Wochenspruch zur Woche nach dem So. "Septuagesimä":
Wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit. (Dan. 9,18b)
Dieser Vers löst Fragen aus! Bei mir besonders die: Ist das denn überhaupt wahr, was hier behauptet wird? Wieviele mögen das sein, die auf Gottes Barmherzigkeit vertrauen? Wer bildet sich nicht viel mehr auf seine Leistung ein? Wer "bittet" Gott um Geschenke, wenn er doch auf seine eigenen Taten und Verdienste weisen kann?
Sind unsere Zeitgenossen heute nicht Menschen, die ihre "Gerechtigkeit" selbst schaffen? Wer hat denn Gottes "Erbarmen" nötig?
Ein Beispiel für viele: Marion
S., 48 Jahre alt, verheiratet, zwei erwachsene Kinder. Ihr Leben
ist bisher immer sehr glücklich verlaufen. Ihre Ehe ist harmonisch,
mit den Kindern hat sie ein gutes Verhältnis. Das Einkommen
des Mannes hat für ein Häuschen mit Garten gereicht,
guter Lebensstandard, keine nennenswerten Schulden. Marion S.
ist zufrieden. Wenn wir sie fragen würden, wem sie ihr bescheidenes
Glück verdankt, würde sie nicht lange überlegen
müssen:
"Wir haben uns immer bemüht! Mein Mann hat sich vom
kleinen Angestellten hochgearbeitet und verdient heute ganz schön.
Es war aber auch nicht immer leicht. Wir hatten auch schwere Jahre,
damals, als die Kinder noch klein waren. Wir mußten auch
schwer schuften, als wir das Haus gebaut haben. Es hat uns niemand
was geschenkt!"
"Wir liegen vor dir mit unserem
Gebet..." Ja, wo denn? Marion S. muß doch nicht bitten!
Sie hat sich doch alles selbst zu verdanken. Sie und ihr Mann
waren ihres Glückes Schmied! Da hat doch keiner geholfen!
- Meint sie. Ich frage mich, wie das Beispiel dieser Frau wohl
weiterginge, wenn das Schicksal mit harter Hand in ihr Leben hineinschlüge?
Ein Unfall, der Mann arbeitslos, sie selbst wird sterbenskrank.
Man scheut sich ja direkt, so etwas auch nur zu denken! Aber das
gibt es doch! Nicht nur bei den andern. Was wäre, wenn das
geschähe? Alles wäre anders! Zunächst das Leben
selbst. Bedroht und belastet durch das Geschick. Die Harmonie
einer Familie zerstört. Das Glück einer Ehe gefährdet.
Aber auch die Einstellung zum Leben würde sich verändern:
Nein, man hat nicht alles in der Hand. Es stünde auf einmal
in Frage, ob jeder sich selbst zuzuschreiben hat, wie er dran
ist. Marion S. würde wohl nicht mehr behaupten: Jeder wäre
seines Glückes Schmied! Verfolgen wir die Geschichte doch
weiter: Jetzt wäre die Zeit vielleicht bald gekommen, daß
Marion S. das Wirken eines anderen in ihrem Leben erkennen könnte.
Seltsam ist das ja: Das Böse, das uns widerfährt, bringen
wir immer gern mit einer höheren Macht in Verbindung. Das
Gute schreiben wir unserer Leistung, unserem Bemühen zu.
Warum wir nur immer erst im Leid begreifen, daß alles, was
wir sind und haben, Gottes Barmherzigkeit ist? Ob Marion S. jetzt
wohl so sprechen könnte: "lch liege vor, dir mit meinem
Gebet und vertraue nicht auf meine Gerechtigkeit...?"
Was haben wir mit Marion S. gemeinsam?
Wissen wir, daß wir allemal nicht aus eigenem Vermögen
leben können? Nicht erst im Leid! Sind nicht all die guten
Gaben, die wir heute genießen, Gottes Geschenke? Hat nicht
er uns unser Haus geschenkt, unsere Talente, unsere Kraft, unsere
Gesundheit? Und haben wir wirklich irgend ein Recht auf diese
Gaben? Haben denn die anderen, denen es schlechter geht als uns,
weniger Recht auf diese Dinge?
Warum muß immer erst das
Unglück über uns hereinbrechen, daß wir erkennen:
Das Glück kommt aus Gottes Hand. Warum müssen wir erst
das Gute und Schöne verlieren, damit uns deutlich wird, von
wem wir es hatten? Das muß mit unserem Stolz zu tun haben,
mit unserer selbst-gerechten Art!
Was muß uns wohl geschehen, daß wir begreifen: Wir
liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere
Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit?