Predigt am 8. So. nach Trinitatis - 10.8.2003 Textlesung: Mt. 5, 13 - 16 Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als daß man es wegschüttet und läßt es von den Leuten zertreten. Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. So laßt euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. Liebe Gemeinde! Kein geringer Anspruch: Ihr sollt Salz sein! Eine Forderung, vor der einem bange werden kann: Laßt euer Licht leuchten vor den Leuten! Ja, überfordert uns das nicht? Ich denke mir, wir sind heu- te hier in die Kirche gekommen, um uns aufbauen, stärken und vielleicht trösten zu lassen. Und dann so etwas: Salz der Erde, Licht der Welt! Ja, wer von uns kann denn das? Wir sind doch froh, wenn wir unser oft gar nicht so leichtes Leben einigermaßen über die Runden bringen! Und dafür eben wollen wir uns hier in der Kirche doch die Kraft und die Ermutigung holen! Und jetzt verlangt das Wort Gottes auch noch etwas von uns...und so viel! Andererseits: Warum gibt es in unserem Alltag, in unserem ganzen Leben eigentlich nur so wenig Gelegenheiten, neue Kraft, Ansporn, Freude und neuen Mut zu bekommen? Soll das so sein? Anders gefragt: Ist das nicht wirklich merkwürdig, daß bei allen Erleichterungen der Arbeit, die es doch in den letzten 50 bis 100 Jahren gegeben hat, nach Erfindung des Autos und der Waschma- schine z.B., nicht einmal die Zeit herausgesprungen ist, daß wir einmal am Tag zur Ruhe kommen, ganz uns selbst gehören, uns auf Gott besinnen und seinen Auftrag hören und nach Kräften befol- gen können: Salz und Licht zu sein? - Aber haben oder hätten wir die Zeit und Muße und dann die Kraft dazu wirklich nicht? Mir ist an mir selbst etwas aufgefallen, und das mag nicht nur mir so gehen: Ich scheue mich im Lauf der Woche direkt, mir die Zeit dazu einfach zu nehmen: Daß ich eben wenigstens einmal am Tag ein paar Minuten zu mir selbst komme. Es ist mir peinlich, wenn ich zwischen zwei Terminen oder Arbeiten, die ich vorhabe, mal ein bißchen im Garten sitze, nachdenke oder auch einfach träume. Warum? Nun, das wissen sie: Es könnte doch jemand vorbeikommen! Es könnte jemand sehen, der sitzt dort einfach rum und tut nichts. Es könnte jemand denken! Der muß ja Zeit haben! Ich glaube, viele von ihnen kennen das auch: Man ist mit hängender Zunge mit einer Sache fertig geworden. Man hätte ja nun wirklich Lust, ein paar Augenblicke Luft zu schöpfen, zu entspannen. Aber die Leute! Die wollen einen doch schaffen sehen, immer in Bewegung, immer auf Trab. Man ist sonst schnell im Gerede - eben so: „Der muß ja Zeit haben!" - „Die hat wohl nichts zu tun!" Was mir vor ein paar Tagen aufgegangen ist, das stimmt - und ganz wörtlich: Ja, ich muß Zeit ha- ben! Ich brauche Zeit, Muße, Ruhe, um immer wieder Kraft zu schöpfen, um aufzutanken, auch, um mich immer wieder neu auszurichten: Auf Gott hin, auf seinen Auftrag, das, was er mit mir vorhat, oder eben das, was wir heute gehört haben: Ihr sollt Salz der Erde, Licht der Welt sein! Das wir Menschen, zumal wir Christen diese Zeit brauchen, ist mir in einem Gespräch neulich mit einem jungen Menschen klar geworden. Er sagte zu mir: „Ich finde das völlig in Ordnung, Zeit zu haben." Kein besonders großartiger Satz, aber ich bin dem jungen Mann dankbar für dieses Wort. Inzwischen möchte ich seinen auch gern Satz umdrehen: Es ist ganz und gar nicht in Ordnung, kei- ne Zeit zu haben! Ich gehe sogar soweit, zu behaupten: Die eigentlich wichtigen Dinge in unserem