Predigt zum 3. Adventssonntag - 14.12.2003 Textlesung: 1. Kor. 4, 1 - 5 Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse. Nun for- dert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden. Mir aber ist's ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht. Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist's aber, der mich richtet. Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteil werden. Liebe Gemeinde! Vor Wochen ist der inzwischen fünfte "Harry-Potter"-Band erschienen. Das Fünfte aus einer Reihe von Büchern mit schier unglaublichem Erfolg auf dem Markt, bei Millionen durchaus nicht nur jugendlichen Lesern. Die Auflage der Bücher sprengen jedes Maß. Die Autorin gehört inzwischen zu den reichsten Frauen Großbritanniens. Wenn - wie gerade wieder - ein neuer Band heraus- kommt, stehen die Fans wirklich um Mitternacht vor den Buchhandlungen und die Händler öffnen und veranstalten Zauberparties mit Sonderverkauf. - Was ist der Grund für diese beispiellose Er- folgsgeschichte? Einmal eben das: In den Harry-Potter-Büchern wird gezaubert. Tief drinnen in uns haben wir alle solche Gedanken und Wünsche: Man müsste zaubern können! Wenn sich doch die Dinge dieser Welt ein wenig beeinflussen ließen, wenn wir in den natürlichen Ablauf des Lebens mit Zauberstab oder -spruch eingreifen könnten! Das wäre etwas. - Ja, hier liegt für mich einer der Gründe, warum so viele Menschen die Harry-Potter-Geschichten geradezu verschlingen. Ein zweiter hat mit dem zu tun, was wir vorhin vom Apostel Paulus gehört haben: "Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse." - In den Potter- Erfolgsbüchern dreht sich alles um "Geheimnisse", die zu lüften sind, an denen viel hängt - oft die Gesundheit, die Rettung oder gar das Leben. Geheimnisse haben Menschen schon immer fasziniert. Sie wollten ihnen auf den Grund gehen, sie lüften, ihren Kern erfahren, sie lösen, wissen, was sie verbergen... Das scheint ganz tief drin zu liegen in der menschlichen Natur und Seele. Was könnten das für Geheimnisse sein, die Paulus anspricht? Wofür sind die "Diener Christi" zu "Haushaltern" bestimmt? - Eins der Geheimnisse muss hiermit zusammenhängen: "Mir aber ist's ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht. ...der Herr ist's aber, der mich richtet." Schauen wir uns um in dieser Zeit. Scheint es nicht wirklich weithin unbekannt, dass Christinnen und Christen zuallererst dem Urteil und Gericht ihres Herrn unterworfen sind? Ist das nicht ganz of- fenbar verloren gegangen in unserer Gesellschaft, dass es auf Gottes Willen ankommt und was er von uns fordert und wie er bewertet, was wir tun und lassen? Gewiss, wenn ein Mensch gestorben ist, dann hören wir es vielleicht an seinem Grab: "Er steht jetzt vor seinem ewigen Richter..." Und am Ende des Kirchenjahrs und am Totensonntag werden solche Worte wohl auch noch gesagt: "Wir müssen alle Rechenschaft geben vor dem Richterstuhl Christi." Aber sonst im Leben? Was diese Welt betrifft? - Da haben wir solche Gedanken meist aufgegeben, da spielen sie keine Rolle mehr, da können sie uns auch nicht mehr helfen... Denn es läge eine große Hilfe darin, das wieder zu wis- sen, zu glauben und zu beherzigen: "Der Herr ist's, der mich richtet!" Mir kommen die vielen Menschen unserer Zeit in den Sinn, die in Schuld gebunden leben, die sie irgendwann einmal auf sich geladen haben. Vielleicht haben sie betrogen oder gestohlen. Vielleicht einem Mitmenschen eine große Gemeinheit angetan. Und sie wissen das ja und beurteilen das selbst so. Sie haben auch längst bereut, was sie getan haben. Und Gott - so müssen wir als Christen doch von ihm denken - hat ihnen lange schon verziehen. Nur die Menschen nicht. Immer wieder legen sie die, denen Gott vergeben hat, auf das fest, was sie einmal verschuldet haben: "Hat der nicht damals...?" - "Ist die das nicht gewesen, als die Kasse nach dem Vereinsabend nicht gestimmt hat?" - Ach, wenn diese Menschen, die nicht herauskommen aus Schuld und Verfehlung, wenn sie doch dieses Geheimnis wüssten: Gott hat dir vergeben! Und es kommt nur darauf an, wie Gott dich sieht und wie sein Urteil über dich lautet. - Wie leicht könnte den Menschen ums Herz werden! Wie viel besser könnten sie dann mit dem Richtspruch ihrer Mitmenschen umgehen! Aber wir, die "Haushalter" dieses Geheimnis', sagen es ihnen ja nicht, oder nicht laut, nicht eindringlich genug. Und denken wir an die heute zunehmend große Zahl der Menschen, die sich selbst für weniger wert achten als andere. Vielleicht haben sie ihre Arbeit verloren und es ist ihnen damit die Welt eingestürzt und ihre Selbstachtung gleich mit. Aber was kann einer denn dafür, wenn der Inhaber der Firma, bei der er vielleicht seit 25 Jahren beschäftigt ist, unverantwortlich wirtschaftet oder gar einen betrügerischen Konkurs