Predigt an Heiligabend - Christmette 24.12.96 Liebe Gemeinde in der Heiligen Nacht! Ich war dreizehn damals und Späher in einer christlichen Pfadfindergruppe. Und es war in genau die- ser Stunde zwischen 22 und 23 Uhr in der Heiligen Nacht irgendwo mitten im Taunus in der Nähe des Feldbergs. 15 Jungen waren wir in eben diesem Alter so um die 13 und ein Führer, der wird 24 gewesen sein. Die Christvesper und die Bescherung zu Hause in unseren Familien lag hinter uns. Jetzt waren wir mit der Straßenbahn aus Frankfurt hinausgefahren und wollten - wie jedes Jahr - un- sere "Waldweihnacht" haben. Waldweihnacht! - was für ein Ereignis! Die Vorfreude! Dahinter ver- blaßte alles, was in der Kirche und in unseren guten Stuben geboten wurde. Dafür verließen wir oh- ne Zögern unsere Geschenke, die wir gerade erst empfangen hatten. Waldweihnacht... Unsere Müt- ter und Väter erlaubten uns gerne, dabei zu sein - mitten in der Nacht. Denn wir waren nicht nur Pfadfinder, wir waren auch Konfirmanden in dieser Zeit. Unsere Eltern wußten, hinter der Pfadfin- dergruppe steht die Kirchengemeinde und der Pfarrer, da lernen sie nichts schlechtes, unsere Kinder. Und sie müssen wohl hinterher gespürt haben, welcher Eindruck und welche wichtigen Erfahrungen und Vorsätze von diesem Ereignis ausgingen: Waldweihnacht... Dabei war es viel einfacher und bescheidener als in unseren Stuben daheim: Irgendwo mitten im Wald wurden einer kleinen Fichte ein paar Kerzen aufgesteckt. Davor wurde eine Krippe gestellt und wir machten einen Kreis darum und hörten die Weihnachtsgeschichte, sangen ein paar Lieder schauten in die Kerzen und schwiegen...es war alles ein bißchen so wie jetzt hier... Orgelvorspiel zu: Ich steh an deiner Krippen hier... In diesem Jahr, von dem ich erzähle, hatte unser Gruppenführer gesagt: "Bringt einmal eure Weih- nachtswünsche mit, auf einem Zettel geschrieben." Und jetzt nach Singen, Hören und Schweigen sagte er: Nun legt eure Wunschzettel in die Krippe hinein. Und wir taten es. Dann trat er heran an die Krippe und nahm einen Zettel nach dem anderen heraus und las sie vor. Sehr langsam und sehr ernst in die Stille des Waldes hinein. Ich weiß noch heute viele dieser Wünsche, sie haben sich mir eingeprägt, wie alles andere, was in dieser Nacht noch geschah. Und mein eigener Herzenswunsch war ja auch dabei... Lied: Ich steh an deiner Krippen hier... 37, 1 - 4 (Wunschzettel aus der Krippe werden vorgelesen:) 1. Ich wünsche mir ein neues Fahrrad mit 10 Gängen. 2. Ich wünsche mir zu Weihnachten, daß ich Mathe endlich begreife und zu Ostern nicht sitzenblei- be. 3. Mein Wunsch zur Weihnacht ist, daß meine Eltern sich nicht scheiden lassen, sondern zusam- menbleiben und sich wieder liebhaben. 4. Ich wünsche mir mehr Taschengeld. 5. Ich wünsche mir zum Fest wenigstens einen Freund, auf den ich mich verlassen kann. 6. Ich wünsche mir, daß ich endlich mein eigenes Zimmer bekomme und ich nicht mehr die Kleider von meinem großen Bruder auftragen muß. So wurden damals 15 Wunschzettel gelesen. Und dann? Dann kam etwas, das uns erst enttäuschte, fast empörte und das später doch zu einer der wichtigsten Erfahrungen meiner Kindheit und Jugend wurde - und ich glaube, anderen ist das auch so gegangen: Unser Gruppenführer legte jetzt unsere Wünsche beiseite und zog einen Leinensack hervor, den er in die Krippe leerte. (Ein Leinensäckchen mit Zetteln wird in die Krippe entleert) Dann sagte er: Ich habe euch heute auch Wünsche mitgebracht. Es sind Wunschzettel von Menschen aus unserer Gemeinde. Unser Pfarrer hat sie aufgeschrieben, weil viele von denen, die diese Wün- sche haben, sie aus Bescheidenheit oder auch Stolz nicht aufgeschrieben hätten oder das gar nicht mehr könnten. Mich hat unser Pfarrer gebeten, auch euch diese Wünsche weiterzusagen. Und dann ging er daran, die Wunschzettel der Menschen unserer Kirchengemeinde einen nach dem anderen vorzulesen: 1. Ich bin seit ein paar Monaten im Altenheim. Mein Zimmer ist schön, hell und freundlich. Das Es- sen und die Pflege ist gut. Aber ich bin sehr einsam. Die Nächte sind ja noch erträglich, oft kann ich zwar nicht schlafen, aber ich habe doch Ruhe und kann mich an schönen Erinnerungen freuen. Die Tage aber sind schwer, sehr schwer und wollen immer nicht enden. Ich wünschte mir einen, der vielleicht einmal in der Woche zu mir kommt, mit mir spricht und vielleicht einen Kaffee mit mir trinkt. Ich wünsche mir, daß ich nicht nur in der Vergangenheit leben muß, sondern auch in der Ge- genwart. Ich wünsche mir jemand, der neben die Gedanken an früher auch einmal eine gute Erfah- rung von heute setzt. - Das ist mein einziger Wunsch. 