Predigt zur Gold. u. Diam. Konfirmation - 29.9.96 Liebe Jubilarinnen und Jubilare, liebe Angehörige, liebe Gemeinde! Ein wenig werden Sie sich jetzt gewiß wundern, wenn ich Ihnen das Wort sage, das ich Ihnen und uns allen für diesen Festtag widmen will: Textlesung: Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen. Ps. 18,20 Nicht wahr, an "Springen über Mauern" haben Sie heute nicht gedacht! Sie wollten hier sicher einen eher ruhigen Gottesdienst erleben mit einer besinnlichen Predigt, die Ihnen nicht allzuviel Bewegung und Anstrengung abverlangt. Aber, keine Angst. So soll es jetzt auch werden. Daß es nicht um wirkliches "Springen" mit den Füßen geht und nicht um "Mauern" aus Stein, das haben Sie sich ge- wiß auch schon gedacht. Aber trotzdem, das ist Gottes Wort an uns heute, vielleicht nicht ganz buchstäblich, aber doch als ernstzunehmende Verheißung: Textlesung Ich will uns mit zwei kleinen Erlebnissen und Begebenheiten auf die Spur der Gedanken führen, die dieses Wort bei uns anstoßen will: Vor einiger Zeit war eine Schülergruppe mit ihrem Religionslehrer, die Schüler alle so um die 18 Jahre alt, in einem Behindertenheim in Friedberg zu Besuch. Immerhin von morgens bis abends sind sie dort in die Welt von teils schwerbehinderten Menschen eingetaucht, die ihnen zunächst sehr fremd waren, deren Verhalten sie nur schwer begreifen konnten und deren Art, Beziehungen aufzunehmen, ihnen erst große Probleme gemacht hat. Hinterher hat mir ein junges Mädchen von dort berichtet: Es wäre am Anfang mit großer Angst verbunden gewesen, wenn etwa ein mongoloi- der Junge einfach ihre Hand genommen und nicht mehr losgelassen hätte. Andere aus der Gruppe waren von den ruckartigen Bewegungen der Spastiker sehr verwirrt und verunsichert. Wieder ande- re meinten, den Anblick hochgradig geistig Behinderter nicht bis zum Abend ertragen zu können. Aber, so fügte dann das Mädchen hinzu: Das wäre wirklich nur in den ersten zwei, drei Stunden so gewesen. Sie hätten diesen Besuch im Religionsunterricht gut vorbereitet gehabt. Und sie hätten ja auch alle mitkommen wollen, obwohl sie gewußt hatten, was sie erwartet. Sie wollten doch einmal sehen und erfahren, wie das ist, wenn die "Liebe zum Mitmenschen" eben nicht mehr so leicht fällt, wie wenn man im Unterricht nur darüber spricht...Nach dem Besuch jedenfalls, da wären alle sehr froh gewesen; nicht daß es vorbei war, sondern daß sie den Tag bei den Behinderten verbracht und durchgehalten hatten. Viele aus der Gruppe hätten gemeint: "Wir haben in diesen paar Stunden über die Liebe und auch über Menschen mehr gelernt, als sonst in einem Jahr!" Die Erfahrung in Friedberg, so sagten alle danach, wäre eine große Bereicherung für ihr Leben gewesen! Und wie von selbst hätte auch mancher jetzt mehr Dank dafür empfunden, daß er seine Glieder alle bewe- gen und seinen Geist und seine Sinne gebrauchen kann. Das hat für mich mit diesem Wort zu tun: Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen. Ein zweites - diesmal eigenes - Erlebnis: Ich war in den letzten Wochen zweimal vier Tage im Kran- kenhaus. Für mich das erste Mal seit meiner Kindheit, wo ich einmal einige Monate in verschiede- nen Kliniken zugebracht habe. Acht Tage - ich weiß, das ist nicht sehr lang. Aber mir geht es dar- um: Was habe ich doch auch davor Angst gehabt. Wie hätte ich mir gewünscht, daß es mir erspart bleiben könnte. - Es mußte sein. Und es war ja auch - von heute und der deutlichen Besserung her betrachtet - gut, daß ich das einfach einmal auf mich nehmen mußte. Aber es war eben noch in ei- nem anderen Sinne "gut" und überaus wichtig und wesentlich für mich: Einmal spürt man halt erst in der Not und in der Angst besonders, wie Gott doch auch hilft! Und das habe ich gespürt! Auch die Gebete vieler Menschen, die mich begleitet haben, waren da mit ihrer Kraft für mich! Daneben aber war mir das wohl fast das wichtigste: Einmal dort bleiben zu müssen, wo ich sonst "nur" kranke Menschen besuche. Nicht wieder weggehen können, nach einem Gespräch, ein wenig Zuhö- ren, Trösten und einem Segenswunsch und Gebet. Sondern bleiben müssen! Sozusagen einmal nicht am Bett, sondern im Bett! Dann nicht die Krankenzimmertür hinter mir schließen können und wie- der hinausgehen ins Freie und nach Hause fahren und den gemachten Besuch so langsam wieder vergessen... Nein, dableiben müssen! Das endlich einmal kennenlernen, wie das ist: In so einem Krankenhaus, einem Zimmer, in dem nachts gestöhnt und vielleicht geschrien wird, in dem gelitten und gebangt, gehofft und gezweifelt und manchmal wohl alle Zuversicht fahren gelassen wird. Ich weiß nicht, ob sie mich jetzt so ganz verstehen, aber ich bin dankbar, daß ich