Es dampft kein Mist am Paulusplatz! Eine not-wendige Information über die Unterschiede des kirchlichen und gemeindlichen Lebens in der Stadt und auf dem Land von Pfr.i.W. Manfred Günther Zugegeben: Der Titel dieses Artikels soll neugierig machen und zum Lesen dieser Zeilen verführen. Aber seine Aussage hat – wie sie später sehen werden – durchaus auch eine inhaltliche Beziehung zu den grundlegenden Erkenntnissen über die völlig anders gearteten kirchlichen und gemeindlichen Strukturen in den städtisch, bzw. mehr ländlich geprägten Gebieten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN). Aber was weiß der Autor dieses Aufsatzes davon? Nun, ich bin in Frankfurt aufgewachsen und habe nach meiner Konfirmation in einigen Gemeindekreisen meiner Kirchengemeinde mehr als ein Jahrzehnt verantwortlich mitgearbeitet. Auch im Kirchenvorstand war ich einige Jahre Mitglied. Seit meinem Vikariat lebe und arbeite ich im Vogelsberg (Ortenberg, Mücke) und war dort insgesamt 25 Jahre lang Pfarrer zweier Landgemeinden (Groß-Eichen und Ilsdorf), die durch ihre kirchlichen Traditionen, ihre gemeindlichen Lebensäußerungen, ihre Erwartungen an Pfarrer oder Pfarrerin und die Erfordernisse an Dienst, Seelsorge und pfarramtliche Begleitung vor dem Hintergrund der Gemeindeerfahrungen in der Stadt kaum unvergleichlicher und zunächst – und auf Dauer! – fremder hätten sein können. Es ist so, als wäre dort auf dem Land eine völlig andere Kirche beheimatet, die wenig mehr als die Leitung in Darmstadt mit den Gemeinden etwa in Frankfurt, Wiesbaden oder Gießen gemeinsam hat. In dieser anderen Kirche leben Menschen, die eine gänzlich andere Betreuung durch ihre Pfarrerin, ihren Pfarrer brauchen, eine wesentlich intensivere seelsorgerliche Begleitung gewohnt sind und einklagen. Aber es gibt dort eben auch noch Gotteshäuser, die am Sonntag von Menschen aller Altersgruppen so gut besucht sind, dass Stadtpfarrer vier, fünf oder sechs Gottesdienste halten müssten, um dieselbe Zahl ihrer Gemeindeglieder mit dem Wort Gottes zu erreichen. Die Erkenntnis, dass die ländliche Kirche anders ist, versuche ich seit ziemlich genau fünf Jahren in die oberen Etagen der EKHN hinaufzutragen. Leider bis heute ohne jeden Erfolg. Zwar wurde in höchsten Kirchenkreisen immer wieder einmal ein gewisses Interesse – z.B. am Entwurf einer landkompatiblen Pfarrstellenbemessung – gezeigt und sogar ein Nachdenken über einen wirklich angemessenen weil pfarrstellenerhaltenden Landbonus versprochen. Die Neigung – besonders im Sog der Strukturreform – die Unterschiede zwischen städtischer und ländlicher Kirche und ihrer Gemeinden einzuebnen, ihre gesamtkirchliche Summe verwaltungsgängig zu machen und zu halten und damit die wesentlich reichere, aber auch sensiblere ländliche Kirchenkultur auf Stadtmaß zurückzustutzen, erwies sich als stärker und hat sich mit den heute offenkundigen negativen Begleiterscheinungen durchgesetzt. Inzwischen sind in den ländlichen Kirchenregionen m.E. irreparable Schäden eingetreten: Landgemeinden, die eine vielfach höhere Lebendigkeit und Beteiligung an Gottesdienst und Gemeindearbeit aufwiesen als etwa eine Gemeinde in der Stadt, wurden durch Streichung oder Halbierung ihrer Pfarrstelle die Möglichkeit genommen, ihre traditionell intensive Arbeit in Kreisen und Gruppen – unterstützt durch die Impulse einer „eigenen“ Pfarrerin, eines „eigenen“ Pfarrers mit einem Dienstauftrag, der eine angemessene Betreuung der Gemeinde erlaubt – über eine gewisse (meist kurze!) Zeit hinaus aufrechtzuerhalten. Denn nach einigen Monaten einer „Trotzphase“ („Jetzt erst recht!