Predigt am 21. So. n. Trinitatis - 20.10.2002 Textlesung: Wir lassen uns auf die Predigt einstimmen von den Versen aus 1. Kor. 12, 12 - 14. 26 - 27: Denn wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus. Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist ge- tränkt. Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit. Ihr aber seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied. Liebe Gemeinde! Wir haben uns "einstimmen lassen" auf die Predigt, denn ich möchte heute nicht über diesen ganzen schönen Text sprechen, sondern nur über einen seiner wichtigsten Gedanken. Aber ich glaube, der ist einfach einmal "dran": Diese Worte aus dem 1. Korintherbrief - wie so viele andere Texte der Bi- bel - machen ernst damit, daß wir Menschen nicht alle gleich sind. Auch die Christen, die Glieder am Leib des Herrn - sind nicht alle gleich. Der eine ist der freien Rede mächtig. Der andere hat eine Be- gabung für die Arbeit mit Kindern. Ein dritter findet leicht Worte des Trostes. Ein vierter kann gut zuhören. Ein fünfter versteht sich auf die Auslegung der Heiligen Schrift. Ein sechster... Auch bei ganz weltlichen Talenten verhält es sich so: Einer kann gut mit Zahlen umgehen, ein zwei- ter ist handwerklich geschickt, ein dritter hat die Fähigkeit zu organisieren usw. Das soll so sein in der Gesellschaft und schon gar in der Gemeinschaft der Christen: Jeder kann etwas anderes. Nie- mand kann gar nichts. Keiner kann alles. Das weist uns aneinander. Jeder braucht den andern, wie die Glieder eines Leibes nur leben können, weil es die andern Glieder gibt. Was wäre ein Auge ohne den Magen? Was wäre der Mund ohne den Arm? Es kann sich - wenn wir das Bild vom Leib be- trachten - auch keiner über den andern erheben. Fällt auch nur ein Organ aus, dann ist der ganze Körper beeinträchtigt und nicht mehr das, was er war. Soweit, so gut. Das leuchtet ein. Das Bild ist zutreffend, da gibt es keine Diskussion darüber. Aber mir ist da ein Zug dieses Bildes aufgefallen, über den ich mit ihnen nachdenken möchte. Der Gedan- ke ist: Irgendwie müssen die Menschen ja doch hineinwachsen in die Aufgabe, die sie dann im gro- ßen Ganzen spielen sollen. Wem ist es denn schon in die Wiege gelegt, daß er später einmal in einem Büro arbeiten wird oder sonntags predigen soll oder in eine große Landwirtschaft einheiratet? „Er- ziehung" nennt man das, was uns befähigt, als Erwachsene diese oder jene Rolle auszufüllen, diesem oder jenem Beruf nachzugehen. Welche enorme Macht hat also die Erziehung! Was alles kann sie erreichen - dabei hat „erreichen" manchmal auch einen sehr, sehr fragwürdigen Sinn! Ich will's in ei- ne Frage fassen, die sie jetzt vielleicht überrascht: Wer von den Männern unter ihnen kann weinen? Wer von ihnen, liebe Männer, schämt sich nicht, seine Tränen zu zeigen? Wer von ihnen wird nicht - wenn es ihn in einer traurigen oder bewegenden Situation übermannt - schnell die Hand vor's Ge- sicht halten? - Ich nehme stark an, die meisten von ihnen, liebe Männer, müssen zugeben: Ja, mir fällt das schwer oder ich kann es gar nicht: das Weinen. Ich bringe es nicht fertig in solchem Maß Gefühle zu zeigen, daß ich meinen Tränen freien Lauf lasse. Aber wie kommt das? Sind Männer so hart, so tapfer - oder so gefühllos, daß ihnen nicht manchmal auch das Wasser in die Augen treten will? Sicher haben die meisten von den Männern von Mutter oder Vater früh gehört: „Ein Junge darf nicht weinen!" - „Männer kennen keine Tränen - und du willst doch ein Mann werden." - „Nur die Mäd- chen weinen!", und was dieser dummen Sprüche noch mehr sind. Vielleicht haben die Männer das auch nicht „gehört", sondern nur „gesehen": Daß der Vater nämlich schon nicht so recht zu seinen Tränen stehen konnte, daß er immer eine scheinbar unerschütterliche Härte an den Tag legte und sich mühte, niemals die Fassung zu verlieren. Und die Söhne, haben daran Maß genommen. Heute schinieren sie die Tränen. Heute meinen sie: Ein Mann muß hart sein! Heute haben sie Angst vor dem Zeigen ihrer Gefühle. Liebe Gemeinde, das ist nur ein Beispiel für die Bedeutung, für die Macht der Erziehung. Es betrifft in erster Linie die Männer, aber ich hätte wohl auch andere Beispiele finden können: Daß die Mäd- chen mit Puppenspielen und Puppenküche auf die Rolle als Frau und Mutter vorbereitet