Predigt am Sonntag "Invokavit" - 17.2.2002 Textlesung: Jak. 1, 12 - 18 Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet; denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Gott verheißen hat denen, die ihn liebhaben. Niemand sage, wenn er versucht wird, daß er von Gott versucht werde. Denn Gott kann nicht ver- sucht werden zum Bösen, und er selbst versucht niemand. Sondern ein jeder, der versucht wird, wird von seinen eigenen Begierden gereizt und gelockt. Danach, wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod. Irrt euch nicht, meine lieben Brüder. Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel des Lichts und der Finsternis. Er hat uns geboren nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, damit wir Erst- linge seiner Geschöpfe seien. Liebe Gemeinde! Ich denke mir, vier oder fünf Begriffe aus diesem uns doch recht fremden Text sind beim Hören hängengeblieben: Anfechtung, Versuchung, Begierde, Sünde, Krone des Lebens... Und diese Wörter hängen wohl auch untereinander zusammen nach der Meinung des Jakobus: Es gibt Anfechtungen, die wir aushalten müssen. Anfechtung kann zur Versuchung werden, wenn wir ihr zu viel Raum ge- ben. Versuchung wird durch die Begierde angestachelt. Dann - wenn ich nachgebe - falle ich in Sün- de. Wer aber dem allem widersteht erhält die Krone des Lebens geschenkt. So etwa haben diese fünf Gedanken miteinander zu tun. So etwa wird es Jakobus gemeint haben. Was mir nun aber dabei aufgefallen ist: Alle fünf Begriffe, die doch Schlüsselwörter dieses Textes sind, sprechen nur noch mit wenigen Menschen unserer Tage. Gehen wir doch einmal damit auf den Seltersweg in Gießen und fragen wir einen Passanten, was denn Anfechtung ist? Oder lassen wir einmal einen Jugendlichen vorn an der Bushaltestelle antworten, was er denn unter Begierde ver- steht? Schließlich könnten wir uns noch von zehn verschiedenen Menschen aus unserer Bekannt- schaft erklären lassen, was er denn mit Sünde verbindet. Immer wäre das Ergebnis das gleiche: Län- geres Nachdenken, dann eine vage Äußerung - und schließlich so viele Ansichten und Antworten wie Menschen, die wir fragen. Das hängt schon einmal damit zusammen, daß diese Begriffe einfach nicht mehr vorkommen in unserer Alltagssprache, allenfalls in sehr volkstümlicher, verharmloster und manchmal spöttischer Form: "Wir sind alle kleine Sünderlein", so wurde wieder im Karneval ge- sungen. Jakobus würde sagen: Wir Menschen sind große Sünder und haben eigentlich den Tod ver- dient. "Ich war versucht, alles hinzuschmeißen", sagte der Vorsitzende eines Sportvereins neulich in der Zeitung. Jakobus hat eine andere Versuchung gemeint, eine die das Leben kostet! "Was ficht dich an, mein lieber Mann", so hieß es neulich im Volkstheater. Anfechtung im Sinne des Jakobus ist ein schmerzliches und oft tödliches Ringen um das Heil, um die Gerechtigkeit Gottes. All diese Wörter, ja der ganze Text aus der Feder des Jakobus, müßte für unsere Zeit umgeschrieben werden. Vieles müßte erklärt werden, bei manchem würde ein Beispiel, ein Bild helfen, daß wir es verstehen können. - Liebe Gemeinde, ich habe das einmal versucht. Ich bin mit diesem Versuch scheinbar sehr weit weg von dem Text des Jakobus und ich hoffe doch, daß ich mit Gottes Hilfe die- sen alten Text in neuem Gewand habe frisch und lebendig werden lassen. Hier sind die Gedanken des Jakobus, nach bestem Wissen und Gewissen übertragen in unsere Zeit: Die Menschen haben es gut, die nicht immer gleich ihren Neigungen und Wünschen, ihren Bedürf- nissen und ihrer Lust nachgeben. Was erst wie ein Verzicht und ein Verlust aussieht, wird sich als Gewinn herausstellen: Diese Menschen finden Sinn und Erfüllung in ihren Tagen. Sie spüren, daß sie auf dem richtigen Weg sind und Gott sie liebhat. - Sie gleichen einem Mann, der sich lange Zeit manchen Luxus, den Urlaub, den Besuch der Wirtschaft und überhaupt jedes nur kurze Vergnügen versagt und lieber spart, um sich dann ein Auto oder ein Haus zu kaufen. Wenn uns das kurze Vergnügen mehr lockt und wir es nicht aushalten, für höhere Ziele und größe- ren Gewinn eine Zeit zu warten, dann bringen wir nicht Gott damit in Verbindung! So, als läge es an ihm, wenn wir zu schwach sind, zu sparen und die Erfüllung unserer Wünsche einmal aufzu- schieben. Nicht er schickt uns, was uns zu sehr reizt und verlockt. Nicht er macht, daß wir nicht stark genug sind. Das kommt aus uns selbst, und wir sind es auch selbst, die