Ansprache für die Christvesper - 24.12.2001 (Es gibt auch eine Predigt für die Christmette - zum Predigttext der Christnacht) Textlesung - Wochenspruch zum Heiligen Abend und zum Weihnachtsfest: Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit. Joh. 1,14 Liebe Gemeinde! »Das Wort ward Fleisch...« Ja, wie denn? »...und wohnte unter uns«. Kann jemand sagen, wo das sein soll? Ein Mädchen namens Nele hat einmal wissen wollen, wohin es gehen muß, wenn es das fleischge- wordene Wort Gottes, den Heiland sucht. Hört, was es erlebt hat: Es war kurz vor Weihnachten, Neles Mutter hatte den ganzen Tag zu tun. Sie schürte den Ofen, sie ließ den Staubsauger brummen, dann schrubbte sie, dann kochte sie, dann nähte sie, dann putzte sie die Fenster, dann sagte sie: »Je, es wird schon dunkel.« Nele blickte in die Flocken hinaus und sah zu, wie es dunkel wurde. Plötzlich fragte sie: »Mutter, wo ist Bethlehem?« Die Mutter nahm eine Schüssel aus dem Schrank, ein Messer und einen Spankorb mit Äpfeln. Nele fragte: »Wo ist Bethle- hem? Kann man da hingehen?« »Freilich«, sagte die Mutter, und weil sie gerade Äpfel schälte, eine ganze Menge Äpfel, und weil Nele nicht aufhörte zu fragen: »Wohin muss man gehen, Mutter, wenn man nach Bethlehem will?«, antwortete sie: »Quer über die Straße. So, nun weißt du's.« Nele nickte, zog den Mantel an, setzte die Mütze auf, nahm die Tasche und ging quer über die Stra- ße. Da kam ein Junge mit einer roten Bommelmütze vorbei, der rief: »Nele, wohin gehst du?« - »Nach Bethlehem«, sagte Nele. »Weißt du denn, wo Bethlehem ist?« - »Quer über die Straße«, sagte Nele. Der Junge machte ein dummes Gesicht, dann lachte er und zeigte mit dem Finger: »Das soll Bethle- hem sein? Ein paar Häuser, mit Gärten dazwischen? Links, das ist doch der Bäcker. Dann kommt die Wäscherei, dann die Villa, dann die Gasse. Und dahinter die Mauer mit dem Gefängnis. Bethle- hem ist ganz woanders.« - »Die Mutter hat gesagt: Quer über die Straße.« »Mütter sagen manchmal so was. Weil sie keine Zeit haben. Am besten, man verdrückt sich. Wollen wir spielen?« - »Ich muss nach Bethlehem«, sagte Nele. »Was willst du dort?« - »Zum Christkind.« - »Dir was schenken lassen?« - »Nein.« - »Vom Christkind kriegt man doch geschenkt. Du nicht?« - »Im vorigen Jahr«, sagte Nele, »habe ich eine Puppe gekriegt. Und einen Ball. Und Rollschuhe.« - »Hast du das alles in die Tasche gepackt?« »Ja. Hier ist alles drin. Weil ich dem Christkind was mitbringen will.« Der Junge lachte und lief fort. Nele ging quer über die Straße, sie kam in ein Haus, der Flur war dunkel, und Nele hatte Angst, als sie an die Tür klopfte. Doch hinter der Tür wohnte jemand. Nele hörte, wie eine Stimme leise: »Her- ein!« rief, da öffnete sie und sah, dass eine alte, weißhaarige Frau am Fenster saß. »Was tust du hier?« fragte Nele. »Ich warte, bis es dunkel ist.« - »Und dann?« - »Dann wird die La- terne draußen angezündet. Das sieht hübsch aus, so eine brennende Laterne.« - »Hast du kein Licht?« - »Ich brauche nur am Schalter zu drehen. Aber wozu? Es ist ja niemand hier, mit dem ich mich unterhalten könnte.« - »Weshalb bist du allein?« fragte Nele. Die alte Frau seufzte. »Das kommt ganz von selbst. Früher waren alle Stuben zu eng. Das schwatzte und sang und lachte. Wir wussten kaum, wo wir den Weihnachtsbaum aufstellen sollten, damals. Stell ihn auf die Nähmaschine, sagte mein Mann, da steht er niemandem im Weg. Ja, und nun, sooft ich die Nähmaschine betrachte - dort drüben, in der Ecke, das ist sie -, muss ich daran denken, wie hell und warm es hier war und wie es rief und lachte und sang...