werden. Daß man meist nur die Mädchen zum Hausputz und zur Gartenarbeit heranzieht, weil unsere Gesell- schaft es (immer noch!) für unter der männlichen Würde ansieht, im Garten die Hände zu regen, gar einen Rechen oder eine Hacke zu bewegen. Daß die Jungen - so harmlos das zunächst aussehen mag - mit dem tack-tack-tack des kleinen Plastik-MG's und mit Cowboyspielen mit dem schrecklichsten Handwerk, das die Menschheit kennt, vertraut gemacht werden. - Alles das ist Erziehung. Immer wieder beweist sie ihre prägende Kraft und ihren Einfluß, der ein ganzes Menschenleben bestimmt. Gewiß, wir machen uns immer wieder gern vor - besonders, wenn in der Erziehung unserer Kinder irgend etwas schief läuft, das hätte wohl schon in unserem Kind dringelegen! So wäre halt seine Erbanlage gewesen. Die moderne Psychologie und Pädagogik aber weiß es besser: Das meiste be- wirkt unsere Erziehung an unseren Kindern. Sie ,,haben's nicht - je nachdem vom Vater oder der Mutter - vererbt bekommen", sie haben's von uns gelernt, an uns gesehen - das meiste jedenfalls. An ganz kleinen Dingen wird das deutlich: Das Kind mag keinen Spinat - es konnte jahrelang beobach- ten, daß Mama ihn nicht oder nur widerwillig aß. Das Kind kann nicht teilen - auch hier hat es an der Haltung der Eltern Maß genommen. Freilich werden auch die guten Eigenschaften so erlernt: Das Kind ist freundlich zu jedem und findet schnell Kontakt - siehe da: Auch Mutter und Vater gehen gern unter Menschen und haben Freude an der Gemeinschaft. Gewiß habe ich das jetzt etwas grob und vereinfacht dargestellt. Aber klar geworden ist dies: Welch gewaltige Aufgabe ist es doch, ein Kind zu erziehen, ihm dazu zu helfen, ein wertvolles Glied der Gemeinschaft und des Leibes Christi zu werden. Wie schwer ist schon das: Jasagen zu allen Eigen- schaften, die ein Kind wirklich durch sein Erbe mitbringt. Noch schwerer ist es, dem gerecht zu werden, daß unsere Kinder zum großen Teil das werden, was wir ihnen vorleben und sie lehren. Welche Verantwortung haben wir doch als Eltern, als Großeltern, als Lehrer und Erzieher! Wenn wir das so sehen: Wie wichtig wird alles, was wir tun. Wie groß ist die Gefahr, daß wir durch unser schlechtes Vorbild unser Kind in eine falsche Richtung führen. Und wie groß auch später die Versuchung zu sagen: Das hat es von seinem Vater...von seiner Mutter geerbt. Und schließlich: Wieviel Leid mag schon über Kinder gekommen sein, weil man ihnen die Förderung all der guten Talente versagt hat, die in ihnen lagen? Und wie schlimm mag das für viele Erwachsene sein, daß man ihnen als Kind ihre Gefühle verboten hat nach dem Motto: „Ein Junge darf nicht wei- nen"! Mancher ist - so schlimm das klingt - seelisch verbogen aus seiner Kindheit herausgewachsen und leidet ein Leben lang unter dem, was seine Eltern aus ihm machen wollten. - Wirklich: Erzie- hung ist mächtig! Eltern und alle, die erziehen, haben gewaltige Verantwortung! Aber sehen wir jetzt auch die andere Seite dieser Sache: Wir sind als Eltern und ErzieherInnen von Gott berufen, bei seiner Schöpfung mitzutun. Er vertraut uns Kinder an, weiche, formbare Wesen, die weitgehend dem Druck oder der Führung unserer Hände und unserer Worte folgen. Er traut uns zu, daß wir in Liebe und Geduld an unseren Kindern entwickeln, was ihnen entspricht und dem, was sie an Gaben und Fähigkeiten geschenkt bekommen haben. Wenn wir dabei an dem Maß nehmen, was wirklich für unsere Kinder wichtig und angemessen ist und was ihren Bedürfnissen entspricht, das wäre gut. Wie leicht lassen sich unsere eigenen Wünsche und Ziele mit unseren Kindern hinter - ach, so gut gemeinten! - Erziehungsmaßnahmen verstecken! Uns ist als Eltern viel zugetraut. All un- seren Mühen, die wirklich das Wohl unserer Kinder im Auge haben, verspricht Gott in der Erziehung seinen Segen. Lassen sie uns daran Maß nehmen, was Paulus hier sagt: Ihr aber seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied. Lassen sie uns zuerst dies vor Augen haben, was unsere Kinder, unsere Enkel und alle anderen, auf die wir Einfluß haben, brauchen, um ein Glied am Leib Christi zu werden. Da- zu ist weniger unsere Mühe nötig, dies oder das aus unseren Kindern zu machen, dieses oder jenes in sie hineinzulegen, als unsere Liebe, unseren guten Willen und unser glaubhaftes Vorbild!