Predigt zum 17. So. nach Trin. - 7.10.2001 Textlesung: Joh. 9, 35 - 41 Es kam vor Jesus, daß sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn? Er antwortete und sprach: Herr, wer ist's? daß ich an ihn glaube. Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist's. Er aber sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an. Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden. Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn: Sind wir denn auch blind? Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde. Liebe Gemeinde! Gewiß hat sich jetzt jede und jeder hier auch gefragt: Bin ich blind oder sehend? Auch ich mußte mich das fragen und alle Menschen, irgendwann und immer wieder in ihrem Leben. Vielleicht hat mancher von uns auch gedacht, wenn das so ist: "Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde", dann wäre es doch vielleicht gut, blind zu sein? - Wir wollen, wenn wir heute sehend sind, gewiß nicht mehr dorthin zurück, blind zu sein! Ich glaube auch nicht, daß, wenn wir uns das wünschen könnten, wirklich die Sünde von uns abfiele. Das wäre ja, als ob wir vom liebsten Menschen, den wir haben, sagen würden: Hätte ich dich doch nie kennen und lieben gelernt! Wer könnte so sein, so reden? Und wer meinte dann, er könnte sich von diesem Menschen trennen, ohne schuldig zu werden? Nein, wir müssen von der anderen Seite herangehen, von der Seite, auf der wir doch alle heute mehr oder weniger stehen: Wir sind sehend! Wir haben Jesus Christus erkannt, wir wissen, wer er ist und wir haben den Glauben an ihn gefunden! Zwei Gedanken knüpfen hier an. Der erste ist ernst, der zweite ist schön und beglückend. Es geht um eine schwere Entscheidung: "Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt ge- kommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden." Das ist wirklich sehr ernst und folgenreich. Das stellt uns die Frage: Wenn wir doch sehend sind, wie hüten wir uns da- vor, blind zu werden? Es geht aber auch um das große Glück, daß wir zu denen gehören dürfen, die sehen, die Jesus Chri- stus kennen und liebhaben. Aber besser als tiefe Worte können uns Erfahrungen aus dem Leben deutlich machen, was auf dem Spiel steht und welchen Schatz, welchen Reichtum wir doch in Händen haben: Es gibt sehr viele Menschen, die haben von guten, christlichen Eltern in ihrer Kindheit das Beten ge- lernt, sie haben von Jesus gehört, von Gottes Liebe und der Vergebung der Sünden. So haben sie schon früh in ihrer Kindheit zum Glauben gefunden und dieser Glaube hat sie lange Zeit getragen. Irgendwann aber, meist in einer schwierigen Lebenssituation, wenn die Tage oder gar Jahre kamen, die dunkel und leidvoll für sie waren, dann haben sie aufgehört zu beten, ihren Halt und ihre Hilfe woanders gesucht und manchmal den Glauben fortgeworfen wie ein altes Kleidungsstück, das ihnen nicht mehr gefiel und nicht mehr paßte. Ich will gar nicht sagen, daß sie das leichtfertig getan haben! Vielleicht war das Schicksal, das ihnen begegnet ist, zu hart für ihren noch ungefestigten Glauben. Vielleicht war ihr Vertrauen zu Gott nicht mitgewachsen, als sie vom Kind zur Frau oder zum Mann gereift sind. Oder - auch das gibt es - sie haben in ihren guten Jahren den Abstand zu Gottes Sache zu groß werden lassen, ihre Hände nicht mehr täglich gefaltet und sind so in Glaubensdingen sozusagen aus der Übung gekommen. Je- denfalls wurden hier Menschen, die erst sehend waren, blind. Gott sei Dank aber, kann es auch umgekehrt gehen. Und auch dafür gibt es viele Beispiele: Das Kind, an dessen Bett keine Mutter und kein Vater je ein Gebet gesprochen hat, macht im Reli- gionsunterricht besser mit als alle anderen, kann gar nicht genug von den biblischen Geschichten hö- ren und gewinnt noch in der Schulzeit eine lebendige Beziehung zu Jesus Christus, läßt sich in der Konfirmandenzeit taufen und bleibt ein Leben lang seinem Konfirmationsversprechen treu. Der Erwachsene, der zwar getauft und konfirmiert ist, bei dem Jesus oder die Gemeinde der Chri- sten aber eigentlich nie eine wirkliche Bedeutung gehabt hat, wird durch ein besonders schönes oder auch schweres Erlebnis ein ganz anderer Mensch. Er kehrt zurück zum Gott seiner Kindheit und Ju- gend. Er kann auch den Glauben, der bei ihm nie die rechte Tiefe gehabt