Andacht zum Wochenspruch

Wochenspruch zur Woche nach dem So. "Kantate":

Singet dem Herrn ein neues Lied denn er tut Wunder. Ps. 98,1a

Haben wir's nicht längst verlernt, an »Wunder« zu glauben? Wo greift Gott denn machtvoll in unser Leben ein? Wo sehen wir denn seine Kräfte wirken? Ist solch ein Wort: »...denn er tut Wunder«, nicht allenfalls Erinnerung, frommes Gedenken an die Taten Gottes vor langer Zeit: Als er das Meer teilte und die Israeliten trockenen Fußes hindurchzogen, als er die Feinde seines auserwählten Volkes durch ein Zeichen vertrieb, als sein Sohn Jesus Christus das Wasser zu Wein machte und mit fünf Broten 5000 Menschen gespeist hat. Geschieht so etwas wirklich heute noch?

Es liegt nah, sich hier um eine klare Antwort herumzudrücken. Vielleicht so: Ach, wissen Sie, liebe (Leser) Hörer, man muß das mit den »Wundern« nicht so wörtlich nehmen. Einzelne überspannte Geister haben da in ganz natürliche Vorgänge etwas hineingeheimnist. Es ist etwas passiert, was keiner vorher gedacht hätte und schon haben ein paar religiöse Fanatiker von »Wunder« gesprochen.

Oder man betont bei diesem Psalmvers einfach den Anfang: »Singt dem Herrn ein neues Lied...« »Singen« kann man ihm doch! Und das »neue Lied« der Freude ist allemal am Platz! Aber »Wunder«?

Ein Kollege hat mir einmal erzählt, es sei ein Alkoholiker zu ihm gekommen und habe um Hilfe gebeten. Es gab eine Reihe von nächtelangen Gesprächen: Der Alkoholkranke hatte sich buchstäblich um seine ganze Habe gebracht. Seine Möbel waren verpfändet. Seine Familie war über seine Sucht zerbrochen. Irgendwann war der Mann so weit, daß er sich auf eine längere Entziehungskur einläßt. Als er zurückkommt, gelingt es ihm - mit Hilfe meines Kollegen -, sich wieder eine bescheidene Existenz aufzubauen. Er nimmt sich ein Zimmer und kauft sich die notwendigsten Möbelstücke. Er findet Arbeit und schafft es wirklich, »trocken« zu bleiben. Nach Monaten stellt er seinem Pfarrer einmal die Frage, deretwegen ich Ihnen das hier erzählt habe: »Herr Pfarrer, glauben Sie eigentlich an Wunder? Hat Jesus damals wirklich aus Wasser Wein gemacht?« Und mein Kollege hat geantwortet: »Sicherer als das weiß ich, daß er bei Ihnen aus Wein Möbel hat werden lassen!«

Mir hat diese Geschichte damals den Anstoß gegeben, besser auf das zu achten, was alles in der Welt und an den Menschen geschieht. So vieles erscheint uns selbstverständlich: Daß wir jahrzehntelang die 50 Kilometer zur Arbeitsstelle gesund hin und zurück gelangen konnten; daß die Ehekrise, die uns fast entzweit hätte, jetzt überwunden ist; daß unsere Kinder ohne körperliche und geistige Mängel geboren wurden; daß wir mit drei Generationen unter einem Dach friedlich zusammenleben können...

Und auch mich selbst betrachte ich heute mit anderen Augen: Wie oft bin ich vor Gefahr und Unfall bewahrt geblieben! Ich bin auf dieser Seite des Globus zur Welt gekommen - ich darf täglich satt werden! Mir wurde eine gute Ausbildung ermöglicht; ich habe einen Beruf, der mich erfüllt; ich habe ein schönes Haus, ein Auto und so vieles mehr. Warum eigentlich? Könnte es nicht auch ganz anders sein? Wunder über Wunder!

Und ich kann das sogar mit den Worten ausdrücken, die Menschen vor langer Zeit für die Wunder Gottes gefunden haben:

Wie oft schon hat mein Gott mir das »Meer« der Angst »geteilt«! Bestimmt schon hundertmal hat er ein »Zeichen« getan und die »Feinde« vertrieben, die meinem Körper oder meiner Seele schaden wollten! Schon häufig hat mir der Herr, an den ich glaube, aus dem schalen »Wasser« des Alltags den »Wein« der Freude gemacht! Und täglich »speist« er mich mit seinem Wort und seiner Nähe! - Was hat er an Ihnen nicht schon alles getan!?

Wir dürfen das, ohne auszuweichen oder umzudeuten, so sagen: Gott tut Wunder! Keiner von uns, der sie noch nicht und nicht täglich neu erfährt! Wer das sieht und bedenkt, der findet den Grund, dem »Herrn ein neues Lied« zu singen: Ein Lied der Freude und des Dankes.