Predigt zum 2. Christtag - 26.12.2001 Textlesung: 2. Kor. 8, 9 Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet. In einer Gemeinde unserer Kirche wurde vorgestern nicht Heiligabend gefeiert, sondern Karfreitag. Der Pfarrer dort hat die Kerzen am Christbaum gelöscht und das Krippenspiel fiel aus. Dann wurde nicht "O du fröhliche" gesungen, sondern das Lied: "Jesu, deine Passion will ich jetzt bedenken". Nach der ersten Strophe war die Kirche leer. Laut schimpfend haben die Leute die Christvesper verlassen. Man kann das ja auch verstehen. - Nicht verstehen können sie jetzt sicher, warum dieser Pfarrer so gehandelt hat, warum macht er den Menschen ihren Heiligabend kaputt? Kurz vor dem Gottesdienst hatte sich folgendes abgespielt: Ein junger Strafentlassener war nach Hause zurückgekehrt. Da ihn die eigenen Eltern nicht aufnehmen wollten, war er zum Pfarrer ge- gangen. Der hatte ihm Obdach gewährt und ihn zur Christvesper eingeladen. Und da war er jetzt und drängte sich in eine schon voll besetzte Bank. Der Pfarrer beobachtete es durch die angelehnte Sakristeitür. Und er freute sich, daß der junge Mensch gekommen war. In den nächsten Minuten geschah allerdings etwas Ungeheuerliches: Einer nach dem anderen in der Bank des Strafentlasse- nen stand auf und suchte sich einen Platz in den anderen - auch schon gut besetzten - Bankreihen. Schließlich saß der junge Mann völlig allein in seiner Bank. Aber nicht lange: Er stand auf und ging hinaus. - In diesem Moment war der Pfarrer durch die Sakristeitür getreten, hatte die große Deckenbeleuchtung aufflammen lassen und die Christbaumkerzen ausgedreht. Mit Donnerstimme hatte er in die Kirche gebrüllt: "Wir singen Lied 88, Jesu, deine Passion..., denn heute ist Karfrei- tag, heute wurde unser Herr Jesus Christus ein weiteres Mal gekreuzigt!" So war das gewesen, vor- gestern. Darum hat es in dieser Gemeinde keinen Heiligabend gegeben. Einer der schimpfenden Christvesperbesucher hatte es ziemlich laut ausgesprochen: "Mit einem so heruntergekommenen Menschen setze ich mich nicht in die selbe Kirchenbank!" Wie hätten sie reagiert, liebe Gemeinde, sie, sie und sie? - Was erwarten wir an Heiligabend oder auch heute am 2. Weihnachtstag? Den Glanz der Kerzen! Die Gefühle der Kindheit! Diese Stim- mung - mild und weich wie Watte. Wieviel Störung könnte unser Gefühl ertragen? Wer möchte sich schon von Lumpenpack die weihnachtliche Atmosphäre verderben lassen? Wer setzte sich ne- ben einen so heruntergekommenen Menschen? Manche denken jetzt sicher: Aber es ist doch Weihnachten! Das macht doch gerade das Schöne an diesem Fest aus, daß der Lichterbaum strahlt, daß die Kinder ihr Krippenspiel aufführen, daß wir selbst auch einmal wieder Kind sein dürfen. Kann man uns das denn nicht gönnen, wo das Leben in dieser Zeit doch wirklich oft genug hart und freudlos ist! Und wo es doch auch immer wieder ein ganzes Jahr dauert, bis es wieder heißt: "Selige Weihnacht"! - Aber, sagen sie einmal: Genügt uns das denn, dieses bißchen Stimmung, diese gefühlige Stunde in der Kirche, das kleine Licht, das von diesem Gottesdienst ausgeht - schon morgen wird es sich aufgezehrt haben. Wollen wir nicht ei- gentlich viel mehr? Sind unsere Wünsche nicht unendlich viel tiefer? Sehnen wir uns nicht unsäg- lich nach... Freude, nach Sinn und erfülltem Leben? Was ist denn der kleine Schauer, den es uns bei "Stille Nacht" über den Rücken treibt? Was sind denn die Wehmut und unsere Tränen der Er- griffenheit beim Spiel der Kinder - gegen das, was wir eigentlich mit jeder Faser unseres Herzens ersehnen: das