Predigt zur Kirchweih - 18.06.2002 (Kirchweihdienstag) Liebe Gemeinde! Wenn Pfingsten der Geburtstag der Kirche Jesu Christi aus dem Geist Gottes ist - dann feiern wir heute das Wiegenfest unserer Kirche hier im Dorf. Heute - in diesem Jahr genau vor 255 Jahren - wurde diese Kirche eingeweiht und ihrer Bestimmung übergeben: Am Dienstag vor Johannis im Jahr 1747. Seitdem werden in diesem Gebäude Gottesdienste gefeiert, Traupaare treten vor den Altar, Kinder werden zur Taufe gebracht und Verstorbenen wird die Grabrede gehalten. Seitdem hat dieses Gotteshaus tausendfach Freude und Leid gesehen; von dieser Kanzel ist tausendfach gepredigt wor- den und Tausende von Gebeten sind aus unseren Herzen hinaufgestiegen zu Gott. Hier in dieser Kir- che wurde für Bewahrung gedankt, hier wurde Trost und Kraft erfahren, hier geschah Wegweisung und Zuspruch, von hier ging Segen und Hilfe mit uns. An all das denken wir heute - am Geburtstag unserer Kirche - und es wird uns ein wenig wehmütig ums Herz, nicht wahr? - Aber warum eigentlich? Weil es uns - wenn wir selbst unseren Geburtstag haben - auch immer so ist? - Das erklärt ja wohl noch nichts! So ein Fest ist doch etwas Schönes: Liebe Gäste, gute Gespräche, gemeinsames Essen, frohes Feiern... Warum also Wehmut am Geburtstag unserer Kirche? Ich glaube deshalb: Weil heute so vieles Anlaß zu Furcht und Resignation gibt! Das Krisengerede überall, jedenfalls da, wo von der "Kirche" überhaupt noch geredet wird. Die wenigen jungen Leute, die noch Theologie studieren. Die ganz konkrete Bedrohung auch für unsere Gemeinde: Halbierung der Stelle, die unweigerlich kommen und unsere Pfarrei unattraktiv machen wird und damit auf Jahre unbesetzbar. Die vielen Vakanzen, die es schon gibt - besonders in den ländlichen Regionen - und ja auch gleich nebenan in Bobenhausen: Seit drei Jahren haben fünf Dörfer jetzt schon keinen Pfarrer! Die vielen Austritte aus der Kirche - besonders in den Städten! Der schlechte Besuch der Gottes- dienste - auch schon im Vogelsberg, ganz in der Nähe, ja, selbst bei uns ist es seit dem 250. Jubiläum dieser Kirche um 25% abwärts gegangen! Die allgemeine Gottlosigkeit heutzutage. Was soll denn werden mit Gottes Kirche, mit seiner Sache...wenn immer weniger Menschen sich für sie interessie- ren? Liebe Gemeinde, sind wir deshalb so bedrückt am Geburtstag unserer Kirche? - Dann meine Rück- fragen - und die werden Sie sicher überraschen: Was haben die Austritte in Frankfurt oder Berlin mit uns zu tun? Wird mein Glaube an den Herrn Jesus Christus davon erschüttert, daß Herr Meier in Bensheim an der Bergstraße neulich der Kirche den Rücken gekehrt hat? Nächste Frage: Gehen Sie demnächst weniger zu den Gottesdiensten, wenn ich Ihnen heute sage, daß in X-Dorf - nur 6 Kilo- meter von hier - sonntäglich schon heute nur die Konfirmanden und drei alte Frauen unter der Kan- zel sitzen? Und noch eine letzte Frage: Meinen Sie wirklich, die Menschen wollten in Zukunft das Wort Gottes nicht mehr hören? Glauben Sie, das Wort der Vergebung, der Gnade, der Liebe, ja, des Lebens überhaupt, könnte bald keine Ohren mehr finden - vorausgesetzt die Verkündiger bleiben ihm treu und sagen es redlich, rein und klar weiter und vorausgesetzt, es gibt - wenn vielleicht auch einmal nicht mehr bei uns, so doch in einem Nachbardorf - noch jede Woche Gottesdienst und einen überzeugten Prediger des Evangeliums? Glauben Sie wirklich, das Wort Gottes, das Felsen zer- schmeißt, das bei uns 