2. Ich lebe seit einiger Zeit in der Kirchengemeinde - aber ich spüre deutlich: Ich gehöre nicht dazu. Und meine Frau und meine Kinder, die spüren es auch. Seit ich meine Arbeit verloren habe, ist es noch schlimmer geworden. Die Leute schneiden und meiden uns. Ich weiß, ich bin sicher sehr emp- findlich und nehme inzwischen auch manches, was gut gemeint ist, krumm. Aber alle scheelen Blicke sind gewiß keine Einbildung. Und alles, was die Leute hinter vorgehaltener Hand sagen, kann ich nicht verhört haben. Und warum sind die Kinder, die meine Jüngste neulich zum Geburtstag eingela- den hat - die alle zugesagt hatten! - dann alle nicht gekommen? Ich wünsche mir nur das eine: Daß uns die Leute in der Gemeinde nicht wie Asoziale und Schmarot- zer ansehen und behandeln, sondern wie Menschen. Das wäre mein größter Weihnachtswunsch! 3. Ich bin ein alter Mann. Ich wohne in einer kleinen Wohnung allein. Angehörige habe ich zwar, einen Sohn und seine Familie, aber sie wohnen sehr weit weg. Sie kommen nur mal auf der Durch- reise vorbei, wenn es in den Urlaub geht im Sommer. Mein bißchen Wäsche kann ich mir noch selbst machen. Mein Essen bekomme ich jeden Mittag gebracht. Für's Putzen habe ich jemand aus der Nachbarschaft. Ich wünschte mir einen, der mir mal eine Besorgung macht, mich hin und wieder mit dem Auto mitnimmt, wenn ich meine Rente hole oder auf einer Behörde zu tun habe. Wenn man so schlecht laufen kann wie ich, dann ist oft schon der Weg zum Bäcker zu weit. Ich wünschte mir ei- nen, der jeden Tag vielleicht ein paar Minuten für mich und meine kleinen Bedürfnisse Zeit findet und mich hie und da mitnimmt, wenn er sowieso eine Fahrt vorhat. Das ist mein Wunsch zu Weih- nachten. 4. Ich pflege seit einigen Jahren meine alte Mutter. Ich tue das auch gern und will mich nicht dar- über beklagen. Zweimal in der Woche kommt die Gemeindeschwester und macht ein paar Pflegear- beiten, die ich nicht machen kann. Auch mein Mann und meine Kinder helfen manchmal mit, wenn ich etwas nicht allein schaffe. - Soweit kann ich mich nicht beschweren. Aber es ist da noch etwas anderes, das wird mir zum immer größeren Problem - es fällt mir schwer, darüber zu sprechen: Ge- wiß, es ist meine Mutter. Aber irgendwann meinst du, dein eigenes Leben ginge nur noch außen an dir vorüber. Es ist, als lebtest du es gar nicht mehr selbst! Ja, du wirst gelebt von den Anforderungen der Pflege, vom Zeitplan, wann dies und das zu tun ist, von den Rufen der Mutter, von ihrem Stöh- nen und ihrer Unruhe in der Nacht, wenn sie nicht schlafen kann... Was ich mir wünsche? Jemand, der einmal nach mir fragt. Der von mir wissen will, wie es mir wirklich geht - hinter der Fassade, die ich als "gute Tochter, die ihre Mutter doch nicht im Stich läßt" aufgebaut habe. Es ist vieles sehr schwer, am schwersten aber ist, daß ich niemanden habe, der versteht, daß ich auch einmal all mei- nen Jammer hinauslassen möchte, einmal klagen möchte und vielleicht zornig werden möchte. Ich wünsche mir einen Menschen, der mich versteht, ohne mich zu verurteilen, einen der erträgt, daß ich auch einmal weine, ohne gleich zu sagen: Aber sie ist doch deine Mutter! - Mehr - oder sage ich bes- ser: weniger? - wünsche ich mir nicht. 