“) erlahmt meist das Engagement auch noch der aktivsten KirchenvorsteherInnen. Sie fahren ihre Beteiligung an der Gemeindearbeit nach und nach zurück, wobei sie zunächst noch ein gewisses Gefühl eigenen Versagens empfinden und übertragen später ihren Unmut über die sukzessive sterbenden Aktivitäten in ihrer Gemeinde auf die Leitung ihrer Kirche, die ihnen die Vorbedingungen einer (Wieder-)Besetzung ihrer Pfarrstelle versagt und sich für die Folgen (Traditionsabbruch, kirchliche Entfremdung, möglicherweise Kirchenaustritte) offensichtlich wenig interessiert und schon gar nicht verantwortlich fühlt. Es scheint, niemand hat bei den massiven und im Effekt zerstörerischen Eingriffen in die seit Jahrhunderten gewachsenen und bewährten ländlich-kirchlichen Strukturen, wie sie im Gefolge der Kirchen-„Reform“ der letzten Jahre über uns kamen, vorher bedacht und einmal nüchtern durchgerechnet, was man bei diesen Maßnahmen gewinnt und verliert. Dabei hätte schon die Tatsache, dass die Kirchentreue auf dem Land wesentlich größer ist als in der Stadt, eine andere Behandlung der Gemeindeglieder dort nahegelegt, ja, unabdingbar erscheinen lassen. Diese Treue zur Kirche ist ablesbar z.B. an Kirchenbesuch, Beteiligung an den Kirchenvorstandswahlen und der Neigung, trotz mancher in jüngster Zeit durch die Synode getroffenen Entscheidungen, die gerade in ländlichen Gemeinden nicht verstanden worden sind („Homosegnung“), in der Mitgliedschaft der Kirche zu verharren. Wem das noch nicht reicht, einen schonenderen Umgang mit den Ausprägungen ländlicher Kirche zu üben, der sollte sich die Tatsache vor Augen halten, dass jedes Gemeindeglied auf dem Land nur rund ein Viertel der Kirchensteuermittel kostet, die für ein Mitglied einer in der Regel personell und materiell wesentlich besser ausgestatteten Stadtgemeinde aufgewendet werden. Gleichwohl dürften wir in der Stadtgemeinde reziprok analog zu dieser besseren Ausstattung nur einen Bruchteil der Beteiligung von Gemeindegliedern bei allen kirchlichen Angeboten erleben. Um es auf den Punkt zu bringen: Die EKHN leistet sich in Zeiten des Sparzwangs den Luxus, dort zu klotzen, wo nach einer besonders in finanziell kargen Zeiten unverzichtbaren Kosten-Nutzen-Rechnung kaum etwas zu holen ist, während sie dort kleckert, bzw. sich ganz aus der Verantwortung und Unterstützung zurückzieht, wo ihre treuesten Kunden leben und mit wenig mehr finanziellem Aufwand zufriedengestellt und bei der kirchlichen Stange gehalten werden könnten. Hinter dieser Entscheidung, die Kirche auf dem Land im Vollzug der Strukturreform faktisch abzuschreiben, scheint der verhängnisvolle Irrtum zu stehen, wie er in höchsten Kreisen unserer Kirche zu Beginn der Ära des jetzigen Kirchenpräsidenten auch in den Schlagzeilen der weltlichen Presse Ausdruck gefunden hat: „Die EKHN ist eine urbane Kirche.“ – Wir werden in der kurzen Zeit von vielleicht noch zwei oder drei Jahren schmerzlich erfahren müssen, dass es stattdessen besser gewesen wäre, vielleicht einem solchen Leitsatz zu folgen: „Die EKHN hat in Teilen urbane Struktur, aber es gibt auch starke ländlich geprägte Kirchengebiete! Wir wollen den unterschiedlichen Ansprüchen beider kirchlicher Regionen nach Kräften gerecht werden.