Predigt zur Kirchweih - 20.6.1997 Textlesung: Psalm 84, 6-8 Wohl denen, die in deinem Hause wohnen; die loben dich immerdar. Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln! Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen. Sie gehen von einer Kraft zur andern und schauen den wahren Gott in Zion. Liebe Gemeinde! Auf einem Bahnsteig der U-Bahn in Frankfurt war das neulich. Ich wollte gerade die Treppe betreten, die von der Fußgängerebene nach unten zu den Zügen führt. Der Zug mußte jeden Moment einlaufen. Die Treppe herauf stolperte ein Betrunkener, die Bierflasche in der Hand. Irgend etwas redete er vor sich hin. Dann wankte er auf mich zu, blieb vor mir stehen, der Bierdunst schlug mir ins Gesicht. Mit seiner Flasche tippte er gegen meine Brust und fragte: "GIaubst du an Gott?" Darauf war ich nicht gefaßt. Nachmittags um 17.10 Uhr auf einem U-Bahnsteig. Und der Zug konnte jeden Augenblick einlaufen. Ich hatte kein Bedürfnis, mit einem fremden Betrunkenen zu sprechen. Und dann diese Frage. Sollte das ein Witz sein? Aber er war noch gar nicht fertig. Bevor ich antworten konnte, fügte er eine zweite Frage an: "Gehst du in die Kirche?" Was mir da durch den Kopf ging? Sieht man mir den Pfarrer also doch an? Haben Betrunkene vielleicht doch diesen fast hellsichtigen Sinn anderen Menschen gegenüber, den man ihnen manchmal nachsagt? Aber ganz deutlich: Ich wollte nicht antworten. Es war mir einfach zu peinlich. Was sollte ich darüber auch mit einem Mann reden, den ich wahrscheinlich mein Leben lang nie mehr sehen würde? Aber sein Gesicht war mir so nahe, daß ich ihm nicht ausweichen konnte. Ich antwortete dann doch, unüberlegt, spontan. Ich sagte nur: "....ja!" Und eigentlich wollte ich dann noch weiterreden, ihm erklären, wie ich zu dieser Antwort komme. Wahrscheinlich hatte ich auch Angst vor seiner Reaktion, daß er antworten würde: "Na, dann zeig mir Gott doch mal!" Oder: "So, in die Kirche gehst du, du mußt es ja auch nötig haben..." Aber er wollte gar keine Erklärung. Und er wollte auch nichts Zorniges oder Abfälliges loswerden. Er sagte nur - und das überraschte mich zum zweitenmal und hat mich bis heute nicht mehr losgelassen: "Mensch, du hast's gut!" - Erst in diesem Augenblick sah ich ihn richtig. Sein Gesicht war müde, unendlich traurig, kaputt sah er aus. Weiter hat er nichts gesagt. Sekunden später verschwand er in der Menge der Pendler und Passanten. Ich konnte - sehr in Gedanken - hinuntergehen auf den Bahnsteig. Meinen Zug habe ich noch bekommen. Warum ich Ihnen das erzähle, liebe Gemeinde? Warum an Kirchweih? Weil ich meine, dieser betrunkene Mann hat es auf den Punkt gebracht. Er hat angesprochen, was das wichtigste ist, wenn wir Kirchweih bewußt feiern wollen. Er hat ausgesprochen, was auch den Kern unserer Gedanken und Gefühle beschreibt, wenn wir diesen Tag mit dem Herzen und mit echter innerer Beteiligung begehen: "Wir haben es gut!" Denn es ist gut und unendlich wichtig, wenn wir an Gott glauben können. Und es kann schon das Leben tragen und erfüllen, wenn wir "in die Kirche gehen" und überhaupt eine Verbindung mit ihr und mit unserer Gemeinde haben. Und es ist gut, wenn wir das nicht vergessen, vielmehr - wenigstens an Kirchweih - darüber ins Nachdenken, Staunen und vor allem Danken kommen. Was ich jetzt sage, hören Sie bitte einmal als Worte eines Mitchristen, nicht Ihres Pfarrers. Ich bin weit davon entfernt, hier irgendetwas wie Selbstbeweihräucherung zu treiben. Da haben mich die traurigen Augen des Betrunkenen neulich viel zu sehr erschüttert und seine ganze Verlorenheit viel zu sehr berührt. Nein, ich will uns und mich nicht rühmen. Ich will sehen, wahrnehmen und uns zum Danken und Rühmen Gottes führen. Wir haben es gut, wenn wir eine Kirche haben - und da meine ich dieses Gebäude zum Beten, Hören und Singen, aber auch die Kirche Jesu Christi überhaupt, die durch ihn und von ihm lebt und erhalten wird. - Es könnte wohl auch anders sein für uns! Es gibt Länder - selbst noch in Europa! - da darf der Christenglaube nicht gelebt werden, da gibt es keine Kirchen, aber wohl Christen, die sich auch gern unter einem schützenden Dach versammeln und Gottesdienst feiern würden, die das aber nicht können! Und mancher Christ, der in den letzten Jahren aus Rußland zu uns gekommen ist, könnte uns wohl davon erzählen, wie das ist, wie schrecklich das ist! Wir haben es gut, daß es diese Gemeinde gibt, die hier nicht nur