5. Ich bin vor ein paar Jahren aus dem Osten hierhergekommen. Die Heimat, in der ich aufgewach- sen bin, liegt über 4000 km von hier. Immer noch fühle ich mich sehr fremd in Deutschland. Die Sprache verstehe ich zwar, aber nicht die Gedanken der Menschen und nicht, wie sie miteinander umgehen und nicht, wie sie ihren Glauben an Gott leben. Schon der Gottesdienst war so ganz an- ders, daheim... Und es haben viel mehr Menschen teilgenommen; nur die ganz Alten und Kranken sind weggeblieben. Und das, obwohl es gar nicht gern gesehen wurde, wenn wir uns versammelt ha- ben, um Gottesdienst zu feiern. Hier im Westen sind wir frei, auch in unserem Glauben. Wir können viel besser leben und müssen keine Angst haben. Aber die Leute verstehen uns nicht so richtig, das spüre ich oft und die herzliche Gemeinschaft, die wir früher kannten, die gibt es hier nicht mehr. Manchmal sehne ich mich nach zu Hause... Und ich weiß doch, daß meine Heimat jetzt hier ist und es kein zurück mehr geben wird. - Ich wünsche mir, daß nicht nur wir alle unsere Träume, unsere Art zu glauben und zu leben aufgeben müssen. Ich wünsche mir, daß auch die Menschen hier ein bißchen auf uns zukommen und vielleicht sehen, daß auch manches gut ist, was wir in den Westen mitbringen. 6. Ich will es klar aussprechen: Ich habe vor Jahren große Schuld auf mich geladen. Ich habe eini- gen Menschen leichtfertig großes Leid bereitet. - Ich habe das bereut und bin inzwischen auch mit denen wieder gut, denen ich das angetan habe. Sie tragen mir nichts mehr nach und ich bin dankbar dafür. Viele andere im Dorf aber können nicht vergeben. Sie legen mich immer noch auf das fest, was ich einmal getan habe - auch wenn es gar nicht gegen sie ging! Die Schuld, die mir die wirklich Geschädigten längst verziehen haben, wird mir von anderen immer noch vorgehalten - oder sie las- sen es mich doch fühlen, wie sie immer noch von mir denken. Manchmal meine ich, sie brauchten halt jemanden, über den sie sich erheben und auf den sie herabsehen können. Aber das ist so schwer, wenn man die Ketten der Schuld nicht endlich ganz abwerfen kann! Du fühlst dich immer noch wie in einem Gefängnis, aus dem du dich selbst nicht befreien kannst. - Ich wünsche mir so sehr, daß mich die Leute wieder ohne Vorbehalte und ohne hochgezogene Augenbrauen ansehen und mir wirklich glauben, daß ich eine andere geworden bin seit damals! Lied: Wann oft mein Herz im Leibe weint... 37, 5 Es waren damals noch viel mehr Wünsche. Auch ganz kurze, ganz praktische: Da wollte eine alte Frau einmal in der Woche die Kohlen aus dem Keller geholt haben. Da bat ein alter Mann darum, daß jemand ihm zwei-, dreimal in der Woche die Zeitung vorlas. Eine alleinstehende Mutter suchte einen, der jeden Montagabend Babysitter bei ihren Kindern machte, wenn sie den Schreibmaschinen- kurs besuchte. Wir 15 Jungen erfuhren jedenfalls damals bei der Waldweihnacht, daß nicht nur wir Wünsche hatten, sondern andere auch...und es schienen uns insgeheim die Wünsche der anderen fast größer, jeden- falls viel bedeutsamer als unsere eigenen. Trotzdem war es auch genau das, was uns nicht gefiel, ja, was uns ärgerte... Nahm man unsere Wünsche denn gar nicht ernst? Warum hatten wir sie denn auf- geschrieben und mitgebracht, wenn uns dann die Wunschzettel anderer vorgetragen wurden? Unser Pfadfinderführer hat dann jedem von uns einen dieser Wunschzettel gegeben. Nicht einen be- stimmten, sondern ganz wahllos, zufällig... Aber es war schon seltsam: Zu mir ist damals der Wunsch mit dem "Kohlen holen bei der alten Frau" gekommen. Schon Tage später war ich zum er- sten Mal bei ihr. In den Wintern der vier folgenden Jahre habe ich diesen Dienst für die alte Dame getan. Dann ist sie gestorben. Die Erfahrung allerdings, die mir das geschenkt hat, ist bis heute le- bendig geblieben: Anderen helfen, anderen beistehen und Freude machen, hilft auch immer uns selbst und macht auch uns Freude. Und noch etwas: Unsere eigenen Wünsche werden damit zwar nicht erfüllt, aber sie werden vielleicht kleiner, und wir entdecken über der Not oder den Sorgen anderer, daß unser eigener Wunsch doch vielleicht nicht ganz so wichtig ist, gemessen an dem, was manche Mitmenschen sich wünschen und sehr nötig brauchen. Orgelspiel - dabei Verteilung der Wunschzettel und des Lichts Die Predigt wurde geschrieben und gehalten von Pfr. Manfred Günther und Mitarbeiterinnen der Gemeinde predi185