diese Erfahrungen machen konnte. Eben am eigenen Leib, nicht nur so vom Hörensagen. Ich sehe vieles heute anders. Ich bin weitergekommen durch das, was mich eigentlich erst zurückgeworfen hat. Ich glaube, ich verstehe jetzt mehr, was das heißt: "Krank sein, leiden müssen" - und eben auch davon: Gottes Wort und Hilfe in diesen Krankheits- und Leidenszeiten zu haben! Auch das hat für mich sehr viel mit diesem Vers zu tun: Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen. Ein drittes, was ich ansprechen will, Sie werden es sich schon gedacht haben, hat jetzt mit Ihnen zu tun, liebe Jubilare: Wir werden doch vom Leben - und ich sage: von Gott! - auch immer wieder vor Mauern gestellt, die wir kaum überblicken können und schon gar nicht überklettern oder gar über- springen mögen: Bei den Goldenen Konfirmanden, die jetzt so um die 64 sind, kann das der Eintritt in den Ruhestand sein. Das ist schrecklich schwer, damit fertigzuwerden: Da wo wir immer gear- beitet haben, läuft auf einmal auch ohne uns alles - und scheinbar ganz gut! Uns fehlt die gewohnte Beschäftigung und damit das, was uns immer bestätigt und erfüllt hat. Es ist auch gar nicht leicht, zu Hause etwas zu finden, was uns die frühere Tätigkeit und die Anerkennung, die wir dabei immer hatten, auch nur einigermaßen ersetzen kann. Für die Diamantenen Jubilare ist so eine Mauer viel- leicht, daß nun wirklich langsam oder auch schon sehr drastisch die Kräfte nachlassen. Man muß zum Stock greifen; die Beine wollen einfach nicht mehr so. Wir sind nicht mehr so behältlich. Was wir heute früh gegessen haben, ist uns entfallen - während die Dinge der Schulzeit und der Jugend auf einmal wieder deutlicher vor unser Inneres treten und wir uns in unseren Gedanken auch immer mehr und immer lieber in der Vergangenheit aufhalten. Bei allen älteren Menschen ist immer wieder so eine "Mauer", daß die Beziehungen zu Hause, in der Familie und besonders zwischen den Gene- rationen schwierig werden und manchmal sehr viele unserer Kräfte binden und Energien aufzehren, die wir gewiß für die Freude am Leben und für das, was wir doch auch noch tun und schaffen kön- nen, nötiger brauchten. Da jedenfalls - und nicht zuletzt da! - gilt auch dieses Wort: Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen. Mit dem, was ich von der Schülergruppe im Behindertenheim erzählt habe und dem, was ich selbst in den letzten Wochen erlebt habe, will ich sie ermutigen: Die Mauern waren hoch! Große Fremd- heit, Befangenheit und Abscheu hat die jungen Leute zuerst befallen. Sie meinten, es nicht packen zu können. Dann aber haben sie sich auf die Liebe zu den Menschen besonnen, die Liebe, die ja von Gott kommt. Und auf einmal gelang ihnen der Sprung! Und noch besser: Sie sind weitergekommen durch das, was erst so schwer war! Wovor sie Angst hatten, hat sie reich gemacht! Oder mein Aufenthalt im Krankenhaus: Auch da hieß es für mich "springen"! Aber ich habe erfah- ren, daß man auf der anderen Seite der Mauer gut aufkommt. Daß einer uns hält, daß wir dann nicht stürzen und fallen. Aus großer Angst und der Frage nach dem "Warum gerade ich?", ist für mich etwas erwachsen, was ich wirklich nicht mehr missen will! Die Krankheit ist für mich eine Chance geworden, die endlich besser kennenzulernen und zu verstehen, die mir als Seelsorger anbefohlen sind! Genau so, liebe Jubilare, liebe Gemeinde, kann das auch mit den Mauern sein, die sich groß und be- drohlich vor uns aufbauen! Wir können darüber hinweg kommen. Aber eben nicht aus eigener Kraft! Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen. Alleine nicht. Wir brauchen sein Wort. Wir brauchen das Gebet. Seine Hilfe. Wir brauchen auch die Fürbitte anderer. Wir haben seinen Segen nötig. Auch, daß er uns die Einsicht schenkt in das, was wir ändern können bei uns und das, was nunmal nicht mehr zu ändern ist. Mit einem Wort: Wir brauchen die Verbindung mit ihm! Wir müs- sen in seiner Nähe leben. Uns von ihm auch ansprechen lassen. Hören, wenn er uns etwas sagt. Spü- ren, wenn er uns mit dem, was er uns schickt, auf die Schulter tippt. Fühlen, daß unser Leben ja nur Sinn hat, wenn er darin die Hauptrolle spielt. Und einsehen, so schwer das vielleicht auch fällt, daß wir ohne ihn zuletzt nichts tun können. - Wir brauchen Gott! Unser ganzes Leben schon und gerade wenn wir in unsere älteren Tage kommen und die eigenen Kräfte schwinden. Vergessen wir es nicht, aber vertrauen wir auch darauf: Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen. Er gibt den Mut dazu. Er hält uns beim Sprung an der Hand, und er läßt uns sicher drüben aufkommen. Die Predigt wurde gehalten von Pfr. Manfred Günther, Lohgasse 11, 35325 Mücke/Groß-Eichen predi174