hinlegt? Und was kann einer dafür, dass er inzwischen halt schon über 50 ist, in einem strukturschwachen Raum lebt und nun keine Arbeit mehr findet? Vielleicht wurde eine auch von ihrem Partner verlassen und meint nun, so unansehnlich oder ein- fältig wie sie ist, könnte sie ja auch keiner liebhaben. Wer kann schon noch klar sehen, wenn ihn eine Trennung tief verstört und verletzt hat? Wer erkennt dann, dass es wohl einfach nur der Ego- ismus des Partners, der Partnerin war, die Attraktivität einer jüngeren Frau vielleicht oder die Lust auf neue, prickelnde Erfahrungen mit einem anderen Mann? Vor allem brauchen solche Menschen, deren Selbstwertgefühl angeschlagen ist, die anderen - uns als Haushalter des Geheimnis' Gottes, dass sie wissen: "Der Herr ist's, der mich richtet!" Ich muss nichts in mich hinein fressen, was ich doch nicht ändern kann und oft auch gar nicht verschuldet habe. Ich muss mich nicht mit ewigen Selbstvorwürfen quälen. Gott weiß, warum es dazu gekommen ist, er kennt die Wahrheit, die Um- stände, die hinter dem stehen, was mich jetzt so herunterzieht. Und es ist nur das wichtig, was Gott weiß und sieht und wie er urteilt. - Wie entlastend könnte es sein, das zu wissen! Aber wir, die "Haushalter" schweigen darüber. Aber es gibt noch ein zweites Geheimnis, oder besser: einen zweiten Teil dieses Geheimnis': "Da- rum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Fin- stern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen." Es bleibt in dieser Welt nichts im Dunkeln! Alles kommt ans Licht, auch wenn es lange verborgen war. Vielleicht können das manche von uns ja gar nicht glauben und würden sagen: Wer zieht sie denn zur Rechenschaft, die ihren Angestellten den Arbeitsplatz kaputt machen? Haben sie nicht allemal ihr Schäfchen im Trockenen? Und wer bestraft denn die oder rückt ihnen auch nur den Kopf zurecht, die ihre Partner verlassen, einfach weggehen und dann noch alles, was gemeinsam erwirtschaftet worden ist, für sich allein haben wollen? Leben sie nicht herrlich und in Freuden, unbelastet von schlechtem Ge- wissen oder Skrupeln, die sie weiß Gott haben müssten, sollten...? "Darum richtet nicht vor der Zeit", sagt Paulus. Wir könnten hinzufügen: Habt Geduld. Wartet ab, bis sich Gott und sein Gericht sehen lässt. Ja, das hört sich nach billigem Trost an. Aber es ist so. Es kommt so. Allerdings dann, wenn und wann Gott es will. Alles kommt ans Licht. Und durchaus nicht erst in Gottes neuer Welt. Das Trachten der Herzen wird offenbar. Alle Menschen haben ein Gewissen! Für immer lässt es sich nicht unterdrücken. Liebe Gemeinde, es gibt sicher noch viele Geheimnisse Gottes. Dass er uns Sünder liebt, ist eines und ein anderes, dass er uns ein Leben lang treu bleibt, auch wenn wir ihn lange, vielleicht bis an unser Ende missachtet und verleugnet haben. Aber zurück zum Erfolg der Harry-Potter-Bücher. Wenn es wirklich die Faszination der Geheimnisse ist, die ihn ausmacht, warum können dann die Geheimnisse Gottes, die er uns anvertraut hat, so wenig begeistern? Wie hieß das vorhin: Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse. Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden wer- den. Ich glaube, wir sind nicht treu, nicht treu genug jedenfalls. Wo sprechen wir denn denen, die sich mit alter Schuld plagen, die nur die Menschen ihnen noch vorhalten, davon, dass Gott ihnen verziehen hat, dass er ihren Schuldschein an das Kreuz Christi geheftet und ihnen einen neuen An- fang geschenkt hat? Wo bauen wir die Menschen damit auf, dass es doch darauf ankommt, was Gott von ihnen hält und wie viel Wert er ihnen bemisst? Und dabei ist unser Reden nicht genug! Die Menschen wollen es auch an uns sehen, unserem Handeln ablesen können: Ich verurteile dich nicht wegen irgend einer Sache, die viele Jahre zurückliegt. Ich vertraue dir, ich trete dir so gegenüber, als hätte es da nie etwas gegeben. Wie komme ich denn dazu, dir vorzuwerfen, was Gott dir schon lange nicht mehr anrechnet? Und auch die Selbstachtung der anderen wird nicht nur mit den Lippen, nicht nur durch unsere Worte wieder aufgebaut. Spüren wollen sie es an uns: Die mag mich, die hat gern mit mir zu tun. Für den bin ich wichtig, er fragt nach mir, interessiert sich für meine Meinung, für den zähle ich. Und schließlich wird auch die Liebe und Treue Gottes weniger durch das, was wir sprechen, als vielmehr durch das, was wir tun vermittelt: Wer treuer Haushalter dieser Geheimnisse sein will, der wird freundlich zu den Mitmenschen, warmherzig, gütig, verlässlich auch und liebevoll... Liebe Gemeinde, ich betrachte es als eine echte Herausforderung für uns Christinnen und Christen, dass wir die Geheimnisse Gottes wieder so attraktiv machen, wie sie wirklich sind. Das kann und darf nicht sein, dass uns Harry Potter den Rang abläuft.