« - »Wo ist dein Mann jetzt?« - »Wo wird er sein? Gestorben ist er. Zum Glück war er nicht lange krank.« - »Und die Kinder?« - »Die Kinder sind groß. Sie haben geheiratet und haben selbst wieder Kinder.« - »Besuchen sie dich nicht?« Die alte Frau lächelte. »Sie kommen hie und da. Zu meinem Geburtstag. Manchmal auch zwischen- durch.« - »Werden sie heute kommen?« - »Nein, heute nicht. Es lässt sich nicht machen, steht im Brief, und das ist ja auch zu begreifen. Die weite Reise, was denkst du? Und das Geschäft erlaubt es nicht. Und Weihnachten will man unter sich sein, das ist nun mal nicht anders. Heutzutage hat man wenig Zeit.« - »Hast du auch keine Zeit?« fragte Nele. »O doch. Ich kann warten, bis draußen die Laterne angezündet wird. Dann habe ich noch den Abend vor mir, und die Nacht.« Die alte Frau beugte sich vor. »Was hast du denn in deiner Tasche?« - »Geschenke«, sagte Nele, »nichts für dich.« »Es war trotzdem schön«, sagte die alte Frau, »dass du mich besucht hast. Man kann sich mal aus- sprechen. Das ist gut für unsereins.« Liebe Gemeinde, wo ist Bethlehem? Kann man da hingehen? Freilich! Quer über die Straße! So, nun weißt du's! Wer lebt denn da, quer über die Straße? Einer, mit dem ich seit langem kein Wort gesprochen habe - schon gar kein gutes. Da war einmal etwas: ein Wortwechsel, ein Streit aus nichtigem Anlaß. Naja, seitdem gehen wir uns halt aus dem Weg. - Und da drüben soll Bethlehem sein? Wer lebt denn da quer über die Straße? Die Familie, die neulich zugezogen ist. Noch immer haben sie ihren Antrittsbesuch bei uns nicht gemacht. Ob die das nicht wissen, daß man den hier bei uns... Schon manchesmal habe ich ja gedacht, ob ich nicht einfach einmal...? Aber - das ist doch gegen jede Sitte! - Und da drüben soll Bethlehem sein? Wer lebt denn da quer über die Straße? Ja, vielleicht auch die alte, einsame Frau - wie in der Ge- schichte. Die gibt's ja doch wirklich...und es kann wohl auch ein alter Mann sein, jemand der al- leinsteht. Einer, der selten Besuch hat. Ein Mensch, dem ein Gegenüber zum Reden fehlt. - Und da drüben soll Bethlehem sein? »Ich muß nach Bethlehem«, sagt Nele. »Dir was schenken lassen?«, fragt der Junge. »Nein«, sagt Nele. Sie hat die Geschenke vom letzten Jahr in der Tasche. Die will sie nach Bethlehem tragen, quer über die Straße. Sie will selbst etwas verschenken. Sie möchte ihre Gaben weitergeben. Wo sie das kann, ist für sie Bethlehem. Was sind unsere Geschenke vom letzten Jahr? - Wir haben unser Auskommen gehabt. Wir hatten Menschen, die uns lieben. Freude gab es da und dort. Allein waren wir eigentlich nie. Wir durften Güte und Liebe Gottes erfahren - oder wer schenkte uns das alles? Warum gehen wir damit nicht nach Bethlehem, quer über die Straße? Ob sie dort drüben den Frieden überhaupt annehmen, den ich bringe? Ob die neuen Nachbarn überhaupt Kontakt mit uns haben wollen? Ob der einsame Mensch im Haus gegenüber denn besucht werden möchte - und dann von mir? »Es war schön«, sagte die alte Frau, »daß du mich besucht hast. Man kann sich einmal aussprechen. Das ist gut für unsereins.« Wo ist Bethlehem? Kann man da hingehen? - Freilich! Quer über die Straße! So, jetzt wißt ihr's! Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit. - Ich glaube, das Wort kann zu Fleisch werden, wenn wir ihm unsere Hände, unsere Füße, unseren Mund und unsere guten Gedanken geben. (enthaltene Geschichte: Nele geht nach Bethlehem)