5. Predigt zu Figuren aus der Passionsgeschichte - 28.03.2004 Textlesung: Mt. 25, 31 - 40 Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt wer- den. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich be- sucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gese- hen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Liebe Gemeinde! Heute kommt die fünfte Figur aus der Passionsgeschichte. Bevor sie sich jetzt den Kopf zerbrechen, wer denn noch fehlt, wer es also sein könnte, will ich es ihnen sagen: Die fünfte Figur sind wir selbst! Du und du und du...und ich. Die heutige Figur aus der Passion Jesu kann also eine Frau oder ein Mann sein, ein alter Mensch, vielleicht aber auch ein Jugendlicher. Jetzt fragen sie sicher: Aber, wo kommen wir denn in der Passionsgeschichte vor? Die Antwort ist: Überall! Ich will sagen, wir waren schon dabei, als die Frau Jesus für sein Begräbnis salbt. Wir sind beteiligt gewesen, als Petrus den Herrn verleugnet. Auch als Pilatus seine Hände wäscht, sind wir in der Nähe. Was Maria Magdalena zu erzählen hatte, ging uns an. Selbst der Verrat des Judas im nächtlichen Garten, und auch die Befragung des Volkes durch Pilatus: "Welchen soll ich euch ge- ben, Jesus oder Barrabas?", hat mit uns zu tun. Und schließlich werden wir auch Zeuge der Kreuzi- gung, wie schon der Qual des Herrn, als er sein Kreuz die Leidensstraße hinauf zum Hügel schleppt. Bei allem sind wir dabei: Schon bei der Salbung in Bethanien, dann beim Einzug in Jeru- salem, über die Anklage vor den Hohenpriestern bis hin zur Kreuzabnahme, als Jesu Wort verhallt ist und er im Tod seinen Weg vollendet hat: "Es ist vollbracht!" Bei allem sind beteiligt und alles hat mit uns zu tun. Aber wie meine ich das? Wir leben doch so offensichtlich in einer anderen Zeit und sind Jesus doch nie begegnet und schon gar nicht haben wir irgend eine Schuld an seinem Leiden und Sterben... Oder doch? Denken sie doch noch einmal an die Lesung, die wir vorhin gehört haben. Sie haben sich ja vielleicht schon gefragt, was die mit Figuren aus der Passionsgeschichte zu tun hat, aber ich habe sie durchaus mit Bedacht ausgewählt. Sie ist ein Teil der Erklärung, auf welche Weise wir be- teiligt sind an der Leidensgeschichte Jesu. Wie hieß das in diesem Gleichnis vom Weltgericht: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Und der Ge- danke, dass unser Mitmensch das Gesicht Jesu trägt, ist uns ja doch auch von anderen Geschichten her sehr vertraut und auch von den Liedern unseres Gesangbuchs. Doch: Wir können das so sehen und sagen: In unserem Nächsten begegnet uns Jesus. Nun gehört es zum wunderbaren der Passi- onsgeschichte, dass sie über Verhaltensweisen und Ereignisse spricht, die menschlich sind und die in allen Zeiten, überall und immer wieder vorkommen. Überall auf der Welt werden täglich Men- schen verraten und verleugnet, ausgeliefert und im Stich gelassen, gefoltert, geschlagen und getötet. Und überall auf der Welt wird täglich auch Jesus wieder den Leidensweg hinauf zum Hügel getrie- ben. Denn alle, denen das Böse, der Verrat, die Gewalt und der Schmerz zugefügt wird, tragen sei- ne Züge. Und was ihnen angetan wird, geschieht ihm, denn er trägt mit ihnen und hat sich ihnen verbunden im Leid - ein für allemal! Aber noch ist das weit weg von uns. "Sein Leid geschieht täg- lich überall auf der Welt", habe ich gesagt. Auch bei uns? So sieht der tägliche Verrat bei uns aus: Ins Gesicht hinein freundlich und verständnisvoll - hinten- rum wird geschwätzt und über denselben hergezogen, dem man eben noch den Eindruck vermittelt hat, man wäre sein bester Freund und Vertrauter. Dann die Gleichgültigkeit dem gegenüber, was man doch mit den Lippen vorgibt zu glauben - sobald es schwierig wird mit der Christlichkeit, so- bald die Nachfolge Christi etwas kostet oder auch nur unangenehm wird, wenden wir uns ab und tun so, als ginge uns dieser Jesus nichts an. Ja, da kennen wir ihn nicht einmal mehr. Und auch die Szene vor Pilatus kann man jeden Tag ganz praktisch unter uns erleben: "Welchen wollt ihr, dass ich ihn euch freigebe, Barrabas oder Jesus?" Wie oft schon war das die Frage an uns: Wem hältst du bei, diesem oder jenem? Dem der recht hat oder dem, der stärker ist, einflussreicher, angesehener, mehr Geld hat, um dich hinterher zu belohnen? Wie oft haben wir uns dann schon auf die Seite des Stärkeren gestellt? Wie viele Male haben wir den Schwächeren hängen gelassen, un- tergehen lassen, in seiner Not und seinem Elend alleingelassen? Besser für uns war das allemal: Der Schwache kann sich ja nicht wehren, kann uns ja nicht zur Rechenschaft ziehen wegen