255 Jahre lang Menschen getröstet und gemahnt, ermutigt und zurechtge- bracht hat, würde bald verstummen und nichts mehr bewegen? Warum also diese Wehmut - heute? - Ich glaube, weil uns dieser Tag auch etwas davon bewußt macht, wie viel wir selbst uns immer wieder in Glaubenssachen vorgenommen haben und wie wenig daraus geworden ist. Wir wollten vielleicht das Leben viel mehr an Jesus ausrichten, in der Bibel wollten wir lesen und jeden Tag mit einem Gebet anfangen und beschließen. An Silvester haben wir diesen Vorsatz gefaßt - vor knapp einem halben Jahr erst. Was ist davon geblieben? Was konnten wir verwirklichen? - Ich denke, hier sind wir ganz nah am wahren Grund unserer Wehmut! Daß wir selbst nämlich die Chancen und Möglichkeiten unserer Kirche nicht mehr sehen! Daß wir selbst uns in den Bann der Resignation und Entmutigung schlagen lassen. Daß wir selbst unsere guten Pläne und Vorsätze immer so rasch vergessen. Daß wir selbst also die Wehmut über uns siegen lassen. So sind also wir selbst - so seltsam das klingt - der Grund, warum wir allen Grund haben, wehmütig zu sein! Aber genug der klugen Sätze! Lassen Sie uns ganz praktisch etwas gegen unsere trüben Ge- danken tun. Ja, jetzt! Mitten in dieser Predigt. Ich möchte mit Ihnen die 3. und die 4. Strophe des Liedes singen, das wir vorhin begonnen haben. Und lassen Sie uns einmal - mehr als sonst - auf den Text achten! Lied: EG 256,3+4 (O Herr Jesu, Ehrenkönig...) Liebe Gemeinde, "die Ernt ist groß, der Schnitter wenig", "Millionen, die im Todesschatten woh- nen", solche Gedanken könnten uns wohl einmal absehen lassen von uns selbst. Sie könnten uns - am Geburtstag unserer Kirche - einmal hinschauen lassen auf die anderen Menschen, die mit uns in die- sem Dorf leben. Was sehen wir da? "Jedes Häuschen hat sein Kreuzchen, jedes Dach sein Ach." Das sehen wir! Aber gar nicht nur so allgemein und sozusagen aus der Ferne: Wir erkennen in den Häu- sern und unter den Dächern ganz konkrete Menschen. Unseren Nachbarn, meinen guten Freund, die Gote, mein Enkelkind, meinen Vater, den Kollegen, den Kameraden, die Kameradin aus dem Ver- ein... Und schauen wir nur genau hin: Diese Menschen sind es, die das Kreuz tragen und aus deren Mund sich ein seufzendes "Ach" entringt. Und wir wissen ganz genau, warum! Wir kennen schließ- lich die Geschichte dieser Menschen. Auf dem Dorf achtet man ja noch aufeinander und bekommt mit, wie und warum sich einer so oder so entwickelt. Da gibt es gläubige Menschen, die vom Schicksal hart geprüft wurden. Da gibt es Ungläubige, die ohne Sinn und Ziel durch ihr Leben ge- hen. Da sind Leute, die seelisch krank geworden sind über ihren schlimmen Familienverhältnissen. Und da wachsen Kinder auf, die nie eine Chance für ein glückliches Leben haben...haben werden? - Und da sind wir: Gewiß auch oft geplagt, nicht immer froh und schon gar nicht allezeit glücklich, aber: Menschen, die wissen, wer ihr Herr ist, die mit ihm Gutes erfahren haben, die seine Kraft schon gespürt haben, die sein Wort vernehmen, die Hoffnung auf eine ewige, herrliche Zukunft be- seelt, die Gott vertrauen, daß er sie durch alle Höhen und Tiefen des Lebens bringen wird...ans Ziel, ins Licht... Menschen auch, die von ihrer Kirche etwas erwarten, denen der Gottesdienst etwas be- deutet, die hier ein Stück Zuhause haben, denen das Gemeindeleben wichtig ist und die in irgendei- ner Weise daran teilnehmen. Wenn es nicht so wäre, hätten wir uns heute hier eingestellt - am