Predigt zum 4. Sonntag nach Trinitatis - 5.7.2009 Textlesung: Lk. 6, 36 - 42 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen. Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst! Liebe Gemeinde! Nachdem Sie jetzt diese Verse gehört haben, haben Sie es gemerkt: Das ist wieder so ein Text, der uns nur schwer eingeht! Vor zwei Wochen - das große Abendmahl. Selbstverständlich waren wir die geladenen Gäste, die sich mit allen möglichen fadenscheinigen Gründen entschuldigt haben! Letzten Sonntag - der verlorene Sohn. Ganz klar mussten wir uns sagen lassen: Ihr tragt auch Züge des verlorenen Sohnes oder auch des anderen, der zu Hause geblieben war, was auch nicht viel bes- ser ist. Ja, wer sind wir denn? Macht das denn keinen Unterschied mehr, ob einer sich zur Kirche hält, ob einer am Morgen die Losung liest, ob einer versucht, den Willen Gottes zu tun, ob einer sich nach Jesus ausrichtet, ob einer in seiner Gemeinde mitarbeitet ... ??? Langsam regt einen das doch auf! Immer wieder müssen wir uns das sagen lassen: Ihr seid nicht in Ordnung. Ihr seid verlo- ren gegangen und habt alles durchgebracht. Ihr lebt nicht so, wie es Gott gefällt. Was ist denn, bitte schön, mit denen, die ihr ganzes Leben ohne Gott machen, die du niemals in dieser Kirche siehst, es sei denn (vielleicht!) an Heiligabend, die von allem, was uns heilig ist, nichts wissen wollen, ja noch darüber spotten? Am Ende sind die noch besser als wir??? Wirklich, diese Verse laufen wieder darauf hinaus: ... kann denn ein Blinder einen Blinden führen? ...was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, des Balkens in deinem eigenen Auge aber, wirst du nicht gewahr ... Das sollen doch wohl wieder wir sein, die Blinden, die mit dem Balken im Auge!!! - Wahrhaftig, wir möchten auch wieder einmal etwas Erbauliches hören, etwas, das uns gut tut, uns froh macht, uns in unserer Kirchenbank ein wenig wachsen lässt. Und wir Predigerinnen sollen das immer verkündigen, jetzt schon einige Sonntage ohne Unterbrechung ... das ist auch nicht einfach! Meine Gefühle beim Lesen dieser Geschichte vom Splitter und vom Balken waren genauso: Wo bleibt dein Zuspruch, Jesus? Wo ist dein aufbauendes, gutes Wort an uns, deine Leute? Setz’ uns doch nicht immer so herab, Jesus! Lass doch ein gutes Haar an uns! Aber ich muss zugeben: Erkannt hat er mich schon. Was kann ich mich doch aufhalten darüber, dass einer nicht so kirchlich ist, wie ich! Wie regt mich doch der „Splitter“ im Auge meines Nach- barn auf, der doch kein einziges gemeindliches Angebot ausnutzt. Wie ärgert mich doch der Le- benswandel von X, der seine Kinder ganz falsch erzieht, der sein Auto verlottern lässt, der keine Ordnung im Haus hat und bei dem im Garten das Unkraut überhand nimmt. Wie lang trage ich Frau Y die Sache von damals eigentlich schon nach, 10 Jahre ... schon 20? - Wie sehe ich sie doch so gut: die „Splitter“ in den Augen der Mitmenschen! Wie entlastend ist das doch auch: auf die Mängel der anderen blicken, den Finger auf sie richten, an ihnen herummäkeln ... So kann ich von mir ablenken. So fällt vielleicht weniger auf, was bei mir nicht stimmt. So kann ich den Balken in meinem Auge verbergen ... - Du hast ja recht, Jesus! Aber, was soll ich denn tun??? Ich frage dich, wie werde ich meinen Balken im Auge los? Und du antwortest: „Jeder Baum wird an seiner Frucht erkannt. Von Dornen sammelt man keine Feigen. Von einem Dornbusch schneidet man keine Traube. Was nennt ihr mich: Herr, Herr! und tut nicht, was ich sage?