Predigt zum 10. Sonntag n. Trinitatis - 4.8.2002 Textlesung: 2. Kön. 25, 8 - 12 Am siebenten Tage des fünften Monats, das ist das neunzehnte Jahr Nebukadnezars, des Königs von Babel, kam Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, als Feldhauptmann des Königs von Babel nach Jerusalem und verbrannte das Haus des HERRN und das Haus des Königs und alle Häuser in Jerusalem; alle großen Häuser verbrannte er mit Feuer. Und die ganze Heeresmacht der Chaldäer, die dem Obersten der Leibwache unterstand, riß die Mauern Jerusalems nieder. Das Volk aber, das übrig war in der Stadt, und die zum König von Babel abgefallen waren und was übrig war von den Werkleuten, führte Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, weg; aber von den Geringen im Lande ließ er Weingärtner und Ackerleute zurück. Liebe Gemeinde! Heute ist der "Israelsonntag", ein Tag also, an dem wir besonders an die Geschichte Gottes mit sei- nem auserwählten Volk denken. So heißt es für heute auch als Überschrift über allen Bibeltexten, die zu diesem Sonntag gehören: "Gott und sein Volk". Außerdem aber heißt es da - und das macht alle Gedanken für eine Predigt heute so schwierig - "Gottes Gericht und Gnade über Israel und die Kir- che". Ich sage es ganz offen: Ich bin befangen, wenn ich über "Gottes Gericht über Israel" sprechen soll. Und mit der "Gnade" tue ich mich in der gegenwärtigen weltpolitischen Lage und besonders der im Nahen Osten auch schwer, das werden sie sicher verstehen. Aber - zum Glück - entspricht es ja auch dem Thema dieses Tages, wenn wir über die Kirche und über Gottes Gericht und Gnade gegenüber uns Christen nachdenken. Und das wollen zuallererst wir tun. Und das können wir auch - sogar mit einem Hinweis am Rande dieses Textes, den wir gerade gehört haben: "...aber von den Geringen im Lande ließ er Weingärtner und Ackerleute zurück." Liebe Gemeinde, ich nehme an, sie haben jetzt nicht verstanden, was dieser Satz mit Gedanken um Gericht und Gnade Gottes zu tun haben soll. Ich will das erklären - ersteinmal im Blick auf die Ge- schichte der Zerstörung Israels, von der wir heute gelesen haben: Da haben die Babylonier also Jeru- salem dem Erdboden gleich gemacht. Der Tempel Gottes in Trümmern. Die heiligen Geräte gestoh- len und nach Babel gebracht. Der Palast des Königs liegt in Schutt und Asche. Alle Häuser der Hauptstadt oder das, was von ihnen übrig geblieben ist, raucht und schwelt. Die Stadtmauer einge- rissen, Ruinen überall. Und die Menschen meist verschleppt. Zum Sklavendienst im fernen Land be- stimmt. Kein Hoffnungsschimmer mehr. Das ist der Untergang des Volkes Gottes... Und doch...da steht dieser Satz am Ende: "...aber von den Geringen im Lande ließ er Weingärtner und Ackerleute zurück." Vielleicht ahnen sie jetzt, wo ich hinauswill? - Wir wissen es doch: Es war nicht das Ende! Dieses geschundene, geschlagene Volk hat doch weitergelebt. Es gab nie mehr eine Blütezeit wie unter König David oder Salomo. Aber Gottes Geschichte mit seinem Volk ging weiter! Der Tempel erstand neu aus den Trümmern. Die Häuser wurden wieder aufgebaut, die Mauer um die Stadt wie- der aufgerichtet. Neues Leben aus den Ruinen. Nach dem Untergang, nach Tod, Leid und Verban- nung neue Hoffnung. Als alles am Ende schien - da war der Keim der Zukunft schon gelegt: "...aber von den Geringen im Lande ließ er Weingärtner und Ackerleute zurück." Liebe Gemeinde, was uns das sagen will, sagen kann? Ist das nicht auch in der Geschichte Gottes mit seiner Kirche so gewesen? War am Karfreitag nicht auch alles zu Ende? Wer hätte denn noch mit diesem Gekreuzigten gerechnet? Oder mit der ver- ängstigten Schar seiner Jünger? Jesus den Verbrechern zugezählt. Durch schändlichen Tod beseitigt. Seine Vertrauten in alle Winde zerstreut. Ihre Sache in Trümmern. Hier kommt keine Zukunft mehr auf! - Aber es geht doch weiter! Der Tote verläßt das Grab, Gott erweckt ihn, schenkt ihm neues Leben. Er erscheint seinen Jüngern, er ruft sie neu in den Dienst. Und - wie seltsam! - die Zeichen an denen sie ihn erkennen: "Weingärtner und Ackerleute" ließ Nebukadnezar im zerstörten Jerusalem zurück, die Frucht des Ackers, das Brot, die Frucht des Weingartens, der Wein begründet die Kirche Gottes - schon damals nach Ostern in Emmaus, dann nach Pfingsten überall wo Christen im Namen ihres Herrn zu Gottesdienst und Feier zusammenkommen, bis heute, wo immer in dieser Welt Chris- ten sich versammeln, um ihren Gott zu preisen, ihn anzubeten und sein Wort zu hören. - In der Zer- störung liegt der neue Beginn verborgen. Aus dem Tod wächst Leben. Am Ende - der Anfang. Liebe Gemeinde, ich denke, während sie eben diese Worte gehört haben, sind ihnen auch Beispiele aus ihrem eigenen Leben eingefallen, Beispiele für diese Wahrheit: Als in ihrem Leben alles am Ende war, da hat Gott schon wieder mit ihnen begonnen... Vielleicht war das als sie ihren großen Traum damals begraben haben. Sie wollten etwas erreichen, sie hatten einen bestimmten Berufswunsch oder einen Plan, wie ihr Leben verlaufen, was ihre Auf- gabe, ihre Arbeit, ihr Ziel sein sollte. Es ist so ganz anders gekommen. Und es war unendlich schmerzhaft, was sie erfahren mußten. Vielleicht hat sich alles, wirklich alles für sie zerschlagen und das Schicksal, Gott, hat sie an den Rand der Verzweiflung, in Tränen, Schmerz, Trauer und Leid ge- führt. Das ist mein Untergang - haben sie gedacht. Hier gibt es keine Zukunft mehr - darauf hätten sie geschworen. - Wie ging es weiter? Sie blieben nicht in Leid, Weinen und Traurigkeit. Nach fins- terster Nacht ging die Sonne doch wieder auf. Eine Zuversicht senkte sich in ihr Herz - und sie wuß- ten nicht woher. Sie konnten auf einmal den Namen des lieben Menschen, von dem sie Abschied nehmen mußten, wieder aussprechen, ohne daß es ihnen die Brust abschnürte. Ja, mehr noch, sie konnten wieder lächeln, sogar lachen... Es war nicht allein die Zeit, die Wunden heilte. Das kam von Gott. Es hatte mit Glauben zu tun, mit Vertrauen und Erfahrung. Das war, wie wenn aus dem Dun- kel des Ackerbodens ein Same keimt und nach oben zum Licht hindurchbricht. Vorher hat man nichts gesehen, nichts geahnt, nichts geglaubt. Dann aber dringt es durch: Das neue Leben aus dem Tod, die Zukunft nach dem, was uns das Ende war, der neue Beginn in dem, was uns das "Aus" gewesen ist. Wir sind getröstet, wir fassen Hoffnung, wir bekommen Mut, und Freude kehrt zurück. - Haben wir nicht alle schon wenigstens einmal solch ein Wunder erlebt? Sind wir nicht deshalb heute auch hier? Liebe Gemeinde, vielleicht können wir heute von diesen Sonntag und seinem Gedanken um Gericht und Gnade gegenüber Israel, der Kirche und uns auch ganz persönlich, dies mitnehmen: Wenn die Verhältnisse in der Welt, wenn unsere Kirche oder wir in unserem Leben am Ende zu sein scheinen, dann ist doch Gott mit uns, seiner Welt und seiner Kirche noch lange nicht am Ende. Ja, mehr noch: Es gibt dieses Ende nicht, weil Gottes Liebe kein Ende hat! Immer ist noch in der schwärzesten Nacht ein neues Licht verborgen. Immer liegt im Boden - und wäre es in der trockensten Wüste - ein Samenkorn, das auf die Zeit wartet, in der es die harte Kruste nach oben durchbricht. Immer schlummert auch in unserem Geschick, das so schwer ist und uns vielleicht so gottverlassen und zweifelhaft vorkommt, ein guter Beginn, ein Leben, das uns erfüllt, eine Aufgabe, die uns froh macht und ein Ziel, das uns beglückt. Und ich glaube von daher sollten und müssen wir auch am "Israelsonntag" noch wenigstens diesen Blick auf das gegenwärtige Geschehen im Nahen Osten werfen und ein solches Wort in die uns alle so deprimierenden Geschehnisse dort hineinsagen. Wenn wir auch heute noch so reden: "Dort wird es niemals Frieden geben!" - "Es ist alles viel zu verworren und verfahren." - "Wie sollen Palästinen- ser und Israelis je so dicht und mit einer gemeinsamen Hauptstadt zusammenleben?" Wenn wir uns das auch nicht vorstellen können, wenn wir nicht die leiseste Hoffnung hegen und den Traum vom Zusammenleben der Völker (ja nicht nur in Palästina!) längst begraben haben... Der Keim dieser Zu- kunft ist gelegt. In der Wüste treibt ein Same ans Licht. Vielleicht wird es noch Jahre dauern, bis er den festgetretenen und mit Blut getränkten Boden durchbricht. Vielleicht aber sehen wir schon mor- gen oder in den nächsten Wochen, daß Gott sein Volk nicht vergessen und verlassen hat und daß er für alle seine Menschen Frieden will und diesen auch schafft. Und vielleicht ist ja das Beste an dieser Aussicht, daß sie nicht abhängig ist davon, was Menschen tun, was sie wollen und wie sie sich um den Frieden bemühen oder auch dem Krieg dienen. Von Gott her kam der neue Anfang nach der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier. Von Gott her kam der Sieg über den Tod am Ostermorgen. Von Gott her kam und kommt jede Wendung un- seres Geschicks, die Hoffnung nach dem Leid, der neue Morgen nach der dunklen Zeit der Trauer... Von Gott her wird auch in aller Zukunft jeder Neubeginn kommen, jede glückliche Fügung, jeder gute Ausgang einer schlimmen Sache, jeder Friede, wo Krieg war und jede Hoffnung, wo die Ver- zweiflung drohte. "...aber von den Geringen im Lande ließ er Weingärtner und Ackerleute zurück." Der Keim des neuen Lebens ist längst gelegt. Bleiben wir auf der Seite Gottes, des Glaubens und der Zuversicht.