Wochenspruch zur Woche nach dem vorl. Sonntag des Kirchenjahres:
"Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl
Christi." (2.Kor. 5,10a)
Stehen wir da nicht längst: "Vor dem Richterstuhl
Christi"?
Ein großer Denker hat einmal gesagt: Die Weltgeschichte
ist das Weltgericht. Mir war diese Sicht eigentlich immer sehr
einleuchtend. Wenn wir einmal, "nur" auf die Vergangenheit
der letzten 60 Jahre schauen: Hat sich in all dem Grauen, all
dem Schrecken des Todes und der Zerstörung des Weltkrieges
nicht auch "Gericht" ereignet? Wurde hier nicht auch
die namenlose Bosheit der Führer, ihre Überhebung und
Anmaßung, und auch die Blindheit ihrer Gefolgsleute gerichtet?
Sicher ein Gedanke, über den es sich in der Woche nach dem
Volkstrauertag nachzudenken lohnt!
Und im persönlichen Bereich? Sollte es da so ganz anders
sein? Vollzieht sich nicht auch in unserem Leben hier und heute
schon ein Teil "Gerichts"?
Daß die "Strafe auf dem Fuße folgt", stimmt
so gewiß nur im Sprichwort. Es fällt einer auch durchaus
nicht immer in die "Grube, die er selbstgegraben" hat!
Aber ein Mann, mit dem ich kürzlich gesprochen habe, der
hat für sich selbst erkannt: "Diesen Schlag damals,
den hat mir Gott geschickt! Ich hatte das irgendwie nötig
und...verdient auch! Und es hat mich zurechtgebracht!" So
etwas gibt es.
Und mir fällt da noch eine alte Frau ein, die hat immer gesagt:
"Von Zeit zu Zeit tippt uns Gott mit dem Finger auf die Schulter.
Manchmal legt er auch arg schwer die Hand auf uns! Aber das tut
er, weil er uns liebhat!" Ich finde, auch das ist richtig.
Wenn sich Gottes Gerichte wirklich schon in unserem Leben zeigen,
wenn der "Richterstuhl Christi" gleichsam in unserer
Welt und unserem Alltag steht, dann müßte uns aber
jetzt etwas Wichtiges aufgehen:
Dieses "Gericht" Gottes, dieses Urteil Christi ist offenbar
gar nicht dasselbe wie "Strafe". Es ist - so betrachtet
- vor allem nichts Endgültiges! Wenn Gott "richtet",
dann habe ich sozusagen immer "Bewährung". Ja,
es scheint geradezu der Sinn der Gerichte Gottes, daß ich
mich verändere, daß ich mich von seinem Urteil in die
rechte Richtung führen lasse. Darum kann einer, der dieses
Urteil erfahren hat, später vielleicht sogar danken!
Ich muß sagen: Daß Gott uns schon während unseres
Lebens richtet, entspricht meinen ganz persönlichen Erfahrungen.
Außerdem deckt es sich mit dem, was mir viele Menschen in
manchem Gespräch gesagt haben. Und meist haben sie Gottes
Gerichte nicht als Strafe aufgefaßt!
Wenn wir das noch ein wenig, weiterdenken: Ergibt sich da nicht
wie von selbst ein faszinierender - aber auch erschreckender -
Gedanke? Ist dann nicht auch das Leben des Gottlosen, des unchristlichen
Spötters das Gericht Gottes? Noch klarer: Wenn wir vor Gott
und den Menschen klagen, was es doch diesem oder jenem "bösen
Nachbarn" so gut geht und wie ihm immer alles gelingt...,
ist nicht auch das eigentlich Gottes Gericht über diesen
Nachbarn? Was für uns vielleicht wie Wohltaten Gottes aussieht,
was uns gar neidisch blicken läßt - es ist das Urteil
des Höchsten, das sich hier vollstreckt! Und dieses Urteil
heißt: Ich, dein Gott, führe dich nicht zurück
auf den richtigen Weg. Ich überlasse dich deiner bösen
Art, ich "tippe dir nicht auf die Schulter", ich lege
dir nicht die Hand auf! Hinter solchen Gerichten Gottes weht uns
der kalte Atem des Todes an: Wo wir meinten, neidisch und mißgünstig
schauen zu müssen, erlebt einer eigentlich schon hier Gottes
Richterspruch!
Doch: Wir dürfen dankbar sein, wenn wir in dieser Welt und
dieser Zeit schon die Gerichte Gottes erfahren. Nehmen wir's doch
als Wink, als Hilfe, die uns die Richtung weist. Nehmen wir's
als Chance, noch rechtzeitig unser Lebensschiff herumzureißen.
Es gibt auch ein "zu spät". Dann werden wir keine
Möglichkeiten mehr haben, unseren Lebenskurs zu korrigieren.
Dann wird dieser Vers endgültig wahr: Wir müssen alle
offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi!