Predigt am 1. Sonntag n. Trinitatis - 02.06.2002 Textlesung: 5. Mose 6, 4 - 9 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore. Liebe Gemeinde! Du sollst diese Worte zum Denkzeichen auf deine Hand binden und sie als Merkzeichen auf der Stirn tragen und du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses schreiben..., die Worte: Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr und du sollst ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft! Wenn wir heute mittag in einem frommen jüdischen Haus in Israel oder anderswo zu Gast wären, würden wir merken, wie ernst diese Anweisungen bis auf den heutigen Tag genommen werden: An den Türpfosten sämtlicher Türen würden wir kleine lederne Kapseln entdecken. Wenn der Hausherr dann das Mittagsgebet spräche, hätte er am Arm und auf der Stirn an ledernen Bändern ebensolche Kapseln. Und wenn wir ihn dann fragten, was sie denn enthalten, so würde er uns antworten: In je- der dieser Kapseln befindet sich ein Pergamentstreifen mit der Aufschrift: Höre Israel, der Herr, un- ser Gott, ist der einzige Herr... Also die Bibelverse die wir an diesem Sonntag bedenken. Diese Bräuche muten uns auf den ersten Blick etwas seltsam an. Wir fragen vielleicht: Hat man denn die Bedeutung eines Wortes schon vor Augen, nur wenn man es in einer Kapsel bei sich trägt? Und ist damit denn schon garantiert, daß man es auch befolgt? Uns ist das irgendwie zu vordergründig: Lederkapseln auf den Armen und zwischen den Augen - und schon lebt man auch entsprechend??? Und ein wenig gesetzlich sieht uns das auch aus: Du sollst sie zum Denkzeichen auf deine Hand bin- den..., so ist's geboten und schon fertigt man sich eine Lederhülse, beschreibt ein Papier, steckt es hinein und hängt es sich an. - Da fragt man sich schon: Ist da denn nicht etwas anderes gemeint? Ein eher geistiger Vorgang? Geht es nicht vielleicht um mehr, als um bloße Erfüllung einer Vorschrift? Sicher geht es um mehr! - Versuchen wir dem "Mehr" auf die Spur zu kommen: Was sind denn zum Beispiel Türpfosten anderes als die Teile meiner Wohnung, an denen ich tagtäglich viele, viele Male vorbeikomme? Dort soll das stehen: Der Herr, unser Gott ist der einzige Gott... An die Pfosten aller meiner Türen gehört das, und jedesmal, wenn ich durch die Tür gehe, erinnert mich das, mahnt es mich, damit ich es nur ja nicht vergesse: Du sollst Gott lieben von deinen ganzen Herzen... Jetzt haben wir das schon ein wenig besser verstanden, was hier wohl gemeint ist mit dieser Vor- schrift... Aber das will noch viel mehr sagen: An meinem Türpfosten soll das stehen, - eben nicht an der Kirchenpforte oder im Herrgottswinkel meines Hauses, sondern da, wo mein tägliches Leben spielt, wo ich den Menschen meiner Familie begegne, meinen Freunden, den Nachbarn und den an- deren Zeitgenossen. Wenn ich mich zum Beispiel mit Gästen zum Essen oder zum Gespräch zu- sammensetze, führe ich sie zuvor am Pfosten meiner Tür vorbei und da steht in unsichtbaren Buch- staben: Liebe deinen Gott, von ganzer Seele und aus allen deinen Kräften... Was kann das nun ande- res heißen, als daß ich eben meinen Gästen die Liebe erweise, die mir Gott sich gegenüber gebietet? Wie können wir unseren Gott überhaupt anders lieben, als daß wir ihn in unseren Mitmenschen er- kennen und ehren? An allen meinen Türpfosten, dort wo mein Leben verläuft und dem Leben ande- rer begegnet, dort soll das stehen, daß ich es nie vergesse: Höre, Mensch, du hast einen Gott und sollst ihn von Herzen lieben! Und diese Liebe geschieht eben in meinen Alltag, dort wo ich wohne und arbeite, schlafe und meine Freizeit verbringe. Oder sie geschieht nicht. Und diese Liebe tut eben etwas für den Mitmenschen der mir dort begegnet, mich dort braucht, fordert und vielleicht ärgert, oder sie tut nichts. Am Pfosten meiner Türen soll das geschrieben stehen, an jedem Pfosten, denn es gibt in meiner Wohnung und in meinem Leben keinen Raum, wo ich nicht unter diesem Gebot stün- de: Du sollst deinen Gott von ganzen Herzen lieben! Wie von selbst erklärt sich nun auch das andere. "Denkzeichen auf der Hand" und "Merkzeichen auf der Stirne"... Auf seinem Arm und zwischen den Augen trägt der fromme Jude die Kapseln mit dem Gebot: Du sollst deinen Gott lieben... Wenn wir nun auch hier genauer hinschauen und nach der tie- feren Bedeutung fragen, dann merken wir: Wie sinnvoll ist das doch, diese Worte...auf die Hand ge- schrieben: Höre, du hast einen Gott und sollst ihn von ganzem Herzen und aus allen deinen Kräften lieben! - Schaffe ich nicht mein Tagwerk mit meiner Hand? Ist es nicht mein Arm, den ich für jede Verrichtung, für jede Arbeit gebrauche? Erfährt nicht auch mein Mitmensch alles, was ich für ihn tue durch die Kraft meines Arms und die Geschicklichkeit meiner Hände? Und auf diesem Arm lese ich nun das Gebot: Du sollst... Und ich begreife, was es mir sagen will...gerade an dieser Stelle: Alles, was du mit deinem Arm schaffst und mit deinen Händen zustande bringst, soll unter dieser Weisung stehen: Liebe deinen Gott und liebe die Menschen, für die du mit deiner Hand, deinem Arm, deiner Kraft da sein sollst. Kein Werk gibt es also, keine Verrichtung, keine Arbeit, kein Regen meiner Hände, nicht eine Bewegung, die nicht unter dem Anspruch stünde: Du sollst Gott lieben... Und selbst die Hand, die untätig ist, der Arm, der nicht helfen will, die Kraft, die sich dem Tun für den Nächsten entzieht, stehen unter diesem Gebot...und werden von ihm verurteilt; denn ich soll Gott und die Menschen lieben, indem ich meine Kraft, mein Geschick, mein Können, meinen Arm und meine Hand für sie einsetze. Und schließlich soll dieses Gebot "Merkzeichen auf meiner Stirne" sein. Keinen Gedanken gibt es al- so, der nur mir gehörte, den ich denken könnte, ohne auf Gott und meinen Mitmenschen zu blicken. Alles, was in meinem Kopf vorgeht, hat eine Beziehung zu Gott und den anderen, denn all mein Denken geschieht unter dem Anspruch: Liebe deinen Gott! Dort, wo jeder Plan entsteht, wo die I- deen geboren werden, wo böse oder gute Gedanken gebildet, wo mein Wollen, mein Begehren, mei- ne Meinungen und Vorstellungen geformt werden, lese ich Gottes Gebot: Höre, dein Gott will, daß du ihn liebst in allen seinen Menschen! Die Sache mit den Lederkapseln und dem Pergamentstreifen darin mag ja für unsere Begriffe ein wenig fragwürdig sein: Wen - auch welchen frommen Juden! - erinnern sie wohl wirklich nach einer gewissen Zeit noch an den Inhalt des Gebotes, das in ihnen geschrieben steht? Aber lassen wir uns davon nicht den tieferen Sinn dieser Sache verdunkeln, der dahinter ist, wenn es heißt: Mach dir ein Denkzeichen auf deine Hand und ein Merkzeichen auf die Stirne und die Türpfosten... Lassen wir uns - auch wenn wir keine Juden sind - das heute sagen: Es gibt keinen Raum deines Hauses und deines Lebens, den Gott und dein Mitmensch nicht beanspruchen dürfte. Es gibt keine Tat, kein Werk, keine Arbeit, die du nicht vor Gott und deinen Nächsten verrichtest. Es gibt keinen Gedan- ken, keinen Plan, nicht die leiseste Regung deines Denkens, die nicht in Beziehung stünden zu dei- nem Gott und den anderen Menschen. Nehmen wir das auf! Und prüfen wir davor unsere Einstellung: Unser Streben, diesen oder jenen Be- reich unseres Lebens "für uns allein" zu behaupten. Unser Wollen, diese oder jene Arbeit "ganz allein für mich" zu tun. Sehen wir, wie wir denken und reden: Das ist "mein" Hobby! Diese Stunde des Tages gehört "allein mir". Es ist "meine Freizeit", die geht dich überhaupt nichts an! Diese Sache hat aber doch mit Gott nichts zu schaffen... Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft! Es gibt nicht den kleinsten Freiraum, der nicht unter Gottes und dem Anspruch des Nächsten stünde! Nicht eine Muskelfaser, nicht ein einziger Gedanke gehört allein mir. Wir werden umdenken müssen, liebe Gemeinde, gründlich umdenken!