hat, wieder aufnehmen - und jetzt empfängt er ihn erst richtig, erfährt seinen Wert, seinen Trost und Reichtum. Und selbst alte Menschen verändern ihr Verhältnis zu Christus oft noch - und wir müssen sie dann nicht verdächtigen, es treibe sie ja doch nur die Angst vor dem Tod, die Panik des erwarteten Ge- richts oder die Aussicht auf die ewige Verlorenheit. Es mag ja schade sein und traurig auch, wenn einer, der alt geworden ist, sein ganzes Leben ohne oder fern von Gott verbracht hat. Aber warum soll denn nicht die Weisheit des Alters einen Menschen auch näher zur Weisheit und zur Gnade Got- tes bringen? Oft genug, so denke ich mir, wird dann die Freude über die so spät entdeckte Perle auch den Schmerz darüber schüren, sie nicht schon viel früher gesucht und gefunden zu haben. Liebe Gemeinde, was nehmen wir uns nun aus diesen Gedanken? Vielleicht dies: Freuen wir uns, wenn wir sehend sind und vielleicht unser ganzes Leben bisher an der Hand Gottes leben durften. Freuen wir uns, wenn wir auch andere Zeiten erfahren mußten und jetzt doch wissen, zu wem wir gehören, wer unser Herr ist und daß er uns einmal durch den Tod hindurch ins Leben führen wird. Und freuen wir uns auch dann, wenn wir heute bekennen müssen, daß wir keineswegs gefestigt im Glauben und unangefochten von Zweifeln und Ängsten sind. Das kann mit Gottes Hilfe noch ganz anders werden! Es gibt nichts, was endgültig wäre und es gibt keine Sicherheit im Glau- ben! Gott schenkt ihn den einen und behält ihn den anderen vor. Er prüft die einen hart und die an- deren dürfen schon immer auch in Glaubensdingen auf breiten, gebahnten Wegen gehen. Warum das so ist? Wir wissen es nicht. Gott weiß es! Was wir aber wissen, ist dies: Wir haben noch Zeit, unse- ren Glauben immer wieder zu gewinnen, neu zu suchen, zu entdecken und zu bewähren. Wir haben Zeit, auch in unserem Leben, so alt oder so jung wir sind, Jesus Christus zu finden, ihn bei uns auf- zunehmen und uns von seinem Willen leiten und bestimmen zu lassen. Was mir viel Trost gibt an den Worten Jesu, auf die wir heute gehört haben, verstehen wir vielleicht zuerst als eher düster und bedrohlich: "Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen..." Aber heißt das nicht eigentlich auch, daß wir nicht drüben, in Gottes Reich vor dieses Gericht treten müssen, sondern eben - Gott sei Dank! - schon hier und heute! Dieses Gericht spielt hier, in dieser Welt! Vor seinen Schranken soll keiner, der sehend ist, blind werden! Es sollen alle, die blind sind, endlich sehen! Darum ist Christus zu uns gekommen! Darum geht er hier auf den Blinden zu, genau wie er auf uns alle irgendwann und immer wieder zugeht, und fragt ihn: "Glaubst du an den Men- schensohn?" Und weil er hier ja sagen kann, kommt er in kein Gericht mehr. Und genau so geht es uns: Im Glauben an Jesus Christus sind wir durch das Gericht hindurchgegangen. Wir müssen allerdings auch das bedenken, und das ist wieder ernst und bedrängend: "Das hörten ei- nige der Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn: Sind wir denn auch blind? Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde." Wir könnten daran begreifen, wie doch alles noch im Werden, Wachsen und im Wandel ist. Nichts ist schon ausgemacht. Daß sie sehend sind, "wissen" nur die Pharisäer, aber gerade das macht sie blind! Daß sie ihren Glauben für immer fest im Herzen haben, meint nur die fromme Überheb- lichkeit. - Wir aber wollen demütig sein, aber auch nicht ängstlich, sondern voll Vertrauen, daß Gott selbst uns den Glauben schenken und erhalten will. Wir wollen barmherzig mit denen bleiben, die nicht oder noch nicht zu Jesus Christus gefunden haben. Wir wollen uns am Glauben erfreuen, aber nie vergessen, daß wir ihn nur Gott verdanken und daß er niemals ein Besitz ist, sondern allemal nur eine Leihgabe, wenn auch eine überaus wertvolle! Wir wollen sie pflegen und das unsere tun, sie zu bewahren und sie in allen Lebenslagen voller Zuversicht einsetzen. Sind wir blind oder sehend? - Wo wir sehen dürfen, erhalte uns Gott die Dankbarkeit darüber. Wenn wir sagen müssen: Ich bin blind, dann helfe uns Gott, daß wir nicht ablassen, ihn um Glauben zu bit- ten. Ich bin sicher, Gott wird hören und uns schenken, daß wir sagen können: "Ja, ich glaube an den Menschensohn!"