immer sind wir (Mit-)Menschen es, die den anderen vermitteln, was ein Leben mit Jesus Christus bedeutet und aus uns gemacht hat: Wenn wir uns bei ihm angenommen und geborgen fühlen, dann werden wir auch andere annehmen und bei uns zu Hause sein lassen. Wenn wir von der Liebe Jesu zu uns wissen und davon ergriffen sind, dann werden wir diese Liebe auch vor anderen strahlen lassen und ihnen weiterschenken. Schließlich steht hier ja auch unser Glaube an diesen Jesus Christus in Frage: Wenn wir ihm im Le- ben und Sterben vertrauen, wie könnten wir dann nicht alles tun, um andere auch zu diesem Glauben und unter die Herrschaft Jesu Christi zu führen? Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, daß er über Tote und Lebende Herr sei. Auch über die, die wir heute noch Außenseiter und Sonderlinge nennen würden.