Predigt zum Vorl. Sonntag im Kirchenjahr - 15.11.2009 Textlesung: Mt. 25, 31 - 46 Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt wer- den. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gege- ben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen En- geln! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig ge- wesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden sie ihm auch antworten und sa- gen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben. Liebe Gemeinde! Heute ist der „Vorletzte Sonntag im Kirchenjahr“. Aber heute ist auch Volkstrauertag. Mir gehen dazu einige Fragen durch den Kopf, auf die ich keine Antwort weiß: Wer von Ihnen ist wohl darum gekommen? Wer möchte also über die Schatten der Vergangenheit nachdenken? Oder wer will hier einen Friedensgottesdienst erleben, wie es uns die Kirche für diesen Tag zu feiern empfiehlt? Wer kam schließlich heute einfach „wieder einmal zum Gottesdienst“, ohne bestimmten Anlass? Wem ist das gar eben erst eingefallen: Ach ja, heute ist Volkstrauertag? - Sie wissen ja sicher: Volkstrauertag ist ein Gedenktag des Staates, nicht der Kirche. Trotzdem, die Kirche ist heute voller als an den meisten Sonntagen! So ganz vorbeidenken können wir also nicht an diesem Anlass, an den Erinnerungen und Gefühlen, die sich da heute einstellen. - Und dann di- eser Predigttext! Hat er zu tun mit unseren Gedanken an diesem Tag? Spricht er hinein in unser Denken und Gedenken, in unsere Gefühle - und in unseren Schmerz, wenn wir zurückblicken? Was mich schon immer an diesem Gleichnis Jesu begeistert - und getröstet! - hat, steht schon im ersten Satz: „Wenn aber der Sohn des Menschen in seiner Herrlichkeit kommen wird und alle Engel mit ihm ...“ Jesus richtet unseren Blick erst einmal nach vorn: Was immer ihr erlebt habt, wie viel Leid ihr gesehen, wie viele Wunden man euch geschlagen hat ... es kommt ein Tag des Gerichts! Da wird jedes Leid zählen. Da schlägt jedes Opfer zu Buche. Da war nichts „umsonst“ und vergeblich. Der Tag des Herrn kommt! Nichts wird ihn aufhalten können. Nicht der Hochmut des Menschen, der sich selbst für Gott hält. Nicht das Leugnen Gottes durch die Neunmalklugen. Die Abrechnung kommt. Nichts wird sie verhindern - aber auch nichts kann sie beschleunigen. Der Herr selbst legt sie vor. Er weiß allein Tag und Stunde. - Mir ist das bei allem, was auch mich umtreibt und ängstigt, immer sehr tröstlich. Aber wir wollen uns jetzt nichts vormachen: Das Gericht hat auch und besonders eine dunkle Seite! Und es hat ja auch mit uns zu tun! „Wann sahen wir dich hungrig oder im Gefängnis und hätten dir nicht gedient?“ Gott wird auch uns unsere Versäumnisse vorhalten. Wir können nicht erwarten, dass er nur unseren Schmerz heilt, ohne auch den Finger darauf zu legen, wo wir Schmerzen zu- gefügt haben. Wir dürfen nicht meinen, er hätte nur gesehen, wo wir gelitten haben und nicht auch, wo über andere durch uns Leid gekommen ist. Gottes Gedächtnis hat nicht nur unsere Not bewahrt, sondern auch die unserer Brüder und Schwestern, die wir mit verursacht haben. Was wir an denen lernen sollen, die das Gleichnis „die Verfluchten“ nennt, ist dies: Am Tag des Gerichts wird es zu spät sein, sich zu besinnen und zu fragen: Wo hätten wir dich nicht gespeist, nicht besucht, nicht bekleidet ... Und wir müssen es denen „zur Linken“ auch nicht glauben, wenn sie