volle, wahre Leben, das uns froh und satt macht? Andere würden vielleicht darauf hinweisen, wie wenig das doch zusammenpaßt: Das schönste, höchste Fest der Christen, die herrlichen Lieder von der Geburt des Gottessohns, das Strahlen der Lichter, die gehobene Stimmung der Menschen zur Weihnacht - und dann ein Strafentlassener, ei- ner von außerhalb der Gesellschaft, einer, der stört, der nicht hierher paßt, in schmuddeligen Klei- dern wahrscheinlich... - Haben wir eigentlich die Hirten bei der Krippe gesehen? Haben wir wahr- genommen, was das für Leute sind? Einer ging an Krücken! Einer hatte keinen Mantel! Ein dritter hat früher einmal die Kaufleute auf den Gebirgsstraßen überfallen. Einem vierten sieht man sein geistiges Gebrechen schon am Gesicht an. Haben wir sie nicht gesehen? Und das Kind? War das nicht ein Futtertrog, in dem es lag? Hatte nicht gerade noch der Esel daraus gefressen? Und liegt nicht über dem Ganzen dieser strenge Stallgeruch? Ja, paßt denn das zu Weihnachten? Und dann sind sicher noch einige unter uns, die würden von sich sagen: Ich hätte mich zu diesem jungen Menschen in die Bank gesetzt! Gut, das wäre vielleicht ein bißchen unangenehm gewesen, wenn dann alle so nach einem gucken... Aber man kann doch nicht so sein, so kalt und abwei- send... doch nicht an Heiligabend! - Kennen wir uns selbst gut genug? Einer nach dem anderen hat die Bankreihe verlassen. Einer nach dem anderen läßt den Strafentlassenen allein. Wir wären ge- blieben??? Wie hatte der Pfarrer in der Christvesper angesichts der kalten Herzen dieser Menschen gesagt?: "Heute wurde unser Herr Jesus Christus ein weiteres Mal gekreuzigt!" Ja, war denn Christus in die- sem heruntergekommenen jungen Mann? Ja, war er nicht viel mehr bei und in den anderen recht- schaffenen Gottesdienstbesuchern? Hören und sehen wir noch einmal genau hin: Da ziehen zwei arme Leute über Land nach Bethlehem. Sie ist schwanger und doch hat keiner Herberge. Alle wei- sen sie ab und kennen kein Erbarmen. Schließlich schickt sie einer in den Viehstall zu den Tieren. Kalt und zugig ist es da gewesen. Dort bekommt die Frau ihr Kind. In eine Futterkrippe muß sie es legen. Auf Stroh muß sie es betten, das sonst dem Vieh zum Lager dient. Das Lumpengesindel der Hirten ist zuerst zu Gast. Wie gesagt: Alles Außenseiter der damaligen Gesellschaft, Behinderte, Arme, unansehnliche Leute... Und das Kind, das da so elend anfängt? Ist später nicht alles so ge- blieben? Immer dieser Hang zu den Menschen am Rande, zu den Verachteten, den Zöllnern, den Sündern. Und er selbst? Blieb er nicht der Arme, der nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegen konn- te? Haben sie ihn selbst nicht auch hinausgedrängt aus ihrer Gemeinschaft? Haben sie ihn nicht auf die Leidensstraße geschickt, auf den Kreuzweg, in den Tod? Ja, stirbt er nicht, wie er gelebt hat: als der Ausgestoßene, der Verachtete, der Heruntergekommene? So sagt Paulus: Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, da- mit ihr durch seine Armut reich würdet. Ob das nicht gerade "die Gnade des Herrn" ist, in der Gestalt eines solch armen Kindes zur Welt zu kommen? Ja, ob nicht Christus, der im Viehstall begann und am Kreuz endet, gerade in dieser Ar- mut das Gesicht Gottes trägt, der es von Anfang an und immer mit den Randsiedlern und den Au- ßenseitern gehalten hat? Wahrhaftig: Durch seine Armut werden wir reich! Das tut Gott um un- sertwillen, daß er so tief hinabsteigt, um uns nah zu sein und uns emporzuheben. Aber wer begreift das? Und wer erträgt das? Wer mag das hören: Ich bin nicht im Glanz