dem nachgeben oder standhaft bleiben. Gott steht himmelweit über diesen Dingen. Er hat damit nichts zu tun, wie er niemals mit irgend etwas Bösem zu tun hat. Er schickt uns auch nichts, was Böse ist oder so verlo- ckend, daß es Macht über uns gewinnt. Nein, was uns reizt, was uns da anstachelt, nachzugeben und lieber jetzt den kleinen Spaß zu wählen als später die große Freude - das ist in unserem Innern, in unserem Wesen, ja, in unserer Seele. - Wir können doch z.B. Gott nicht vorwerfen wollen, daß er uns all die Möglichkeiten geschenkt hat, uns zu zerstreuen oder zu unterhalten, wenn wir wegen dieser Unterhaltung etwa am Samstagabend dann zu müde sind, am Sonntagmorgen den Gottes- dienst unserer Gemeinde zu besuchen! Wir werden doch wohl auch Gott nicht dafür verantwortlich machen, daß er uns die schöne Frau oder den attraktiven Mann geschickt hat, unseren Lebensweg zu kreuzen, wenn wir dann mit dieser Frau oder diesem Mann die Ehe brechen! Schließlich ist es doch auch nicht Gott, der uns an irgend ein Laster bringt, ja, er läßt das auch nicht zu, wie wir ihm dann hinterher gerne vorwerfen. Es ist vielmehr so, daß Gott uns doch viele Mahner und Warner an den Weg stellt und auch an den Weg gestellt hat, damals, als es noch Zeit gewesen wäre und wir noch hätten umkehren können, weil das Laster noch keine Sucht war. Aus uns selbst kommt das. Wir selbst sind die handelnden Personen! Und doch nicht Gott, der uns Marionetten gleich in böse Taten, Schuld oder Abhängigkeit führt. Denn das gerade würden wir uns auch gar nicht gefallen lassen! Wir wollen ja immer frei sein, selbständig, nur uns selbst verantwortlich! Jedenfalls ist das, was aus unseren schlechten Taten entsteht, dann unsere Schuld! Und unsere Schuld trennt uns von Gott, denn sie ist auch immer eine Abkehr von dem Weg, den er uns führen will und dem Ziel, das er für unser Leben gesetzt hat. Das Geschöpf wendet sich also gegen das, was der Schöpfer mit ihm vorhatte. Dieses Verhalten hat den Tod verdient. Denken wir doch nur, da schwingt sich ein Stück Ton auf dazu, dem Töpfer, der es zu einem Krug formen will, vorzu- schreiben, er müsse aus ihm aber eine Schale bilden! Was wird der Töpfer mit dem aufsässigen Stück Ton machen? - Wir sollten uns nichts vormachen und uns nichts einbilden: So klug sind wir gar nicht! So tief und bezwingend sind unsere Gedanken nicht. Von Gott aber kommt alles Gute, al- les, was wirklich förderlich und hilfreich ist für unser Leben. Warum verlassen wir uns nicht - statt aller Klügelei und allen Dünkels - auf Gott? Er ist nicht dem Wechsel von Licht und Finsternis un- terworfen. Was er sagt ist immer wahr. Was er mit uns vorhat ist immer richtig. Wie er es mit uns meint, dahinter steht immer die Liebe! Gott ist unser Ursprung. Er hat uns geboren, wie eine Mutter. Er hat uns gewollt mit allem, was wir sind, haben und können. Wenn wir gute Gaben in unseren Händen haben, dann sind sie von ihm. Wenn wir Talente besitzen, dann kommen sie von ihm. Wenn wir uns wohlfühlen in der Welt und in unserem Leben, dann verdanken wir den Platz, an dem wir sind, der Güte Gottes. Gott hat uns so sehr begabt, weil er uns zu Erhaltern und Bewahrern seiner Schöpfung haben will. Wie einen Gärtner für die Pflanzen oder wie einen Pfleger für die Tiere und nicht zuletzt als Bru- der oder Schwester für unsere Mitmenschen hat er uns große Verantwortung gegeben. Alles war herrlich und schön, als es einst aus seiner Hand hervorging. Wir sollen die Welt bebauen und be- arbeiten, daß wir nichts zerstören, sondern das Schöne und Wunderbare in allen Dingen entdecken, bestaunen und ehrfürchtig nach Gottes Willen behandeln und nach seinem Plan entwickeln. Und heute - da so vieles nicht mehr so ist, wie Gott es einmal gemeint hat - sollen wir Menschen werden, die nach Kräften dafür arbeiten und sich einsetzen, daß Raffgier, Neid, Mißgunst, Gewalt und das Streben nach Reichtum und Geltung nicht immer noch mehr und immer mehr kaputtmachen. Viel- mehr sollen wir unsere Stimme für Gottes Sache erheben, seinen Willen unter den Menschen sagen und vorleben und uns so der Verantwortung, die Gott uns anvertraut hat, würdig erweisen. Liebe Gemeinde, so spricht dieser alte, schwierige Text vielleicht doch besser mit uns. So sind hof- fentlich nicht nur vier oder fünf Wörter hängengeblieben, sondern ein paar gute Gedanken, einige Denkanstöße, ein Vorsatz und eine wesentliche Tat in den kommenden Tagen - in Gottes Segen!