sich unwissend stellen. Sie haben es wohl gewusst, wo ihnen im geringen Bruder der Herr begegnet ist! Sie haben ihn wohl erkannt, als er sie um Hilfe anflehte und sie ihm die Tür wiesen! Sie sind ihm wohl ausgewichen, als er ein Opfer an Zeit oder Geld von ihnen forderte! Lassen wir uns nicht täuschen: Sie sind nicht so ahnungslos wie sie tun ... die Verfluchten, die der Herr am Ende von sich schickt. - Aber fragen wir uns selbst: Haben wir den Herrn erkannt im Gesicht des gegnerischen Soldaten, der Angst hatte wie wir? Haben wir ihn fortgejagt, damals, als er in Gestalt des Flüchtlings aus dem Osten in unser Dorf (Land) kam? Sehen wir ihn heute, wenn er als unser Nachbar von der Ungunst des Schicksals gebeutelt wird? Entdecken wir seine Züge im Gesicht des jungen Menschen, der keinen Platz in der Welt der Erwachsenen und dieser Gesellschaft finden kann? Sehen wir überhaupt einmal über den eigenen Bauch hinaus? Haben bei uns denn überhaupt noch Gedanken an „Brüder“ oder „Schwestern“ Platz, noch dazu an „die geringsten“? Ich muss sagen: Mir ist es geradezu unheimlich, wie ichbezogen viele unserer Zeitgenossen ihr Le- ben verbringen. Da gibt es wirklich oft nur noch das eigene Wohl, das heißt, was sie für „Wohl“ halten. Kein Fünkchen menschliche Anteilnahme glimmt da noch, kein bisschen Dankbarkeit, wenn es einem selbst doch so viel besser geht als anderen. Im Nachbarhaus mag Not und Tod und seelisches Leiden hereinbrechen, - was kümmert sie’s? Die Millionen in dieser Welt, die hungern, die Opfer von Naturkatastrophen, die Geschundenen, Verfolgten, Gefolterten, die unter den Gewaltherrschern dieser Erde leiden ..., dafür haben sie schon gar kein Auge oder Ohr, und erst recht keine Hand und kein Geld. Gewiss: glücklich sind diese Menschen nicht. Sie bilden sich ein, sie hätten alles, was Menschen brauchen, um als Menschen zu leben. Aber nichts davon haben sie wirklich! Sie besitzen Sachen. Sie bewohnen ein Haus. Sie arbeiten, verdienen Geld, haben ihre Vergnügungen. Aber nicht mehr als das. Es fehlt der Sinn. Und es fehlt ihnen das Wissen: Ich werde gebraucht, ich bin - in einer tie- feren Bedeutung - wichtig unentbehrlich für meine Mitmenschen. Es fehlt auch der Blick für die andern, das Auge für die geringsten Brüder, das Ohr für die Not des Nächsten. Darin aber - und in nichts anderem - liegt unsere vornehmste Aufgabe als Menschen, schon gar als Christen. Und wir kennen diese Aufgabe. Und wir wissen genau, dass wir sie erfüllen sollen. Und wir drücken uns doch davor, wo wir nur können. Deshalb können auch wir uns nicht entschuldigen. Darum betrifft uns die Warnung dieses Gleichnis’. Und deshalb, genau deshalb ist wohl unser Leben oft auch so leer und farblos. Ja, es ist nicht übertrieben, wenn ich es sage: Im Grunde ist so ein Kreisen um den eigenen Bauch schon eine Strafe! Die ganze Fülle des menschlichen Lebens bleibt diesen Menschen verschlossen. Arm ist der, bei dem sich alles im engen Raum des eigenen Ichs erschöpft. Arm und bedauernswert. Und man könnte sich wirklich fragen: Warum eigentlich noch mit ewiger Strafe drohen? Warum noch die ewige Verdammung ansagen, wie es die Geschichte Jesu tut? Ist es nicht schon schlimm genug, sich nur um sich selbst zu drehen und mit sich und seinen Wünschen allein zu sein, gefangen in der Einsamkeit und Kälte der Ichsucht, des Mangels an Gefühl und Her- zenswärme? Ja, ist es da nicht eigentlich schon in diesem Leben vorweggenommen, was hier an- gekündigt wird?: „Und sie werden hingehen zur ewigen Strafe ...