Predigt zur Christmette, am 24.12.1995 - 22 Uhr Textlesung: Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er seine Jünger und ließ ihn fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen an- dern warten? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Taube hören, und den Armen wird die frohe Botschaft gepredigt. Matth. 11, 2 - 6 Liebe Gemeinde in der Christnacht! Sie werden eben gedacht haben: Das ist aber keine weihnachtliche Geschichte, die von Johannes im Gefängnis. Das mag stimmen. Aber sie ist eine Geschichte, die sehr genau mit unseren Gefühlen heute abend zu tun hat. Denn gefangen sind wir auch. Der eine in dem ewig gleichen Trott seines Lebens. Die andere in der unvergebenen Schuld, die sie seit Jahren quält. Einer hinter den Gittern seiner Angst vor der Zukunft. Eine in den vielen gestörten Beziehungen - vielleicht in der Familie oder zu den Nachbarn. Wieder einer ist wie eingekerkert in tausend Fragen, auf die er keine Antwort weiß. Und viele Menschen unserer Tage sehen einfach keinen Sinn mehr in dieser Spanne Zeit zwi- schen Geburt und Tod. Gefangene sind wir - wie Johannes. Und das ist auch unsere Frage - besonders in dieser Heiligen Nacht: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten? Johannes wünschte sich einen, der ihn aus dem Kerker befreit, dem aus Eisen und Stein. Mächtig sollte er sein. Gewaltig und mit der alles bezwin- genden Kraft Gottes. Was er sieht und erlebt, ist etwas ganz anderes: Einen ohnmächtigen Mann, der in einem Viehtrog begonnen hatte und für seine Herrschaft allein auf Gott und das Wort ver- traute. So fragt er ihn - und wir hören schon heraus, daß er die Antwort weiß: Bist du es, der da kommen soll, Jesus? Und uns geht es genau so: Auch wir zweifeln doch, daß es dieses Kind in der Krippe ist, das uns von Gott herkommt, das unser Leben in Ordnung bringen und den Sinn in unsere Zeit geben kann, nach dem wir uns doch so sehnen. Es ist ja so ohnmächtig, dieses Kind. Es ist ja selbst so schwach. Es muß ja noch in der ersten Nacht fliehen vor dem, der wirklich Gewalt hat zu verfolgen und zu zer- stören. Ja, auch wir fragen: Bist du es, Jesus, den ich mir ersehne? Oder muß ich auf einen anderen warten? Was bekommt Johannes zur Antwort? Blinde sehen und Lahme gehen, Taube hören und den Armen wird die frohe Botschaft gepredigt. Ob er das verstanden hat? Er wollte doch hören, wer Jesus ist. Und er erfährt, was, seit Jesus in der Welt ist, geschieht. Ob er sich nicht abgespeist fühlt? Und wir? Wer bist du, Jesus, fragen wir und hören: Schau hin, was du in dieser Zeit erfahren und sehen kannst. Abgespeist - auch wir. Und es stimmt ja nicht einmal! Wo sehen denn die Blinden? Wo gehen die Lahmen? Die Tauben, die wieder hören, sind uns noch nicht begegnet. Allenfalls ge- predigt wird auch noch in unseren Tagen. Aber wer hört es, wem hilft es und wen verändert es? Musik In Gießen auf dem Weihnachtsmarkt war es, abends, vor Tagen erst, da lief eine Frau umher, fast verzweifelt, sie fand nicht mehr zum Parkplatz, auf den sie ihr Auto gestellt hatte. Die zwei kleinen Kinder an ihren Händen quengelten, sie wollten nach Hause. Die Frau fragte einige Menschen im Trubel, keiner konnte oder mochte ihr helfen. Überall Schulterzucken und ganz einfach der Mangel an Interesse. Man wollte die weihnachtliche Stimmung genießen, sich den Reizen für den Gaumen und für's Auge hingeben, den glitzernden Lichtern, dem Glanz... Irgendwie war sie lästig, die Mutter mit ihren Kindern, die da mit schon weinerlicher Stimme nach dem Weg fragte. Schließlich sprach die Frau einer an, der hinter ihr stand. "Ich kann ihnen sagen, wie sie diesen Parkplatz finden, den sie suchen!" Als sie sich herumdrehte schaute sie in das Gesicht eines Mannes mir dunkler Brille. In der rechten Hand pendelte ein weißes Stöckchen. "Wenn sie wollen, bringe ich sie hin, es ist mein tägli- cher Spaziergang." - Blinde sehen... Es scheinen nicht die Augen gemeint zu sein, die wir im Gesicht haben. "Man sieht nur mit dem Herzen richtig, hat einer gesagt. Ob das nicht wahr ist? Musik Eine alte Frau im Krankenhaus lernt einen Jungen kennen, der auf der Station die Monate seines Zi- vildienstes leistet. Ein täglicher, schöner Kontakt ergibt sich, wie von einer Großmutter zu ihrem Enkel. Einmal hört die alte Frau aus den Worten des Jungen heraus, daß irgend etwas Schlimmes geschehen sein muß. Der sonst so fröhliche junge Mann, erscheint plötzlich, von einem Tag auf den anderen, traurig und in sich gekehrt. Eine