Predigt zu Karfreitag - Passion bei uns - 14.4.1995 (1 - 4 Sprecher/innen:) Liebe Gemeinde! Dieser Tag und auch schon die ganze Woche sollten uns dazu dienen, das Leiden Jesu Christi zu bedenken, seinen Weg in Gebet und Andacht mitzugehen und zu verstehen, was es für uns heute be- deutet. Das gelingt nicht leicht! "Für uns heute...!?" Was sich da zwischen Palmsonntag und Kar- freitag ereignet hat, liegt in ferner Vergangenheit. 2000 Jahre ist das her, seit es geschah. Eine andere Zeit war das. Eine völlig andere Welt... Kann uns das überhaupt noch ansprechen? Ja, wenn wir nun einmal versuchten, das Geschehen zwischen Palmsonntag und Karfreitag in unse- re Zeit zu übertragen? Dann vielleicht. Geht nicht, meinen Sie? Dürfen wir auch gar nicht, denken einige? Lassen Sie's uns doch einmal probieren. Was uns hilft, die Bedeutung des Leidens Jesu für uns zu verstehen, kann nicht schlecht sein! Daß uns die Sache nun nicht zu nahe kommt, so daß sich jemand gekränkt fühlt, lassen wir die Er- eignisse nicht in unserem Dorf spielen. Wir verlegen sie an einen erfundenen Ort. Er heißt: Überall. Ganz kurz müssen wir uns natürlich noch vergegenwärtigen, was da vor 2000 Jahren zwischen Palmsonntag und Karfreitag alles vorgefallen ist: Die erste Station der Ereignisse heißt: Einzug in Jerusalem. Jesus reitet auf einem Esel. Das Volk jubelt und ruft Hosianna. Es sind dieselben Leute, die wenig später schreien werden: Ans Kreuz mit ihm! Dann die zweite Station: Gethsemane. Jesus betet im Garten. Er hat furchtbare Angst vor dem Lei- den. Seine Jünger aber lassen ihn allein. Sie schlafen. Die dritte Station: Die Verhaftung durch den Verrat eines Freundes. Alle Jünger machen sich da- von. Jetzt steht keiner mehr zu Jesus. Wenigstens Petrus folgt in einigem Abstand. Die vierte Station: Im Hof vor dem Haus des Hohenpriesters. Petrus wärmt sich am Feuer. Sie sprechen ihn an: Du warst doch auch bei diesem Jesus? Er leugnet. Dreimal fragen sie. Dreimal lügt er. Dann kräht der Hahn. Die fünfte Station: Jesus trägt sein Kreuz. Niemand packt zu. Keiner hilft. Er bricht zusammen. Es ist zu schwer für ihn. Die sechste Station: Jesus wird gekreuzigt. Sie schauen von ferne. Selbst die Vertrauten sind nur Zuschauer. So einsam war Jesus nie. "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen." - Gemeinsame Liedstrophe: EG 88,1 Die sechs Stationen des Leidens Jesu sollen nun in Überall spielen?! In unserer Zeit? Heute? Wie soll das gehen? Beginnen wir mit der ersten Station: Einzug in Jerusalem. Palmsonntag in Überall. Die Konfirman- den werden eingesegnet. Sehr feierlich. Schöne Kleider, Blumenschmuck auf dem Altar, Schleifen und Maiglöckchen unter den Kragen. Laut tönen die Lieder: Jesu geh voran, auf der Lebensbahn... Der Pfarrer fragt die Jungen und Mädchen: "Wollt ihr euch zur Gemeinde halten, die aus Wort und Sakrament lebt? Möchtet ihr nun selbst bei Jesus Christus bleiben, wie es eure Eltern bei eurer Taufe versprochen haben?" Alle rufen im Chor: Ja, mit Gottes Hilfe! Hosianna! Wird es dabei bleiben? Was werden dieselben Jungen und Mädchen nach ein paar Wochen oder Monaten rufen? Hosianna oder... Die zweite Station: Gethsemane. Irgendein Sonntagmorgen in Überall. Gottesdienst um 9.30/10.30 Uhr. Die Glocken rufen zur Kirche. Aber nur ein Häuflein sitzt da. Nur wenige nehmen sich die Zeit zum Hören auf das Wort, zum Loben, zum Beten... Die wichtigste Stunde der Woche - die mei- sten Bänke sind leer. Die wichtigste Sache für die Christen - sie scheinen es vergessen zu haben. Doch wo sind sie, die Christen? Viele schlafen noch. Einige sitzen schon vor den Fernseher. Eine hängt Wäsche auf, einer wäscht den Wagen, kaum einen Steinwurf vom Kirchturm entfernt. Die dritte Station: Der Verrat. Vor einem Lokal in Überall. Ein junger Mann hat sich geärgert. Er hat getrunken. Nun will er sich Luft machen. Er pöbelt einen Gast an, der gerade nach Hause gehen will. Ein Handgemenge entsteht, schließlich