“ Aber da kommen wir jetzt dem zweiten wichtigen Gedanken auf die Spur, den uns das Gleichnis nahebringen will: So wird es sein, unweigerlich, wenn du nicht ... Das erwartet dich, Mensch, der nur sich selbst kennt, solltest du nicht endlich ... Diese Zukunft wird der Herr dir bereiten, wenn du nicht dein Leben herumreißt, neu ausrichtest, neu beginnst. Weiß Gott: Da liegt eine kräftige War- nung darin! Aber eben auch eine Chance, die wir nutzen sollten. Denn der letzte Tag ist eben noch nicht da. Wir haben noch Zeit - aber wer weiß wie lange? Nun hat allerdings das Denken in dieser Richtung gleich wieder eine Schwierigkeit: Wer neu an- fangen will, muss erst erkennen, dass der Weg, den er bisher ging, falsch war. Christen nennen das: Buße tun, Schuld annehmen. Mit „Schuld“ aber ist das so eine Sache! Wer hat sich schon einmal sagen gehört: „Da bin ich damals schuldig geworden?“ Oder: „Wir haben viel Sünde und Böses auf uns geladen?“ Wie oft aber wird so gesprochen?: „Wir haben davon nichts gewusst. Wir konnten nichts dafür. Wir haben das doch nicht gewollt. Unsere Schuld ist es nicht gewesen. Ich habe mir nichts vorzuwerfen.“ Mit solchen Sätzen ist keine Vergangenheit zu bewältigen. Aber auch aus der Gegenwart und ihrer Schuld können wir uns nicht befreien, wenn wir so denken und reden: „An- dere tun noch weniger für ihre Nächsten. Ich bin doch nicht schlechter als mein Nachbar! Jeder ke- hre zuerst vor seiner eigenen Tür! Warum soll gerade ich den Anfang machen?“ Das alles hilft uns ja nicht wirklich. Weil wir Schuld halt nicht wegreden können. Weil das alles ja auch keine Kavaliers- delikte sind, sondern Zeichen für unseren ewigen Widerstand gegen Gott und das Gute. Aber da ist nun wieder diese andere Seite: Es steht wirklich alles auf dem Spiel: Tod oder Leben. Heil oder Verdammung - und nicht erst später, sondern schon in dieser Welt. Liebe Gemeinde, sagen wir doch einmal - vielleicht zuerst wenn wir mit unserem Gott allein sind - ja, ich habe in meinem Leben schon viel Schuld auf mich geladen. Ja, Vater, ich habe dich in so vielen Brüdern und Schwestern gesehen und erkannt ... und ich habe dich doch nicht gespeist, dich nicht getränkt, nicht besucht, nicht bekleidet, nicht beherbergt ... Ja, ich habe alles das nicht getan und hätte es doch tun sollen. Ja!, - aber es ist mir herzlich leid darum und ich bitte dich, mein Gott, um Vergebung meiner Schuld. - So sieht der neue Anfang aus! So können wir Menschen werden, die frei von sich selbst für andere da sind. So sprengen wir das Gefängnis der Ichsucht und treten hinaus ins Freie. Nicht Leugnung, nicht Ausflüchte, nicht schlechtes Gedächtnis sind der Weg. Nur Vergebung führt in die Weite eines neuen Lebens vor und mit Gott. So werden wir einmal sagen können: Herr, wo hätten wir dich besucht, dir Brot gegeben, dir ein Dach geboten, dich gepflegt ... Diese Fragen werden ehrlich gemeint sein. So selbstvergessen nämlich können Menschen für andere leben, wenn sie von der Vergebung Gottes herkommen. Dazu möchte uns das Gleichnis einladen: Schuld einmal Schuld nennen. Mit der Vergebung, die uns Gott um Christi willen anbietet, neu beginnen. Ich glaube, das sind wichtige Gedanken - nicht nur, aber gerade am Volkstrauertag! AMEN