Krankenschwester gibt Auskunft: Der Junge habe eine Beziehung zu einem Mädchen gehabt, die sei gerade zerbrochen. Eine Nachbarskinderfreundschaft schon aus der Schulzeit. Sie hätten noch in diesem Jahr heiraten wollen. Die alte Frau - nach Hause entlassen - ruft täglich in der Mittagszeit in der Klinik an. Sie spricht mit dem Jungen, erkundigt sich nach allem, was ihn beschäftigt. Nach und nach beginnt er, auch über das zu reden, was ihm so zu- setzt. Die Alte hört zu und er fühlt, daß sie ihn versteht und in ihren Gedanken teilnimmt an seinem Leben. Über ein Vierteljahr geht das so. Täglich der Anruf der alten Frau, auf den der Junge bald schon wartet. Irgendwann gesteht er ihr: "Wenn sie nicht gewesen wären, ich hätte meinem Leben wohl damals ein Ende gemacht." - Taube hören... Auch beim Hören kommt es nicht auf die Ohren an. Es ist das Herz, das hört - oder sich verschließt! Musik Eine Straße, eine Gasse - vielleicht in unserem Dorf. Zwei Häuser, vielleicht nebeneinander oder ge- genüber... Jahrzehntelang herrschte Feindschaft zwischen den Nachbarn. Schon zuzeiten der Vorfah- ren hat es da einmal etwas gegeben...die jungen Leute in den Häusern wüßten gar nicht genau, was es eigentlich war. Aber der Argwohn und die Ablehnung wird weitergegeben. Niemals wäre jemand aus der einen Familie auch nur auf den Hof oder gar ins Haus der anderen Familie gegangen. Seit drei Generationen ging das nun schon und das wäre auch so weitergegangen, wenn nicht... - Denn einen gibt es, in einer dieser beiden Familien, der hat jetzt in diesen Adventstagen zu sich ge- sagt: "Ich kann mich nicht mehr darüber freuen, daß Jesus mein Bruder wird und Bruder aller Men- schen, wenn ich mit den Geschwistern in Streit lebe. Noch dazu über eine Sache, die vor 50 oder 60 Jahren passiert ist." Und dann hat er sich aufgemacht, über die Straße oder die Gasse entlang und ist auf den Hof der Nachbarn getreten und dann in ihr Haus. Und er hat die Hand hingestreckt und ge- sagt: "Wir wollen endlich vergessen. Wir sind Nachbarn und wir wollen es jetzt werden." Das hat keinen Widerspruch geduldet. Und keiner hatte einen Einwand. Im Gegenteil. Alle waren froh und glücklich, daß die Last der Feindschaft endlich von ihnen genommen wurde. Demnächst wollen bei- de Familien ein Fest feiern. - Lahme gehen... Das Herz und nichts anderes setzt uns in Bewegung oder hält uns an der Stelle fest. Musik Den Armen wird die frohe Botschaft gepredigt... Die frohe Botschaft will das Herz erreichen, da- mals schon bis heute. Sie bleibt leer und unerfüllt, wenn unser Herz nicht sieht. Da mögen unsere Augen scharf sein, daß wir keine Brille brauchen. Das Evangelium verhallt ohne Echo, wenn unser Herz nicht hört, was nottut und wer uns braucht. Da mag unser Ohr so fein sein sein, daß es eine Stecknadel fallen hören kann. Die gute Nachricht von Gottes Liebe zu allen Menschen setzt nichts in Gang, wenn unser Herz es nicht will. Da können unsere Beine noch so kräftig sein und gesund. Die frohe Botschaft sucht unsere Herzen! Sie kommt zu uns, wie das Gefängnis auch heißt, in dem wir sitzen. Und sie macht uns frei. Heute abend geschieht das, jetzt, in dieser freundlichen Nacht. Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten? So hat Johannes und so haben wir gefragt. Jesus antwortet uns: schau hin, was geschieht: Blinde sehen und Lahme gehen, Taube hören und den Armen wird die frohe Botschaft gepredigt. Und wahrhaftig, das gibt es ja noch in unserer Welt! Und vielleicht spüren wir ja heute abend, daß in der Antwort Jesu auch eine Frage an uns liegt: "Willst du nicht auch sehend werden, wo du bisher blind gewesen bist? Willst du nicht hören, wo du taub warst und stumpf. Und willst du nicht auch gehen, hingehen zu dem, der auf dich wartet, auf deine Reue vielleicht oder dein Verzeihen, auf dei- ne Hilfe oder deine Begleitung oder auch nur dein Wort... So kommst du frei aus dem ewig gleichen Trott deines Lebens. So öffnet sich das Gefängnis der unvergebenen Schuld, die dich seit Jahren quält. So zerbrechen die Gitter deiner Angst vor der Zukunft. So werden die gestörten Beziehungen - vielleicht in der Familie oder zu den Nachbarn - heil. Deine tausend Fragen, bekommen eine Ant- wort und Sinn kehrt ein in die Spanne Zeit zwischen Geburt und Tod, die Gott dir geschenkt hat. In der Krippe liegt der, auf den du so gewartet hast! Von der Krippe her kommt dir die Kraft! Die Predigt wurde gehalten von Pfr. Manfred Günther, Lohgasse 11, 35325 Mücke/Groß-Eichen predi139