eures Lichterbaums und nicht in der Süße eurer Lieder? Ich will nicht die weichen Gefühle eures Herzens und die wohligen Schauer beim Krippenspiel? Ich will mich als Bettelkind in einen Viehtrog legen! Ich will mich als der Strafentlassene in eure Bank setzen! Ich will in den Mühseligen und Belade- nen, den Verachteten und Verfolgten, den Kranken und Ausgestoßenen, den Habenichtsen und Er- folglosen sein! Ich will so herunterkommen - aus meinem Himmel, für euch! - Wer begreift das? Aber ein für allemal: So ist Gott: Armes Krippenkind, ein Mensch ohne Herberge, einer, der den unteren Weg geht, der Verlierer am Kreuz, der vom Rand der Gesellschaft, der Kranke, der Behin- derte, der Strafentlassene... In Christus zeigt sich Gott, in dem jungen Mann, den sie allein lassen, in jedem Menschen, der uns arm, mühselig und beladen gegenübertritt. Und in uns selbst auch! Nehmen wir uns doch nur einmal ehrlich wahr: Wir sind ja gar nicht unser neues Kleid! Wir sind ja gar nicht so froh und weihnachtsselig heute morgen! Wir haben uns oft nur kostümiert und ein fröhliches Gesicht vorgehalten wie eine Maske! Wir sehnen uns danach, einmal echt sein zu dür- fen. Wir wünschen uns nichts mehr, als volles, erfülltes Leben! Wir suchen hier nicht das bißchen Glanz und die paar Tränen der Rührung; wir suchen die Freude, die morgen noch bleibt und uns und alles neu macht! - Und wir haben gefunden! Er ist da, der uns Gott als unseren Bruder und un- sere Schwester zeigt! Der von oben kommt und reich war, wollte nicht oben bleiben, sondern arm werden. Er ist heruntergekommen - in Jesus, einer von uns geworden in ihm und allen, die arm, klein und elend sind wie er. Und er ist uns ganz nah, wenn wir selbst zu unserer Mühsal stehen, zu unserer Sehnsucht, unserer Angst und Schwäche. Wir dürfen unsere Masken vor ihm fallenlassen. Er ist ja wie wir geworden. Wir dürfen ihn Bruder nennen und er wird uns Frieden schenken, Freu- de und wahres Leben. "Er wurde arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet." Wir können - durch Gottes Geist - alles abtun, was uns noch hindert, ihn aufzunehmen. Wir werden in Christus Gott erkennen, den armen, ohnmächtigen, elenden, heruntergekommenen Gott..., der ist wie wir. Und wir haben damit Gottes Geheimnis von Weihnachten erkannt: Arm zu sein für uns. Den Himmel zu verlassen und zu uns herabzusteigen, einer von uns zu werden und damit uns zu seinen Brü- dern und Schwestern zu machen. Ärmer als dieser Gott in der Krippe ist keiner von uns! Wer ihn in sei- nem Herzen aufnimmt, der hat wahres, erfülltes Leben! Wer ihn abweist, wird zufrieden sein müssen mit ein bißchen Glanz in den Augen, ein wenig Gefühl in einer Christvesper und ihrer "ungestörten" aber auch oft unechten Weihnnachtsatmosphäre. Den wahren Gott, der arm wird für uns, lernt er so nicht kennen. Das wahre, das volle Leben wird er so nicht finden. In einer Gemeinde unserer Kirche wurde vorgestern nicht Heiligabend gefeiert, sondern Karfreitag. Die Besucher der Christvesper dort haben nicht begriffen, daß Gott in der Gestalt eines herunterge- kommenen Menschen zu ihnen kam. Schenke Gott uns, daß wir ihn begreifen, daß wir ihn emp- fangen und er uns in seiner Armut froh macht. Schenke uns Gott, daß wir in allen Brüdern und Schwestern, die arm und elend sind, ihn erkennen und aufnehmen. Schenke uns Gott, daß wir auch uns selbst annehmen können, so schwach und mühselig wir auch immer sein mögen. Kleiner und elender als dieser Gott in der Krippe ist kein Mensch. Mit ihm als Bruder haben wir das Leben. So wird es Weihnachten für uns! AMEN