Andacht zum Wochenspruch Wochenspruch zur Woche nach dem 4. So. n. d. Trinitatisfest: Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. (Gal. 6,2) Würde ihnen das schwerfallen, von ihren »Lasten« abzugeben? Wie oft haben sie sich schon gewünscht, ihre gesundheitlichen Be- schwerden loszusein! Wie gern möchte einer seine Behinderung oder Krankheit überwinden. Wie verhaßt ist manchem das eigene Wesen, das ihn gefangenhält. O ja, lieber heute als morgen ließen wir uns die Last vom Rücken nehmen! Ich habe vor einiger Zeit einem alten Ehepaar eine Andacht zur Goldenen Hochzeit gestaltet. Der Wochenspruch zu diesen Sonntag war vor 50 Jahren der Trauspruch der beiden alten Leute gewesen. Neben dem ehrfürchtigen Gefühl, das einem ja immer beschleicht, wenn zwei Menschen so lange Zusammensein dürfen, habe ich bei dieser Feier noch etwas anderes empfunden: Wie gut ist das doch, diesem Wort aus der Heiligen Schrift zu entsprechen! Wie voll und reich wird so ein Leben, wenn es eben versucht, den anderen und seine Lasten in den Mittelpunkt des eigenen Denkens und Handelns zu rücken. Das muß ich erklären: Die beiden alten Menschen, von denen ich spreche, haben wirklich viel füreinander getan. Gerade in den letzten Jahren mußte die Frau für ihren kranken Mann in jeder Minute des Tages da sein und oft sehr anstrengende Pflege und Aufwartung leisten. Und sie konnte das tun, ohne zu klagen, in großer Geduld, ja sogar mit Freude! Das eben ist das erstaunliche daran: Sie hat dabei erfahren, daß die Hilfe, die wir dem anderen schenken, uns nicht ärmer macht, sondern reicher. Unsere Mühe, die »Last« des anderen zu verringern, kommt uns selbst in Form von Freude und Erfüllung zugute. Und diese Freude eben stand im Gesicht der goldenen Jubilarin geschrieben; trotz aller Belastung, die ihr die Pflege des Mannes bereitete. Ich habe dann in der Ansprache an die beiden alten Leute von einem »Geheimnis« gesprochen, dem Geheimnis, das nur der lüftet, der sich daranmacht, diesem Wort nachzuleben: »Einer trage des anderen Last...«. Von unserer menschlichen Art her möchten wir zuerst ja unsere eigenen Beschwerden loswerden. Manchmal sind sie ja so groß und bedrückend, daß wir überhaupt keinen Gedanken mehr frei haben, an die Lasten der Mitmenschen zu denken, geschweige denn, sie anzupacken! Da hinein spricht nun das »Gesetz Christi«: Trage des anderen Last! Und dann tut es einer und spürt: Du bekommst ja mehr Kraft von oben, als du je glaubtest! Du kannst ja auf einmal viel mehr, als du dir selbst je zugetraut hast! Da lüftet sich das »Geheimnis«, von dem ich sprach: Wer den Rücken beugt, um mit einem anderen zu tragen, erlebt dabei, daß die Last nun nicht einmal mehr halb so schwer ist. Es scheint ein dritter mitzutragen! Und noch etwas: Auch bei den eigenen Beschwerden geht eine Veränderung vor sich! Nicht, daß wir nicht mehr so an sie denken, daß wir sie vergessen. Sie werden tatsächlich leichter! Sie drücken nicht mehr so auf unsere Schultern. Es ist, als ob der »dritte« auch bei unserer eigenen Last mit anpackte! Gewiß, dieses Gesetz Christi scheint in unsere »moderne« Welt nicht hineinzupassen. Die heutige Gesellschaft hat ganz andere Gesetze: Die Ellenbogen gebrauchen, die anderen an die Wand drücken und jeden Vorteil ausnutzen, den anderen aufbürden, was man selbst schleppen müßte..., so heißen sie. Danach arbeiten unsere Wirtschaft, unser System und - geben wir es ruhig einmal zu - auch wir Christen! Der Herr, nach dem wir heißen, wollte allerdings eine andere Le- bensregel empfehlen - und er hat sie selbst bis zum Tod durchgehalten: Einer trage des anderen Last! Sein Gesetz kommt freilich nicht so laut daher, wie die Verhaltensregeln, die heute allenthalben praktiziert werden und uns und die Menschen nur kaputtmachen und Liebe und Gemeinschaftsgeist zerstören... Das goldene Brautpaar, von dem ich erzählt habe, hat mir wieder gezeigt, daß Christi Gesetz gültig ist und bleibt: Wenn einer des anderen Bürde trägt, dann ist er selbst der dritte, der mitträgt und hilft, daß es keinem zu schwer wird. Und ich habe erfahren, daß es Menschen gibt, die wirklich 50 Jahre damit gelebt haben und leben konnten. Dafür bin ich dankbar, denn es ermutigt mich, es auch mit dem Gesetz Christi zu versuchen: Einer trage des anderen Last!