Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. November 2002 Letzter Platz Die Kirchen kuscheln sich mit Anbiederung ins Abseits Deutschland, ein Schauermärchen. Jeden Tag werfen wir in diesen Tagen angstvoll den Blick in ein neues schwarzes Loch, in eine neue schwarze Kasse, in eine neue Krise. Erst das Bildungssystem, dann das Gesundheitssystem, jetzt das Rentensystem: Alles scheint zur Zeit am Ende. Es ist Zeit dafür, daß endlich auch jener Grundpfeiler unserer Gesellschaft ins Blickfeld kommt, der, statistisch gesehen, bereits am Ende ist: die Kirche. Diese Woche wurde eine Untersuchung des Davoser "World Economic Forum" bekannt, die erfragte, welches Ansehen bestimmte Institutionen in 47 Ländern haben. Nur in einem einzigen Land auf der Welt ist die Kirche danach nicht im vorderen Feld plaziert, nur in einem einzigen Land liegt die Kirche auf dem letzten Platz: in Deutschland. Dies ist beruhigend. Es zeigt nämlich, daß die Menschen in Deutschland im Grunde immer noch sehr große Erwartungen an die Kirchen haben – es zeigt aber leider auch, auf welch niederschmetternde Weise diese Erwartungen offenbar enttäuscht werden. Als am Donnerstag abend Kardinal Lehmann in der Thyssen-Vorlesung der Berliner Humboldt- Universität über das Thema "Das Bild zwischen Glauben und Sehen" sprach, versuchte er auf kluge, aber auch angestrengte Weise einen Abend lang kunsthistorischer zu wirken als jeder Kunsthistoriker. Fast penibel schien er darauf zu achten, daß zwischen den Zeilen bloß kein Bekenntnis aufblitze, lieber sprach er vage davon, daß "in das Sehen so etwas wie Glauben eingeht" und daß auch schon Beuys "spirituell" war. Er warb dafür, wie aufgeschlossen die Kirche heute gegenüber der neuen Bildwissenschaft sei, er sprach immer wieder von "erfreulichen Formen der Verständigung" und berichtete von Seherlebnissen, "als ich dieses Jahr in Spanien mi Sommerurlaub" war. Kamen die vielen hundert Studenten wirklich in die Humboldt-Universität, um dies von dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz zu hören? Wie weit soll dieses in der evangelischen Kirche schon fast zur Folklore gewordene kirchliche Bemühen, sich bis zur eigenen Unkenntlichkeit mit der Welt zu "verständigen", noch führen? Wahrscheinlich erst, wenn sich die beiden Kirchen auch noch mit der letzten gesellschaftlichen Randgruppe in Deutschland verständigt haben, werden sie realisieren, daß sie selbst zur Randgruppe geworden sind. In einem spektakulären Aufsatz für die Oktoberausgabe von "Atlantic Monthly" hat Philip Jenkins gezeigt, wie naiv die Überzeugung der europäischen Kirchen ist, daß sich ihre Zukunft nur durch eine immer größere Liberalität garantieren lasse. Jenkins skizziert, daß das einundzwanzigste Jahrhundert keineswegs nur wegen der Bedrohung des Islam zu dem Jahrhundert werden wird, in dem die umstürzendste Kraft nicht mehr die Ideologie ist, sondern die Religion. Er prophezeit, wie sich die müde gewordenen Amtskirchen der westlichen Demokratien einer bald eine Milliarde umfassenden Christenheit aus der Dritten Welt gegenübersehen, die mit einer ungeheuren Vitalität und Authentizität eine Neudefinition des Christentums fordern werden, die in ihrer Wucht nur mit der Reformation vergleichbar sei. In einem Sammelband über "Kirche und Staat im 21. Jahrhundert", der in diesen Tagen im Herder-Verlag erschienen ist ("Um der Freiheit willen"), kann man nachlesen, wie sich die evangelische Kirche immer mehr zu einem perfekt funktionierenden Funktionärsverband mit spiritueller Orientierung entwickelt hat, mit festen Sitzen in Rundfunkräten und Ethikkommissionen, aber fast ohne jede politische Widerspenstigkeit oder eigenes, aus dem Glauben gespeistes, provokantes Bekenntnis. Wer liest, wie stolz die EKD-Synode gerade mitteilen ließ, daß sie auf ihrer Herbsttagung in Timmendorfer Strand bei der Morgenandacht Herbert Grönemeyers Lied "Mensch" gespielt habe, der merkt, daß man dort immer noch fest überzeugt ist; daß man nur immer mehr Nummer-1-Hits spielen muß, damit man vom letzten Platz in der Anerkennungsskala von Davos verschwindet. Das Synodenmitglied Christel Ruth Kaiser erklärte, das beste an dem Lied sei, daß es um "menschliche Gefühle" geht und daß "Grönemeyer nicht predigt". Schöner ließe sich nicht demonstrieren, wie sehr sich eine Kirche, die sich immer mehr mit der Welt verständigt, am Ende auch den Bewertungsmaßstäben der Welt unterzieht – und dann schließlich die urchristliche Kommunikationsform der Verkündigung, die Predigt, als negatives Verfahren brandmarkt. Daß die Kirchen nun die Unternehmensberatung McKinsey auf ihre Finanzen schauen lassen, ist ein Hoffnungsschimmer. Die Unternehmensberater wissen, daß für ein erfolgreiches Überleben nichts wichtiger ist als die Unterscheidbarkeit und die Konzentration auf die eigenen Werte und "intangible assets". Die Kirchen haben dabei ein ungeheures Alleinstellungsmerkmal: die Kraft des Glaubens. Doch diese Kraft wird nur sichtbar, wenn sie selbstbewußt und mutig artikuliert wird – und nicht immer auf den Applaus der Konsensgesellschaft hofft. Es gibt viele, die in ihrer religiösen Sehnsucht aufgefangen werden wollen, die sich orientieren wollen an mutigen Widerworten und die ihre Kinder auf Konfessionsschulen schicken, weil sie dort auf eine Wertevermittlung hoffen, die das staatliche Schulsystem nicht mehr leistet. Niemand möchte nach den alljährlichen gutgebräunten Bekenntnissen der deutschen Fernsehprominenz in "Bunte" nun auch noch von einem deutschen Kardinal wissen, wo er seinen Sommerurlaub verbringt. Und niemand kommt in eine Morgenandacht, um Herbert Grönemeyer zu lauschen, den er zuvor schon die ganze Zeit im Autoradio gehört hat. FLORIAN ILLIES