eine Schlägerei, an der sich noch andere beteiligen. Ei- ner der vorübergeht beobachtet das Ganze. Er sieht, wie einer schwerverletzt zu Boden geht. Er alarmiert die Polizei. Als die Beamten eintreffen, liegt nur noch der Verletzte da. Der Passant kann den Täter beschreiben, er wird auch gefunden, hat aber ein Alibi, wie sich herausstellt. Überhaupt hat nie eine Schlägerei stattgefunden. Die Leute von Überall halten zusammen. Der Passant nämlich ist nicht von hier, und er wohnt im Neubaugebiet. Dort soll er bleiben. Was mischt er sich ein. Er sagte zwar die Wahrheit, aber alle machen Lüge daraus. Keiner wird je wieder ein Wort mit ihm wechseln. Die vierte Station: Die Verleugnung. Ein Abend in Überall. Ein junger Mann will in den Bibel- kreis. Er muß über die Brücke, wenn er zum Gemeindehaus will. Dort stehen Jugendliche, eine ganze Gruppe. Wie kommt er da vorbei, ohne daß sie dumme Fragen stellen? Erst einmal läßt er die Bibel unterm Jackett verschwinden. Trotzdem: Einer spricht ihn an: Na, wo geht's hin, in der schicken Kluft? Er murmelt etwas von einem Besuch bei der Tante. Fast ist er vorbei, da meint ein anderer: Sag mal, stimmt das, du gehst jetzt auch in die Bibelstunde? Der Junge fühlt, wie ihm das Blut in die Wangen schießt, als er jetzt sagt: Ich doch nicht, was soll ich denn da?! Irgendwo in der Nähe kräht ein Hahn. Die fünfte Station: Jesus trägt sein Kreuz. Alltagsszene in Überall. In einem Hof spielen Kinder. Ei- ne Frau kehrt die Gasse. Auf der Straße fahren Autos. Überall Leben. Zwei Männer sind sich gerade begegnet und stehengeblieben. Sie sprechen miteinander. Ganz nah bei ihnen hinter einer Fenster- scheibe ein Gesicht. Eine alte Frau, stark gehbehindert. Heraus kommt sie nicht mehr. So sitzt sie tagein tagaus an diesem Fenster, blickt hinaus und wartet, wartet...worauf eigentlich? Auf die Nach- barsfrau, die einmal am Tag nach ihr sieht? Auf einen, der ihre scheußliche Einsamkeit durchbricht? Auf eine, die Zeit hat für ihre Not? Sie wartet umsonst. Es wird keiner kommen der mitträgt... Und die sechste Station: Jesus wird gekreuzigt. An jedem Tag in Überall. Worum dreht sich das Leben im Ort? Da werden schmucke Häuser gebaut, mit schicken Marmortreppen und gefälligem Grün davor. Da spart man sich das eichene Wohnzimmer vom Mund ab, sehr nobel und sehr teuer. Da ist äußerlich alles schön anzusehen und in Ordnung. - Und worüber spricht man im Ort? Über die Preise bei Öl und Baustoffen. Über die letzte Schlappe des Vereins. Über die Leute. Und über's Fernsehen und das miese Programm. Wenn einer fragte: Wo sprecht ihr eigentlich mal über Jesus Christus? Über seine Sache? Verlegenheit würde sich breit machen in Überall. Es ist, als wäre er nicht für uns gestorben, als hätte er nie für uns gelitten, als wäre seine Auferstehung ganz ohne Bedeutung für uns...in Überall! Oder wo wird das gelebt? Weitergesagt und bekannt? Ach ja, in der Kirche am Sonntag und bei der Beerdigung.... Und sonst? In den 7 Tagen der Woche? In den 12 Monaten des Jahres? In den 70 oder 80 Jahren deines Lebens? - Gemeinsame Liedstrophen: EG 88, 2 + 3 Passion in Überall. So wie eben erzählt, könnte das heute auch bei uns aussehen. Ich glaube: So sieht es aus. - Ziemlich deprimierend das alles. Wenig hoffnungsvoll. Und so bliebe es, wenn es da nicht noch die 7. Station gäbe: Ostern, das neue Leben, die Auferstehung! Heute wie damals will sie uns gewiß machen: Alle Stationen des Leids, alle Ereignisse und Lebensumstände, die uns unterkrie- gen wollen und zu schaffen machen, sind nicht das letzte. Wir können darüber hinaus gelangen durch Jesus Christus. Für heute aber wollen wir beim Karfreitag bleiben. Vor das neue Leben hat Gott uns die Reue und seine Vergebung gesetzt. Wenn uns die Stationen seines Leidens, die wir heute mitgegangen sind, dazu anspornten, in uns zu gehen, uns zu besinnen und uns zu ändern, dann wäre sein Leiden nicht sinnlos gewesen - in Überall und anderswo!