Predigt am 12. So. nach Trinitatis - 8.9.2019 Textlesung: Mk. 8, 22 - 26 Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre. Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas? Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen. Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, so dass er alles scharf sehen konnte. Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf! Bei aller Hochachtung für Jesus - was geht uns diese Geschichte eigentlich an? Sind wir blind? - Nun gut, vielleicht muss der eine oder die andere von uns eine Brille tragen. Die Augen mancher älteren Leute sind ein wenig trübe - das kommt mit den Jahren. Manchmal schwächt auch der Star unser Augenlicht. Aber „blind“ sind wir nicht. Im Gegenteil: Wir sehen eigentlich recht gut und sind Gott dankbar dafür. Was soll uns also diese Geschichte? Überhaupt seltsam, was uns da erzählt wird: Jesus nimmt den Blinden „bei der Hand und führt ihn hinaus vor das Dorf“ - also dorthin, wo es ganz einsam ist und menschenleer. Aber was geschieht, als er dem Blinden „Speichel auf die Augen getan“ und „die Hand aufgelegt hat“? Er sieht Menschen umhergehen, als sähe er Bäume! Ja, wo kamen denn, bitteschön, die Menschen her, draußen vor dem Dorf, in der Einöde? - Ob uns das nicht auf den Gedanken bringen soll, dass hier noch eine ganz andere Blindheit gemeint ist - gar nicht die der Augen, sondern die des Herzens? Und gar nicht für die Farben und die Dinge, sondern für die Menschen? Sagen wir nicht auch von hartherzigen Zeitgenossen: „Sie sind blind für ihre Mitmenschen!“ Sprechen wir nicht oft so: „Sie hatte keine Augen für die Not ihrer Nachbarin!“ - „Er wollte nicht sehen, wie sehr sein Nächster leiden musste.“ - Doch, das gibt es: Dass unser Auge klar ist - und wir doch nicht sehen. Dass unser Blick ungetrübt ist - und wir doch nicht erkennen, was der andere braucht, wie einsam er ist, was er sich wünscht, worüber er traurig ist und wonach er sich sehnt. Ob uns diese Geschichte nicht etwas über diese „Blindheit des Herzens“ sagen will? Ob es nicht darum heißt - nachdem Jesus ihm die Hand aufgelegt hat: „Er sah die Menschen, als sähe er Bäume umhergehen“? Der Blinde konnte sie wohl vorher nicht sehen. Er schaute wohl immer nur auf sich und das Eigene, blieb mit den „Augen seines Herzens“ immer bei sich selbst, konnte sich nicht lösen von seinem Weg, seinen Interessen, seinem Wohl und seinen Wünschen. Das erste, was er bei Jesus lernt, ist, „die Menschen sehen“, undeutlich zwar, schemenhaft, grob wie Bäume - aber doch: die Menschen! Ob es darum nicht vielleicht doch unsere Geschichte sein könnte, die uns heute erzählt wird? Ob wir nicht auch auf diese Weise „blind“ sind, in unserem Herzen, für die Menschen? Ich kann unseren Einwand jetzt geradezu hören: Aber das stimmt ja gar nicht! Wir sehen doch, wie manche unserer Mitmenschen leiden müssen! Das geht uns doch nah, wie freudlos schon viele Kinder aufwachsen müssen. Und wir hören wohl den Schrei nach Brot, wie er in der Dritten Welt laut wird. Und um die Not so vieler Menschen in unserer Nähe wissen wir wohl. Wer könnte denn seine Augen verschließen, wenn sein Nachbar Hilfe braucht oder sein Kollege unverschuldet in schwere Zeit gerät? Wer könnte das denn? Und wie einsam viele Alte sind! Und wie sehr sich mancher sehnt, dass einmal einer nach ihm schaut, ihn besucht, eine Stunde Zeit übrig hat... Nein, wir sind nicht blind! Wir sehen das alles! Wir spüren die Nöte und hören die Rufe um Hilfe... Aber wie weit reicht unsere Liebe? - Wer setzt sein „Sehen“ um in Handeln, dass er das Leid in seiner Umgebung mitträgt, geduldig mit unter dem Kreuz bleibt, das einem anderen aufgelegt ist? Und wer wirkt und kämpft auch nur für ein einziges Kind in dieser Welt, das nicht sein eigenes ist, dass es eine Lebenschance bekommt, sich fröhlich und frei von der Last seiner Herkunft entwickeln kann, nicht den Weg gehen muss, den ihm Geburt, Klasse oder Hautfarbe vorgezeichnet haben? Wer weiß mehr zu tun, als an Heiligabend in der Kirche einen größeren Geldschein auf den