Ge- burtstag unserer Kirche? - Aber statt nun nach Kräften ans Werk zu gehen, die Arbeit in der Ernte aufzunehmen, machen wir uns trübe Gedanken. Statt nun denen "im Todesschatten" weiterzusagen, was uns froh und zuversichtlich gemacht hat, geben wir uns der Resignation hin. Statt "zum Mahl in des Vaters Haus" einzuladen, wen wir nur erreichen können, denken wir mit Wehmut über die Zu- kunft der Kirche nach. - Warum ist das nur so? Wir werden doch als "treue Zeugen" gesucht, die ihren Mund aufmachen und sagen, warum sie gläubige Menschen sind. Wir werden als Boten gebraucht, die rufen und werben: Kommt doch zu Gott; er macht euch frei; er schenkt euch Hoffnung, Kraft und Hilfe! Da sind Streiter nötig, die hin- ter ihrem Herrn herziehen und anderen ein gutes Beispiel und Vorbild sind. Und was tun wir? Wir lamentieren über die schlimme Zeit! Wir klagen über den Einfluß des Fernsehens, den Verfall der Sitten, die Zerstörung der Grundwerte. Wir erregen uns über die Austritte aus der Kirche - anders- wo. Wir befürchten, unsere Gemeinde könnte kaputtgehen, wenn sie nur noch mit halber Stelle ver- sorgt wird. Wir meinen - allen Ernstes - die Kirche Jesu Christi könnte die Zukunft nicht bestehen - und nennen ihn doch auf der anderen Seite: den Herrn! Wie paßt denn das zusammen? Wie reimt sich denn unsere Resignation zu unserer Glaubensgewißheit? Wie kann ich denn Wehmut mit meiner Hoffnung verbinden? - Überhaupt nicht! Es geht nicht! Zum einen werde ich keine Zeit und keinen Gedanken mehr daran verschwenden können, "wehmütig" zu sein, wenn ich mich endlich ganz als Arbeiter/In in die Ernte Gottes begebe! Da ist soviel zu tun! Da wartet soviel Arbeit an den Men- schen auf mich! Und da werde ich ganz gewiß auch so viel Ermutigung erfahren, soviel Sinn, Freude und Dank, daß ich gar keine Zeit und Lust mehr habe, mich meinen trüben Gedanken hinzugeben! Denn es steht eben der "Herr" hinter der Botschaft, die ich ausrichte. Es ist eben der "Ehrenkönig", dem ich diene, wenn ich anderen seine Liebe bringe. Es ist der ewige Gott, der "Vater", in dessen Haus ich die Menschen einlade! Das hat doch Verheißung! Damit bin ich niemals allein! Und das eben ist das andere: Der "Herr" selbst ist mit uns, wenn wir seine Sache nach Kräften vo- rantreiben. Er schenkt uns die Stärke, die Geduld, die rechten Worte... Was wir nie für möglich gehalten hätten, kann geschehen, wenn wir's - mit Gottes Hilfe! - versuchen! Selbst "Wunder" sind möglich dem, der glaubt, daß durch ihn hindurch der Herr selbst an den Menschen wirkt und arbei- tet. Wir handeln im Auftrag! Und der Auftraggeber ist immer mit uns, neben uns! Liebe Gemeinde, "einer ist's an dem wir hangen". Er sucht Leute für seine "Ernte", Knechte und Mägde, die zu seinem Mahl einladen, die zu denen "im Todesschatten" gehen. Dazu wollte er seine Kirche haben, daß die Menschen in ihr solche Boten, Mägde und Knechte sind. Dafür zu ermutigen, zu stärken und zuzurüsten gibt es in unserem Dorf seit 255 Jahren dieses Gotteshaus. An den Auf- gaben in der Ernte hat sich nichts verändert. Und der Todesschatten liegt auch immer noch über vie- len Menschen und Häusern. Aber da hinein sind wir gesandt. Und das hat Verheißung, in diesem Erntefeld zu arbeiten! Ich wünsche uns heute - zum Geburtstag unserer Kirche - viel Kraft, daß wir aus der Wehmut und Resignation herauskommen und in Jesu Namen mit der Arbeit beginnen! - Sie wird gesegnet sein, dafür steht uns der Herr der Ernte selbst ein!