Predigt zum Vorl. Sonnt. des Kj. - 18.11.2001 Liebe Gemeinde! "Volkstrauertag" heißt dieser Tag für die bürgerliche Gemeinde. Wir verbinden damit Gedanken an die beiden großen Kriege des vergangenen Jahrhunderts, an Millionen Gefallene, Verschleppte, Vermißte... Auch Gedanken an eigene Familienangehörige stellen sich ein, werden heute groß und schaffen neue Trauer und Tränen. Es ist gut, daß nichts von alledem vergessen wird. Auch unserem eigenen Herzen tut das gut, daß wir uns erinnern. Auch daß wir uns immer wieder neu bewußt ma- chen, daß dergleichen nie mehr geschehen darf, ist wichtig. Wir wollen dabei auch die Aufgabe se- hen, die wir selbst haben: In der Friedenserziehung an unseren Kindern und Enkeln, in unserem En- gagement für die Versöhnung der Völker und der Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Kultur. Nicht der geringste Auftrag, der von diesem Tag ausgeht ist wohl, daß wir uns auch ganz persönlich zur Trauer rufen lassen, zum ehrlichen Erkennen von Schuld und ihrer Verarbeitung - wie sie unserem Christenglauben gemäß ist. Hierzu erwarten wir die Hilfe der Kirche, der Schrift, der Predigt an diesem Sonntag. Diese Hilfe wird uns in den Worten des Jeremia - zu diesem Tag und seinem Thema - angeboten: Textlesung: Jer. 8, 4 - 7 Sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstün- de? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, daß sie nicht umkehren wollen. Ich sehe und höre, daß sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt. Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltau- be, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen. Vielleicht können wir die Hilfe zu echter Trauer nicht gleich erkennen, die in diesen Versen liegt. Sehr verwirrend kommen die Bilder und Begriffe des Propheten daher: "Einer fällt und steht nicht wieder auf - Menschen laufen in die Irre und kommen nicht wieder zurecht - sie halten fest am fal- schen Gottesdienst - sie wollen nicht umkehren - sie reden nicht die Wahrheit - sie laufen dahin wie Pferde in der Schlacht - Storch und Turteltaube wissen das, was Menschen nicht wissen - das 'Recht des Herrn' ist unbekannt". Ein Wort - mitten drin in diesen Versen - kann uns das alles ordnen helfen: "Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan!" Hier liegt der Schlüssel, der uns die Tür zu den Worten des Jeremia aufschließen kann - und zur rechten Trauer auch! Wie geht das zu bei uns - in diesen Tagen und schon immer, wo sich Menschen in Bosheit und Schuld verstricken?: Ich kenne einen Mann, der hat vor vielen Jahren seine Familie verlassen, um einer jüngeren Frau wil- len. Angeblich hatte man sich "auseinandergelebt", vollzog also nur, was im Leben länger schon Wirklichkeit war... Im Grunde und ganz ehrlich betrachtet war es allerdings die Attraktivität der jüngeren Frau, die nicht bewältigte Krise der Lebensmitte, das Bedürfnis des Mannes, sich - als Mann - zu bestätigen... Darum wurde das Versprechen der lebenslangen Liebe und Treue mit Füßen getreten. So ist damals Schuld entstanden. Nun hat der Mann, von dem ich rede, nicht etwa später einsehen können, daß er damals den falschen Weg gegangen ist! Wenn er schon nicht wieder alles hätte gut machen können, so wäre es für ihn selbst doch heilsam gewesen, Schuld Schuld zu nennen, falsches Handeln einzugestehen. Sprechen: "Was hab ich getan!", hat er nie gekonnt. Er hat sein Le- ben lang die Lüge aufgebaut und mit viel Zeit und Energie gestützt und begründet: "Ich habe damals richtig entschieden! Es war gut, was ich tat!" Wohlgemerkt: Ganz tief in seinem Herzen weiß er um seine Schuld! Nur: Sie ist ihm nicht leid. Er kann nicht "trauern". Er ist gefallen, will aber nicht wie- der aufstehen! Er ging in die Irre, will aber nicht zurechtkommen! Eine junge Frau kenne ich, die schleppt seit Jahren eine Schuld mit sich herum. Sie hat einem sehr nahestehenden Menschen eine große Gemeinheit