Andacht zum Wochenspruch

Wochenspruch zur Woche nach dem drittletzten Sonntag des Kirchenjahres:

"Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!" (2. Kor. 6,2b)

Vielleicht liegt das ja an diesen trüben Novembertagen und der Stimmung, die das in uns auslöst... Mir ist jedenfalls nicht die frohe Botschaft dieses Wochenspruchs zu Herzen gegangen, sondern die Warnung und der Ernst, den er enthält: Jetzt ist die Zeit der Gnade - es wird aber auch eine Zeit des Gerichtes kommen! Jetzt ist der Tag des Heils - einmal aber sind die Chancen verpaßt, die Tür des Heils verschlossen.

Keine schönen Gedanken. Mir selbst haben sie auch nicht gefallen. Aber sie kamen mir in den Sinn, und ich konnte sie nicht abwehren. Ob aber nicht, auch in ihnen ein Stück Evangelium verborgen ist? Ob uns aber nicht auch der Ernst einer Warnung zurechtbringen kann?

Mir fielen zahlreiche Menschen verschiedenen Alters ein, mit denen ich in den letzten Jahren zu tun hatte: Der junge Mann, der mir am Ende eines guten Gespräches ins Gesicht geschleudert hat: "In Ihrer Kirche sehen Sie mich aber trotzdem nicht!" Die Frau in den mittleren Jahren, die ich im Krankenhaus besucht habe. Sie hat mir erzählt, wie sie auf dem Krankenlager ins Nachdenken gekommen ist. Sie würde jetzt, da sie doch so dankbar wäre, genesen zu sein, viel öfter in die Kirche kommen als bisher! Gesehen habe ich diese Frau später im Gottesdienst nie! Und der alte Mann fiel mir ein, der die Beschäftigung mit den Dingen des Glaubens Jahr für Jahr vertagt und "auf das Alter" verschiebt. Er merkt scheinbar gar nicht, daß er längst "alt" geworden ist. Und noch andere kamen mir in den Sinn. Menschen, die offenbar diesen Vers auch nicht verstehen oder verstehen wollen: Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade...

Seltsame Leute sind wir. Irgendwie haben in unserem Kopf völlig unvereinbare Gedanken Platz und scheinen sich gar nicht zu stören: Einerseits ist das Leben kurz, wie wir immer wieder beteuern. Die Jahre fliegen dahin, und je älter wir werden, um so schneller. Andererseits schenken wir den Fragen nach dem tiefsten Sinn unseres Lebens wenig Beachtung: Gottes Sache und unsere Beziehung zu ihm kann warten, hat noch viel Zeit, ist später dran, "wenn wir vielleicht
einmal mehr Luft haben", "wenn wir erst nicht mehr im Arbeitsprozeß stehen, wenn erst einmal noch das hinter uns liegt...

Im Grunde ist uns das wohl unangenehm, die Fragen von letzter Bedeutung und Wichtigkeit an uns selbst zu stellen. Wenn ich mich etwa vor dem Hintergrund des Wochenspruchs frage: Was ist mir denn bis heute die "Gnade" Gottes wert gewesen? Oder: Wieviel Interesse habe ich bisher dem "Heil" entgegengebracht? Da muß ich doch erkennen, wie leichtfertig ich immer wieder verdrängt und aufgeschoben habe, was angesichts der Kürze des Lebens drängend ist und keinen Aufschub duldet!

Und ist das Vertagen und Verdrängen nicht auch noch in anderer Hinsicht gefährlich: Wird nicht auch der Abstand zu dem Verhältnis zu Gott, das wir irgendwann einmal hatten, von Jahr zu Jahr größer? Wird es uns nicht immer schwerer werden, den Anschluß an unsere einstige Beziehung zur Sache Christi und den Glauben unserer Kindheit zu finden?

So verstanden, kann ich nun doch in diesem Spruch auch eine frohe Nachricht vernehmen: Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! Ist das denn nicht auch eine Verheißung? Sollten wir jetzt nicht auch wieder den 'Anschluß' bekommen können? Sollte uns jetzt nicht auch die Chance geschenkt sein, die Gnade und das Heil Gottes zu ergreifen? Vielleicht beginnt Gnade für mich da, wo ich aufhören kann, aufzuschieben und zu vertagen! Vielleicht ist das Heil für mich dort, wo ich von mir sagen kann: Du hast bisher verkehrt gelebt, du hattest keine Mitte und keinen Sinn in deinen Tagen? - Jetzt aber kann alles anders werden!

Gebet und Liedvers