“ Ich verstehe dich, Jesus. Um mein Tun geht es. Meine Taten sind entscheidend. Die „Früchte“, die ich hervorbringe, sind das wichtigste. Und auch hier hast du recht: In meinem Alltag könnte man mich verwechseln mit denen, die nichts von dir halten. Morgen schon, wird an mir nichts davon zeugen, dass du mein Herr bist. Die Früchte meiner Tage wachsen genauso spärlich wie bei denen, auf deren „Splitter im Auge“ ich mit meinem Finger weise. Es stimmt ja, Jesus, ich bin nicht besser als die andern. „Frucht“ kannst du von mir nicht viel sammeln. Was wäre denn solche Frucht in deinen Augen?: Wenn ich vielleicht nach so vielen Jahren des Schweigens, das versöhnende Wort an meinen Nachbarn hervorbrächte? Wenn ich mit dem Geld, das ich übrig habe, Gutes täte für die Ärmsten dieser Welt? Wenn ich mich morgen nicht heraus- hielte, wenn der Chef meinen Kollegen runterputzt? Wenn ich endlich zu dem ginge, den zu besu- chen ich immer wieder aufschiebe? Wenn ich vor meinen Angehörigen und Freunden einmal den Mund aufbekäme und klar sagte, woran - und an wen - ich glaube? Wir kommen noch auf viele an- dere „Früchte“, die wir dir bringen könnten, Jesus! Jeder von uns „weiß“ sie ja. Nur ist „Wissen“ und „Glauben“ nicht dasselbe wie „Blühen“ und „Frucht-Treiben“ nicht dasselbe ist! Und es ist schon so: Mit dem Hinweis auf die Splitter in den Augen der andern wollen wir uns entlasten, uns entschuldigen ... Der „Balken“ sitzt fest in unseren Augen! Aber du sagst es uns, Jesus! Du lässt uns nicht los, bis wir das begriffen haben: Ihr seid nicht in Ordnung, weil ihr nicht tut, was ich von euch verlange. Du gibst nicht auf, bis wir „Frucht“ bringen, wie sie unserem Glauben entspricht. Du gibst uns nicht auf! Und auf einmal verstehen wir auch: Welch eine Liebe steht doch hinter deinen harten Worten! Der Vater, der seine Kinder nicht liebt, lässt sie laufen, wohin sie wollen. Die Frau, der nichts an ihrem Mann liegt, kümmert sich nicht um das, was er tut oder lässt. Ein Mensch ohne Zuneigung zum an- dern, wird sich nicht darum scheren, ob er den rechten Weg findet. Uns aber sagst du es wieder und wieder. Du gehst uns in die hintersten Winkel unseres Lebens nach. Du bleibst uns auf den Fersen, auch wenn wir dir den Rücken kehren. Mit solchen Geschichten „verfolgst“ du uns ... suchst du uns heim: Ihr seid die Geladenen ... ihr schiebt alle möglichen faulen Gründe vor ... ihr habt 1000 billige Ausreden, wenn Gott euch für sein Reich gewinnen will. Ihr seid der verlorene Sohn oder sein Bruder ... ihr habt manches verprasst, was eurem Vater gehört ... auf euch wartet er schon so lange ... aber ihr kommt nicht heim. Ihr seid die Blinden - und ihr wollt die andern Blinden führen! Ihr seid die Heuchler: Lamentiert über den Splitter im Auge des Nächsten und seht nicht den Balken bei euch selbst! Ihr bringt nicht die Früchte, die dem Glauben angemessen sind, der doch in euch ist! Ich bin Gott dankbar, dass er so hart mit mir redet! Wenn wir nur wollten, dann könnten wir den werbenden, liebevollen Klang seiner Stimme hören, wenn Jesus so spricht und solche Geschichten erzählt. Es ist allemal seine Liebe, die da zum Ausdruck kommt! Hätte er uns aufgegeben, er würde nichts mehr von uns verlangen. Glaubte er nicht mehr an eine Veränderung bei uns, er würde uns nicht so zurechtweisen. Hielte er nicht mehr für möglich, dass wir ihm endlich Früchte abliefern, er ließe uns nicht mehr ausrichten, wie er uns haben will. So gesehen, kann ich mich nicht mehr ärgern, dass mich Jesus immer so hart angeht. Ich bin ja doch einer, der „Nein“ sagt, wenn ihn Gott einlädt. Ich bin auf vielen Wegen meines Lebens in die Irre gegangen und dem himmlischen Vater oft sehr fern. Ich bin blind, wenn es um das Tun des Rechten geht. Ich erkenne den Balken in meinem Auge nicht und zeige auf den Splitter bei meinen Mitmenschen. Ich reife keine Frucht für Gott. Nein, ich bin wahrhaftig nicht „besser“ als irgendeiner neben mir. Vielleicht - und auch das ist nicht mein Verdienst - habe ich es besser als mein Mitmensch, auf den ich so gern von oben herabsehe: Nach mir schaut nämlich einer, nach mir ruft einer, mich will einer zu sich ziehen, mit seinen harten Worten erreichen, überzeugen, gewinnen, verändern ... Warum macht Gott sich nur soviel Mühe mit mir? Wie werde ich ihm das danken?