angetan. Wer beschreibt die Mühe, die sie sich gibt, die Sache aus ihrem Gedächtnis zu streichen, sie zu verdrängen. Ihr Gewissen allerdings funk- tioniert gut, zu gut, als daß ihr das Vergessen gelänge: Manchmal - in der Nacht - wacht sie auf mit verschwitzter Stirn und bedrückenden Bildern vor Augen. Oft - über Tag - überfällt sie die böse Er- innerung. Anstrengend jedesmal die Gedanken, die sich schmerzhaft einnisten wollen, wieder abzu- schütteln! Die Kraft, die das kostet! Der Druck auf ihrer Seele! Nein, sie kann es nicht, sprechen: "Was hab ich getan!" Noch läuft sie ihren Lauf, wie ein Pferd, das in der Schlacht dahinstürmt! Wie lange noch? Und ich kenne noch so viele, die mir in Alltagsgesprächen oder in der Seelsorge begegnen: Immer wieder kommt man doch an den Punkt, wo es wehtut, wo die Lüge sitzt und der Schmerz, wo wir vertuschen und verharmlosen wollen und wo wir niemals fertig werden... Nein, man muß es gar nicht aufdecken wie ein Untersuchungs-Richter. Die Menschen selbst wollen es immer wieder an- sprechen und vor einem auftun wie ein Fenster zu ihrer Seele. Wir sollen da hineinschauen! Wir sol- len uns dazu äußern - möglichst so, daß wir die Lüge unterstützen, die Wahrheit verschleiern, das Gewissen beruhigen... Viele Menschen gleichen den Gefallenen, die nicht wieder auf die Beine kommen wollen! Viele gehen den Irrweg und wollen nicht umkehren. Am Ende gar wir selbst!? So spricht der Prophet im Auftrag Gottes: "Ich sehe und höre, daß sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan!" Darum geht es, liebe Gemeinde am Volkstrauertag: Schuld erkennen, annehmen als Schuld und be- reuen, sagen: Mir ist es leid, was ich tat. Hier ist der Schlüssel zu den Worten des Propheten, der Schlüssel zu den Bildern, die er vor uns malt, der Schlüssel zur rechten Trauer: So stehe ich auf, wenn ich gefallen bin, indem ich sage: Ja, ich hätte das damals nicht tun sollen, es war schlecht, wie ich gehandelt habe; es ist mir leid. So kann ich fertig werden mit der Schuld, gut- machen, wo es noch möglich ist, Bosheit durch Trauer verarbeiten. Anders nicht. So kehre ich um, laufe den falschen Weg ein Stück zurück, um dann den neuen Weg einzuschlagen, indem ich beken- ne: Ich war gemein, damals! Ich habe dich verletzt und dir Schmerzen zugefügt! Nicht mehr ent- schuldigen, sondern Schuld bejahen ist das! Nicht mehr beschönigen und verdrängen, sondern an- sprechen und auf sich nehmen. Schuld wird Schuld genannt - und kann so vergeben werden. Nur so! So reden wir "die Wahrheit", so halten wir ein in unserem Lauf, so wahren wir das Recht Gottes und achten seine Ordnung, die da heißt: Schuld ist Schuld, sie muß angenommen sein, bereut sein, ange- sprochen sein vor Gott und den Menschen, dann kann sie weggenommen werden im Wort der Ver- gebung. Anders nicht! Wollen wir es wirklich weiter dem Storch, der Turteltaube und dem Kranich überlassen, Gottes Recht und seine Ordnung zu kennen? Soll uns die Schwalbe das Wissen voraushaben, wann sie zu- rückkehren muß? Laßt uns die Schuld unseres Lebens suchen und auf uns nehmen. Laßt uns das Bö- se unserer Jahre ansprechen und gut machen, wo wir es können. Laßt uns Schluß machen mit dem Trug und der Selbsttäuschung! Vielleicht mag das ja doch ein wenig Licht in das Dunkel dieser Gedanken bringen, wenn wir hören: Gott will uns nicht auf dem Boden der Erkenntnis unserer Schuld liegen lassen! Er richtet uns auf, spricht zu uns: Ich verzeihe dir, du bist mein liebes Kind! Er demütigt uns nicht nur, er zieht uns auch wieder zu sich herauf. Das ist doch - bei allem Ernst dieser trüben Stunde des Bereuens - ein Stück Evangelium: Du kannst den richtigen Weg beschreiten, du kannst zurechtkommen, du kannst aufstehen und aufrecht vor Gott gehen! Noch einmal: Laßt uns die Schuld, die uns drückt nicht länger verschweigen! Laßt uns Gottes Ord- nung achten. Laßt uns die Trauer lernen, die Trauer, die Gott meint.