Predigt am Neujahrstag - 1.1.1998 (Predigt zur Jahreslosung 1998) Liebe Gemeinde! Eine schöne, einfache Losung, die uns da durch das gerade begonnene Jahr begleiten soll: Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat. Sicher denken wir gleich: Das wollen und das können wir erfüllen. Die kleine Losungskachel, die wir heute mitnehmen dürfen, wird uns dabei helfen. Wir werden ihr einen guten Platz geben, vielleicht neben der Eingangstür im Flur, vielleicht in der Küche... Immer wieder im Laufe des nächsten Jahres wird unser Blick dann darauf fallen, und wir werden uns das wieder in Erinnerung rufen: Lebt in der Liebe... Wirklich schön...einfach... Ist es wirklich so einfach mit diesem Wort? Was käme wohl heraus, wenn jede und jeder von uns jetzt beschreiben sollte, was Liebe ist, woran wir sie merken, spüren, was sie tut und wie sie spricht? Meinen sie nicht auch, daß jeder hier eine andere Sicht davon hätte, was Liebe ist? Die junge Mutter würde sicher an die Liebe zu ihren Kindern denken. Einer, der allein lebt, würde auch ein bißchen von seiner Sehnsucht reden. Eine von uns, die ihren alten Vater zu pflegen hat, würde auch davon sprechen, daß Liebe sehr schwer sein kann. Ein ganz junger Mensch wäre in seinem Bild von Liebe vielleicht von den Vorabendserien im Fernsehen geprägt. - Wie gut also, daß wir in der Losung für das kommende Jahr auch einen Maßstab genannt bekommen, an dem sich unsere Liebe ausrichten soll: Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat. Das könnte für uns alle Richtschnur und Hilfe sein, daß unsere Liebe im kommenden Jahr richtig ist und uns als Christin und Christ würdig. Aber wie ist die Liebe Christi? Liebe Gemeinde, ich mußte an Thea Stinktier denken. Das ist eine Geschichte, die unsere Mitarbeiterinnen im Kindergottesdienst den Kindern immer wieder einmal erzählt haben, wenn das Thema "Nächstenliebe" dran war. Es ist eine sehr gute, sehr einleuchtende Geschichte. Und warum soll man sie nicht auch großen Leuten erzählen? Ich kürze ein bißchen und bringe ihre Gedanken auf den Punkt: Zwei Kindergottesdienstkinder, Jörg und Gaby beschweren sich bei ihrer Mutti: Es gäbe in der Kinderkirche immer nur die alten Geschichten zu hören: Von Zachäus, vom barmherzigen Samariter, vom verlorenen Sohn... Auch hätte sie, so beschwert sich das Mädchen, wieder neben Thea Stinktier sitzen müssen: "Immer setzt die sich neben mich. Puh, wie die stinkt!" Die Mutter gibt ihren beiden Kindern die Idee, doch einmal mit dem Pfarrer zu sprechen, daß der Kindergottesdienst einmal etwas Praktisches macht, eine Aktion, einen Bazar, eine Theateraufführung... Der Pfarrer ist sehr erfreut über den Gedanken: Die Aktion "Liebe deinen Nächsten" wird beschlossen. Die Kinder sind Feuer und Flamme. Jörg und Gaby erzählen zu Hause, was sie sich alles vorgenommen haben: "Alte Leute im Altersheim besuchen, Blinde immer einmal durch den Park führen, Gastarbeiterkinder zum Spielen einladen..." Gerade als sie noch so schwärmen geht Thea Moll vor dem Fenster vorbei, "Stinktier" wie die Kinder sie gleich wieder nennen. Und da sagt die Mutter den entscheidenden Satz der Geschichte: "Ihr könntet euch ja auch einmal um jemand anderes kümmern, der es nötig hat - zum Beispiel Thea!" In den Protest der Kinder hinein fügt die Mutter dann hinzu: "Eure Aktion heißt doch "Liebe deinen Nächsten", nicht "...deinen Übernächsten". Da werden die Kinder ganz still. Ein Groschen fällt. Sie haben etwas begriffen. Und dann erklärt die Mutter ihren Kindern noch etwas, das könnte jetzt auch uns auf die Spur bringen, wie die Liebe im Sinne der Jahreslosung aussehen könnte: "Wenn ihr so leben müßtet wie Thea, dann würdet ihr auch stinken", sagt die Mutter. "Ihre Eltern kümmern sich nicht um sie; sie weiß nicht einmal wo sie stecken. Und die mürrische alte Großmutter, bei der sie wohnt, verwöhnt sie auch nicht gerade. Ich glaube, sie hat überhaupt niemanden, der nett zu ihr ist." Bis hierhin die Kindergeschichte. Sie spüren, wie sie auch uns Erwachsenen etwas sagen kann. Ganz konkret sagt sie zu unserer Jahreslosung für die kommenden 12 Monate: "Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat", so hat Christus geliebt: Immer den Menschen, der jetzt vor ihm stand! Und immer mit einem wohlwollenden Verständnis dieses Menschen, warum er so ist, wie er ist und warum er wohl so wurde, so werden mußte. Zachäus ist dafür ein Beispiel. Der war abgeschrieben in der damaligen Gesellschaft. Der war Zöllner, Sünder, Römerfreund... Alle nagelten ihn darauf fest. Nur Jesus nicht. Der kleine Zöllner sitzt auf dem Baum und Jesus predigt eben nicht über die Nächstenliebe an sich und Gottes Herz für die Armen und die Außenseiter. Er geht auf diesen Zachäus zu und spricht ihn an: "Ich will heute in deinem aus zu Gast sein!" - "Ja, weiß dieser Jesus denn nicht, wer das ist?" Gewiß, wußte er's. Aber Jesus wußte eben auch, daß Zachäus nicht herauskonnte aus seiner Rolle. Und so schenkt er ihm den neuen Anfang. "Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück." Ja, ich glaube, Jesu Verhalten, seine Liebe ist ein guter Maßstab für unser Denken, Reden und Handeln im kommenden Jahr! Vielleicht denken wir eben nicht, wenn in den Monaten, die nun kommen, unser Blick auf die Losung fällt, an irgend eine Idee von Liebe: Was wir vielleicht als Mutter, als Alleinlebender, als pflegende Tochter, als Jugendlicher Serienzuschauer von der Liebe meinen... Nein, vielleicht kommt uns dann ein ganz konkreter Mensch in unserer Umgebung in den Sinn: Die Nachbarin, die aus irgendeinem uns unbekannten Grund, immer zur Seite sieht, wenn sie uns begegnet, der Kollege, der früher so freundlich war und jetzt immer nur noch hektisch und gestreßt wirkt, die Freundin unseres Kindes, die wir für einen schlechten Umgang halten, den Neuen in der Klasse, den wir vom ersten Tag an blöd fanden und der immer so eingebildet tut... Jesus, wie wir ihn von vielen Geschichten her kennen, würde wohl auf diese Menschen zugehen, sie ansprechen, sich nach ihnen erkundigen, und so vielleicht erfahren, was ihre Art, ihr Verhalten verständlich macht. Bei der Nachbarin käme vielleicht heraus, daß da vor Jahren einfach ein Mißverständnis gewesen ist, das sich mit ein paar Worten ausräumen ließe. Der Kollege würde uns vielleicht anvertrauen, daß er große Mühe hat, bei dem Arbeitstempo im Betrieb mitzuhalten, weil er auch noch zu Hause sehr angespannt ist. Und das Kind, das wir gern von unserem Kind fernhalten würden, erwiese sich als ganz offen und anpassungsfähig, ja auch dankbar, daß jemand sich um es kümmert und nach seinen Sorgen fragt. Und der Neue schließlich in der Schulklasse...der würde vielleicht davon reden, wie schwer ihm der Umzug gefallen ist und der Abschied von so vielen guten Freunden, die er hatte und daß er sich in der neuen Klasse doch sehr einsam und abgewiesen fühlt... "Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat." Ein schönes Wort, aber einfach ist es nicht! Es wird vielmehr einige Mühe kosten, immer wieder so zu lieben, wie Christus uns das vorgelebt hat: So konkret, wirklich den Menschen, der mein Nächster ist, und auch so nach ihm fragen und ihn zu verstehen versuchen. Aber - und das muß ich einfach noch sagen: Diese Liebe macht auch viel mehr Freude, als die bloß nach der Idee, bloß mit einem schönen Wort, bloß am Sonntag... Wenn Menschen sich durch unsere Liebe so verändern können, wie Zachäus... Oder wenn sie wie die anderen, von denen ich gesprochen habe, wieder eine Beziehung mit uns bekommen, einmal über das reden können, was sie bedrückt oder hoffen, daß es doch noch wird mit ihnen und uns... Ich wünschte mir, wenn wir heute die kleine Losungskachel an unsere Wand hängen, daß sie uns immer wieder einmal einen Anstoß gibt: "Lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat." Daß diese Losung uns dann erinnert an Thea Stinktier, die eigentlich Thea Moll heißt. An Zachäus, den Zöllner. Und an die anderen, die uns heute in den Sinn gekommen sind, als ich davon gesprochen habe, daß Jesu Liebe konkret ist, wirklich den Nächsten im Blick hat und danach fragt, warum er so ist, wie er ist. Und ich wünschte mir, daß wir auch die Freude erfahren, wie sie nur diese ganz konkrete Liebe zum Mitmenschen schenkt.