Sammelteller zu legen, wenn uns angesichts der Hungerbäuche in Äthiopien oder Indien allzu laut das Gewissen schlägt? Bei wem wird aus Mitgefühl, das er empfindet, tätiges, beharrliches Helfen - vielleicht über Wochen und Monate, solange halt, bis der Hilflose seine Sache wieder selbst in die Hand nehmen kann? Wer geht hin zu der Alten, die nicht seine Mutter ist, nur weil er weiß, wie schrecklich allein sie oft ist? Wer opfert Zeit für einen Besuch, der ihm nichts bringt, „nur“ einem anderen ein wenig Glück und Freude schenkt? Wessen „Sehen“ bekommt Beine und Hände? Wem wachsen die guten Gedanken zu guten Taten? Wer kann mehr als mitleiden und - vielleicht mit feuchten Augen - mitempfinden? Wen treiben die Augen des Herzens auch zum Handeln - und das mit Ausdauer, mit unermüdlichem Einsatz, mit fröhlichem Mut und guten Ideen? Zugegeben: Ganz blind ist unser Herz nicht - wir „sehen die Menschen“, ihre Bedürfnisse und ihr Leid, ihre Sehnsucht und wie einsam sie sind. Die Augen in unserem Kopf sind gut, gut genug, dass sie das alles wahrnehmen und erkennen - und was wir „sehen“ geht auch hinein in unser Herz und weckt dort Gefühl und Mitleid - aber es kommt von dort nicht zurück in Hilfe, in Taten an den Mitmenschen, im Teilen von Geld und Gut, von Freude und unserer Zeit... Es ist wohl doch unsere Geschichte, die wir heute hören, wenn es heißt: „Er sah die Menschen wie Bäume umhergehen...“ Menschen sind keine Bäume! Menschen brauchen unsere Wärme und Zuwendung, sie haben Liebe nötig, sie fühlen, hoffen und leiden...und wir spüren und sehen es! So geht unsere Geschichte weiter: „Jesus legte ihm abermals die Hände auf die Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, so dass er alles scharf sehen konnte.“ Liebe Gemeinde, vielleicht ist es das, was auch uns fehlt: Dass Jesus uns heute wieder die Hände auflegt und unsere „Augen“ heilt, dass sie mehr können, als „sehen“... Es ist zu wenig, die Menschen wie Bäume wahrzunehmen! Es ist nicht genug, nur zu erkennen und zu spüren. Jesus muss auch uns „zurechtbringen“ und unsere Augen „schärfen“, dass aus ihrem Sehen Taten werden, die den Menschen wirklich dienen. Den Blinden damals hat man zu Jesus geführt, dass er ihn anrühre. Wir wollen uns selbst aufmachen zu ihm und ihn im Gebet bitten: „Herr, leg' uns die Hand auf, mach' uns heil und unsere Augen scharf, dass uns die Not unserer Nächsten nicht nur schmerzt und nahegeht, sondern unsere Füße und Hände bewegt. Herr, lass unser Sehen zu Taten werden, unser Wahrnehmen zur Hilfe, unser Erkennen zum Handeln. Herr, nimm uns an der Hand, bring' uns zurecht - mach' uns gesund!“ Von dem Blinden damals heißt es: Er sah deutlich; Jesus heilte ihn, dass er alles scharf sehen konnte: Die Menschen, wie sie fühlen und leiden - und was er für sie tun konnte. Die Menschen, wie einsam und allein sie waren - und dass sie gerade auf ihn warten. Die Menschen, was ihnen fehlt und was ihnen wehtut - und dass er ihnen viel geben kann. Ich bitte Jesus, dass er auch uns heute anrührt und zurechtbringt, dass wir sehen - und handeln! Mag sein, dass wir morgen endlich den Besuch machen, den wir seit Wochen vor uns herschieben. Mag sein, dass wir in den nächsten Tagen zu unserem Ehepartner das lösende Wort sagen oder zu einer Geste des Verzeihens finden. Vielleicht werden wir doch einmal so mutig, dass wir unserem Nachbarn demnächst unsere Dienste anbieten - er ist doch schon so alt und kann sich nicht mehr selbst putzen und einkaufen. Oder wir nehmen uns ein Patenkind aus der Dritten Welt, das wir mit 50 Euro im Monat unterstützen. (Ihr Pfarrer, ihre Pfarrerin weiß, was sie dazu tun müssen!) Noch viel mehr und noch ganz anderes kann geschehen, wenn Jesus uns die Hände auflegt. Wir werden lernen, die Menschen - nicht wie „Bäume“ - zu sehen, sondern wie fühlende, leidende und oftmals wartende Schwestern und Brüder. Doch: Die Geschichte von der „Heilung eines Blinden“ ist auch unsere Geschichte! Schenke uns Gott, dass sie auch für uns so ausgeht: „Er sah deutlich und wurde wieder zurechtgebracht.“ AMEN