Leben geschehen, wenn wir uns ganz bewußt Zeit nehmen: Für die Freude an der Natur, für ein gu- tes Gespräch mit Freunden, für das Spielen mit unserem Kind... Vielleicht haben sie ja auch schon einmal ganz deutlich gespürt, wie sehr uns solche Zeit heute fehlt. Vielleicht war das, als sie sich neulich mal wieder nach Jahren den ersten Urlaub gegönnt ha- ben. Wie fiel ihnen das doch schwer, einmal abzuschalten, Ruhe zu finden, sich überhaupt wieder einmal zu erlauben, die Hände in den Schoß zu legen und die Seele baumeln zu lassen. Vielleicht war das auch, als plötzlich letzte Woche eine Zwangspause im sonst hektischen Tagesab- lauf entstanden ist, im Wartezimmer des Arztes, an der Bushaltestelle, beim Frisör... Da kamen einmal die Gedanken, die sonst keinen Platz in unserem Kopf finden, keine Lücke in der Hetze un- seres Alltags und im Lauf der Jahre, die ja wirklich oft sind, „als flögen wir davon", wie es der Psalmbeter ausdrückt. Wie gesagt: Bei mir ist das nach dem Gespräch neulich mit dem jungen Mann geschehen, den ich vorhin erwähnte. Mir kam danach ein Wort in den Sinn, mit dem ein Prediger einmal seine Zuhörer bei einem Vortrag über den Sinn des Lebens begrüßt hat: „Lieber Zuhörer, liebe Zuhörerin, heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens!" Gewiß, man kann das auch als Drohung empfinden und als Angstmache verstehen. So in diesem Sinn: „Denk immer daran, dein Leben hat ein Ende und jeden Morgen kommst du ihm näher!" Man kann's aber auch anders sehen: Heute an diesem Tag, den mir Gott schenkt kann endlich etwas beginnen, was ich schon lange vorhabe, was endlich ein bißchen Farbe in meine oft eintönigen Tage bringt, ein wenig Sinn in meine Zeit. Heute kann ich damit anfangen, Salz in der Suppe der Welt zu sein und mein Licht vor den Leuten leuchten zu las- sen. Und sind das nicht die Gedanken, die auch sie oft genug von ungefähr überfallen und die sie dann vielleicht gern verdrängen und vertreiben möchten, mit Hektik und Arbeit z.B.: „Was mach' ich eigentlich mit all den Minuten, Tagen und Jahren, die ich habe? Wo wird meine Zeit sinnvoll für mich und für andere? Ich schaffe und schufte, baue mir etwas auf, erreiche etwas im Leben, wie das die Leute nennen. Gewiß, ich genieße auch die Früchte meiner Arbeit - aber doch nur in immer kürzeren Augenblicken, bevor ich weitermache, bevor ich darangehe, noch mehr und immer mehr aufzubauen und zu erreichen, um es in immer kürzeren Momenten auskosten zu können. Und ich werde älter dabei. Und die Fragen werden drängender, wenn sie überhaupt einmal bis zu unserem Innersten vorstoßen können: „Wofür das alles? Ist das Leben?" Liebe Gemeinde, ich weiß, daß Ih- nen diese Fragen unangenehm sind - mir ja auch. Aber ich glaube, wir sollten ihnen einmal nicht ausweichen. Denn anders, als wenn wir hier einmal standhalten, können wir es nicht sein: Salz und Licht. „Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens!" Hat dieser Gedanke nicht auch eine andere Sei- te, eine helle, die mich aufbauen und trösten kann? Ist das nicht wirklich eine wunderbare Sache, die da anklingt: Heute noch kann bei mir alles anders werden; heute noch kann mein Leben eine neue Richtung bekommen. Ich bin nicht festgelegt, durch das, was immer war, was die Leute von mir denken und erwarten. Ich darf mich entwickeln, verändern, wachsen... Und noch etwas wird durch dieses Wort deutlich: ...der Rest deines Lebens fängt heute an! Das ist ja doch meine Zeit, die