lebt, wie man irgendwo in einem städtischen Hochhaus "lebt" und doch jeder nur sein ganz eigenes Schicksal hat und manchmal furchtbar allein ist. Hier ist auch Gemeinschaft von Menschen, die sich über ihren Glauben verbunden fühlen, die Glieder am einen Leib Christi sind und sein wollen. Hier schaut man nacheinander. Hier werden Fremde - auch aus christlicher Gesinnung! - offen aufgenommen, begrüßt, eingeladen, bei diesem und jenem in Verein und Kirche mitzumachen. Wenn das alles auch sicher noch wachsen und noch viel besser werden muß bei uns, es gibt sie doch, die guten Ansätze, die Bemühung um die Fremden, die mitmenschliche Hilfe, die Bereitschaft, etwas für die Mitmenschen zu tun... Es könnte anders sein und es gibt Dörfer und angeblich christliche Gemeinden, da herrscht nur Ablehnung, allem Neuen und Fremden gegenüber, da schotten sich die Menschen ab gegeneinander und keiner sieht den anderen und keiner würde einen Finger rühren für den Nachbarn. Wir haben es gut, wenn wir in unserer Gemeinde über Gottesdienst und Amtshandlung hinaus so viele Angebote an Kreisen und Gruppen und nicht zuletzt Freizeiten haben. Was sind da - etwa im Bibelabend - schon so gute Gespräche gewesen. Wieviel Freude und gute Erfahrung haben uns der Seniorenkreis oder etwa die Jungscharen schon geschenkt. Und erst die Kinder- und Familienfreizeiten! Wie viele Menschen gibt es doch, die heute freundschaftlich verbunden sind, weil sie ein- oder mehrfach 8 oder 14 Tage in schöner christlicher Gemeinschaft zusammen waren. Auch das könnte anders sein! Auch das ist anders an vielen Orten - ich muß da nicht deutlicher werden. Aber kommen wir zu dem anderen: Wir haben es gut, wenn wir den Glauben an Gott haben dürfen. Sei es seit unserer Kindheit schon, oder sei es, daß er uns damals während der Konfirmandenzeit aufgegangen ist oder erst viel später, vielleicht als sonst nichts mehr getragen hat und uns manches kaputtging im Leben. Stellen wir uns das doch nur einmal für uns persönlich anders vor - wenn das überhaupt geht: Wir wüßten nicht, daß dieses Leben ein Ziel hat. Wir hätten nicht das Gebet, um uns Kraft zu holen für unseren manchmal so schweren Tag. Wir würden keinen Sinn erkennen in den oft so unbegreiflichen Ereignissen unseres Geschicks oder wir könnten nicht wenigstens vertrauen, daß es diesen Sinn gibt, selbst wo wir ihn nicht erkennen. Auch das könnte anders sein. Und es ist ja anders bei vielen, und wir beklagen es ja auch oft - vielleicht bei unseren liebsten Menschen, unseren Kindern, Enkeln, Eltern oder Ehegatten, daß es anders ist... Und jetzt bringen wir das noch zusammen: Wir haben es gut, wenn wir aus echtem Glauben verbunden sind mit unserer Kirche und unserer Gemeinde. Wir haben es gut, wenn die Sache Gottes in unserem Leben eine Rolle spielt, wenn unsere Tage und die Jahre unseres Lebens von Gott und seiner Gemeinde auf Erden gestaltet und begleitet werden. Wir haben es gut, wenn uns die Feste der Kirche noch etwas bedeuten und unser Gang durchs Jahr nicht von Silvester zu Silvester, sondern über Passion und Karfreitag, Ostern, Pfingsten und Christfest führt. Denn schauen wir nur genau hin, dahin geht doch der Weg dieser angeblich so modernen Gesellschaft unserer Zeit: Eine anonyme Menschenmasse, in der die Ellenbogen regieren, in der die Schwachen an die Wand gedrückt und die Kinder, die Alten, die Arbeitslosen, Behinderten, Kranken und inzwischen auch die Rentner nur noch nach dem finanziellen Aufwand betrachtet werden, den sie für Staat und Versorgungskassen verursachen. - Weiß Gott, wir haben es gut, daß es in dieser Welt noch den Glauben gibt und die Kirche und die Menschen, die so leben, daß man ihrem Sonn- und Alltag ansieht, daß ihnen diese beiden Dinge noch etwas bedeuten. Diese neue Sicht, dieses neue Wahrnehmen, wie gut ich und wir es haben, verdanke ich einem, der es allem Anschein nach, nicht so gut hat im Leben und in der Gesellschaft. - Ich konnte neulich für ihn nichts tun, aber heute bitte ich Gott für ihn und alle, denen es so geht wie ihm: Daß Gott und der Glaube an ihn sich auch in ihrem Leben finden läßt und daß es für sie Menschen gibt, die ihnen das Gottvertrauen leichter machen und sie in ihrer Gemeinde und Gemeinschaft aufnehmen. Und für mich und uns bitte ich um Dankbarkeit für alles, was uns mit Glauben und Kirche geschenkt ist. Die Predigt wurde gehalten von Pfr. Manfred Günther, Lohgasse 11, 35325 Mücke/Groß-Eichen