Lieblosig- keit, wegen Untreue oder Feigheit. Der Starke, dem wir Recht gegeben haben, wird sich vielleicht erkenntlich zeigen, sich dankbar erweisen. Vielleicht wäscht dann demnächst eine Hand die ande- re? Einzig unser Gewissen belastet sich mit diesem Unrecht und dieser Gemeinheit. Aber das bringt man zum Schweigen - bei einiger Übung. Und selbst der Weg Jesu zum Kreuz und sein Tod am Holz spielt sich täglich in unserer Nähe und unter unseren Augen ab: Die Einsamkeit der Alten fällt mir ein, die keiner besucht. Das dumpfe Leben vieler junger Leute kommt mir in den Sinn, die nur noch Konsum und Kurzweil kennen, de- nen nie eine Mutter oder ein Vater vorgelebt hat, dass ein Leben für andere Sinn und Erfüllung schenkt. Und die Kinder, die das Beten nicht mehr lernen, fallen mir ein, die dieser rauen Welt ü- berantwortet werden, ohne Halt und ohne Vertrauen in Gott. Und was früher oder später über diese Menschen kommt, das ist oft so schlimm wie der Tod: Die vielen Stunden des Tages allein, ohne menschliche Ansprache. Oder das Leben, in dem es an nichts fehlt, was man kaufen kann - und das doch so fade ist und so abgeschmackt und ohne jedes Wissen, warum man eigentlich in der Welt ist. Und schließlich die schweren Zeiten eines Lebens, in denen sich oft so schmerzhaft zeigt, dass man ohne Gott nicht sein kann, keinen Grund hat und nichts, was trägt und Kraft gibt. Und dann sich sehnen müssen und doch nicht wissen, nach wem oder was. Und sich ängstigen müssen und keine Hilfe haben und zweifeln und verzweifeln, ohne Weg und Licht und Ziel... Und bei all diesem Geschehen - ganz in unserer Nähe - werden wir Zeuge! Wir stehen dabei, wir sind mehr oder weniger verwickelt, vielleicht gar klare Ursache dessen, was geschieht. Und genau wie damals am Leidensweg Jesu haben wir verschiedene Möglichkeiten. Wir können eben nur dastehen, das Geschehen an uns vorbeiziehen lassen, vielleicht ein bisschen mitfühlen und eine Träne verdrücken... So halten es viele. Andere gehen diesen Dingen soweit sie können ganz aus dem Weg. Sie schauen fort, blicken in die andere Richtung, tun so, als wäre da doch gar nichts... Aber es ist ja da und es bleibt eine Sache, die mit uns zu tun hat, an der wir, wenn wir wollten, etwas verändern, vielleicht zum Guten gestalten könnten. Aber - Gott sei Dank! - die Menschen gibt es auch noch, die nicht bloß Zuschauer bleiben, die sich einbringen ins Geschehen, mitgehen, sich hineinverwickeln lassen, das Kreuz mittragen - wie Si- mon von Kyrene, der dem Herrn das Kreuz ein Stück getragen hat. Das wird nicht leicht sein! Da geraten wir rasch auch unter den Beschuss böser Nachrede, gemeiner Bemerkungen, höhnischer Fragen, schiefer Blicke und lügnerischer Verleumdung. Da stellen wir uns ja immerhin auf die Seite der Schwächeren - da konnte man noch nie sicher und unangefochten stehen! Man wird uns zusetzen und angreifen. Da hagelt's Schimpfworte und mancherlei Spott. Den Dreck werden die Leute kübelweise über uns ausleeren. Sie werden uns alles nehmen: Das Ver- steck, in dem wir uns bislang immer so sicher gefühlt haben, den Schutz, den es bedeutet, im Hin- tergrund eines Geschehens zu bleiben, die Unterstützung der Menge, in der wir sonst untertauchen konnten. Aber etwas werden sie uns nicht nehmen: Den Beistand und die Hilfe Jesu, der ein für al- lemal dort steht und aushält, wo Menschen in Not sind, in Ängsten, unter Druck und angegriffen von der Bosheit der anderen. Das gilt und das werden wir dann erfahren: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Und noch etwas werden sie uns nicht nehmen können: Die Selbstachtung! Wir werden das wissen und spüren: Es ist recht und gut hier zu stehen, hier auszuhalten bei den Schwachen, hier in Jesu Nähe und beschützt von ihm. Liebe Gemeinde, viel zu sagen ist jetzt nicht mehr. Damals wie heute geht Jesus täglich den Lei- densweg hinauf nach Golgatha. Wir werden Zeuge - ob wir es wollen oder nicht. Wir müssen uns dazu stellen. Auch wegsehen ist eine Möglichkeit, aber es hilft nicht und läßt die allein, die heute den Weg durch das Leid gehen müssen. Ich wünsche uns, dass wir eine und einer werden, die bei den geringsten Brüdern und Schwestern sind und bleiben. Ich wünsche uns, dass wir dort die Kraft und die Hilfe Jesu erfahren, die uns deut- lich spüren läßt, dass wir auf der richtigen Seite sind. Ich wünsche uns, dass wir mit dem Beistand Jesu nach unseren Kräften und Möglichkeiten in das Geschehen um uns herum eingreifen, es ver- ändern, bessern, mit den Menschen mitgehen, mittragen... So - und ich glaube: nur so! - kann unser Leben heute wichtig werden und wertvoll für Gott und die Menschen.