ich gestalte oder vertue. Das ist mein Auftrag, Salz zu sein für die Menschen, den ich erfülle oder bei dem ich versage. Es ist mein Leben, das endlich Licht werden soll - und ich weiß nicht, wie groß der Rest ist, der mir bleibt. Man sollte nicht mehr warten! Man müßte den Anfang machen, heute! Wäre das nicht ein Anfang: Meine Zeit nicht mehr um jeden Preis füllen wollen. Keine Angst mehr haben, vor der Leere, die entsteht, keine Furcht mehr vor den Minuten der Stille. Die Stille wird zu reden beginnen, zu jedem von uns anders, aber für jeden wohltuend und irgendwie heilsam. Lassen wir ruhig auch einmal die Gedanken zu, die sich einstellen wollen, die Fragen, die Zweifel. Dem einen wird dann vielleicht zum Bewußtsein kommen, wie sehr er sich bestimmen läßt, vom mate- riellen Besitz, wie sehr ihn bisher das Interesse, sein Leben mit Sachen zu sichern, geleitet hat. Und dann: Wofür das alles? Um sich hernach in Angst zu verzehren, man könnte verlieren, wofür man sich so abgerackert hat. Ein anderer erkennt in der Stille, wie wenig sein Leben bisher verbunden ist mit dem der anderen, wie wenig es Salz ist und Licht, wie geringe Früchte es trägt für die Gemeinschaft - und nicht, weil die anderen mit Ablehnung reagieren, wann immer er sich für sie einsetzt, sondern weil dieser Ein- satz ganz einfach nicht da ist und sein Leben sich erschöpft zwischen Betrieb und den Vierwänden, zwischen Konsumieren, Fernsehen und Schlaf... Ein Dritter bemerkt vielleicht, daß ihm Gott in sei- nem Leben abhanden gekommen ist. Immer wieder hat er die Frage nach Sinn und Zweck dieser Zeit zwischen Geburt und Tod vor sich hergeschoben. Erst einmal noch dieses erreichen, dann noch jenes anschaffen und schließlich noch das versuchen... Auf einmal verstummte die Frage nach dem Woher und dem Wohin in uns. Sie ist verschüttet worden von Betriebsamkeit, Karrieresucht, von Ehrgeiz und Haben-Wollen. Und es ist in gewisser Hinsicht ja auch bequemer so, ohne Gott, denn irgendwie verliert man ja nie die Ahnung, daß er etwas anderes von uns will, als daß wir uns ka- puttmachen für so ein bißchen äußerlichen Gewinn, daß wir uns etwas hinstellen, aufbauen, um es dann vorzeigen zu können. Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens! - Man müßte sich wieder einmal Zeit lassen, sich einlassen auf die Gedanken, die dann kommen. Man müßte stark genug sein, die Leute denken und reden zu lassen, was sie nur wollen, wenn sie uns beim Nichtstun erwischen. Man müßte den „Leerlauf" in einem Wartezimmer oder auf einem Bahnsteig nicht als verlorene Zeit ansehen, son- dern als Chance zum Nachdenken und Sich-Besinnen. Man müßte auch in der Urlaubszeit, in der wir ja mittendrin sind, den Wert der freien Stunden und der Tage, die für Arbeit und Karriere gar nichts bringen, neu ermessen und schätzen lernen. Man müßte begreifen, daß sie vielleicht viel wichtiger sind, als die Tage und Stunden, in denen ich immer tätig bin, immer beschäftigt, im Grunde aber doch immer gehetzt und von Terminen und Zwängen bestimmt. Man müßte die Kraft dazu finden und den Mut, die Zeit, die Gott uns schenkt, aus dieser Besinnung dann wirklich neu zu gestalten. Man müßte... Man muß! Denn immerhin, das stimmt ja einfach: Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens! Und Salz der Erde, Licht der Welt können wir nur sein, wenn wir in unse- rem Leben auch Zeit haben, uns auf Gott, seinen Plan und seine Aufgaben mit uns zu besinnen - nicht nur am Sonntag.