“ Ich bin überzeugt davon, dass eine solche angemessen differenzierende kirchliche Strukturpolitik nicht nur der Kirche auf dem Land durch die Erhaltung auch kleiner, aber für die Pflege und Betreuung der mit ihrer Kirche am engsten verbundenen Mitglieder nötigen Pfarrstellen genutzt, sondern auch der gesamten EKHN einen bis heute ausgeglichenen Finanzhaushalt und ein Auskommen auch mit geringer werdenden Kirchensteuermitteln beschert hätte. Stattdessen wurden und werden – um nur einige strukturelle Umwälzungen der Kirchenreform zu nennen – horrende Summen in die Errichtung von mindestens geographisch landfernen Handlungszentren und der dazugehörigen Bauten investiert. Die sogenannte „Mittlere Ebene“, also die Dekanate, wurden – klar zulasten der personellen Versorgung, der materiellen Ausstattung und der angestammten Rechte von Kirchengemeinden – „gestärkt“, was die Aufwertung einer institutionellen Größe (eben des Dekanats) bedeutet, die bislang im kirchlichen Lebensvollzug (besonders!) ländlicher Gemeinden und ihrer Glieder nicht die geringste Rolle gespielt hat und eine solche Rolle in der Zukunft auch nie spielen können wird! Ganz deutlich: Die Menschen einer dörflichen Gemeinde haben meist nicht einmal eine Ahnung (wenn sie nicht Mitglied der Dekanatssynode sind), wie das Dekanat heißt, dem sie angehören. Genau so verhält es sich auch mit den Namen „ihres“ Dekans und schon gar „ihres“ Propstes. Und warum sollen sie auch – in Zeiten der ausreichenden gemeindlichen Betreuung durch eine Pfarrerin, einen Pfarrer – irgend ein Interesse an der Mittleren Ebene entwickeln? Denn – und hier eben ist eine Besonderheit ländlich-kirchlicher Mentalität – man hat auf dem Land noch ein ausgeprägtes „Kirchturmdenken“, das vielleicht von StadtpfarrerInnen belächelt, von unseren Kirchenoberen nicht für möglich gehalten wird, das aber doch massiv vorhanden ist und eben auch die Grundlage sehr positiver Eigenschaften wie der Kirchentreue und der Bereitschaft zum Engagement in der eigenen Kirchengemeinde bildet. Zu Ungunsten auch wieder besonders der ländlichen Gemeinden, wurden Profilstellen geschaffen, deren Konzeption und Zielsetzung zu erarbeiten, man oft genug den ersten Inhabern überlassen hat, was ein grelles Licht auf die „Notwendigkeit“ bzw. „Verzichtbarkeit“ dieser Stellen wirft. So gibt es heute, soweit man die Schaffung dieser Stellen nicht aus Kostengründen wieder auf Eis gelegt hat, eine größere Anzahl von für den Gemeindepfarrdienst ausgebildeten Theologen, die etwa in der Öffentlichkeitsarbeit oder der Erwachsenenbildung der ländlichen Region arbeiten sollen, für die ein echter Bedarf in den dörflichen Gemeinden einfach nicht vorhanden ist. Hier müssten die „Profilierten“ mindestens eine meist nicht gegebene und von ihnen selbst oft nicht gewollte Anbindung an die Kirchengemeinde haben. Überdies würden sie in eine Arbeit treten, die in den Gemeinden auf dem Land meist vom Pfarrer, der Pfarrerin mitversehen und von diesen in der Gemeinde beheimateten und mit ihr identifizierten Menschen auch selbstverständlich erwartet wird. Auch da, wo kein „eigener Pfarrer“ mehr Dienst tut, hat der Profilstelleninhaber kaum eine Chance, vernünftig und vor dem Hintergrund der angespannten Finanzlage der EKHN sinnvoll bzw. lohnend zu wirken. Die Menschen haben zuallererst Interesse und Bedarf an den traditionellen Angeboten ihrer Kirchengemeinde wie dem Gottesdienst, dem Frauenkreis oder der Bibelstunde. Sind diese nicht mehr gewährleistet, werden z.B. Seminare über die Erstellung eines lesefreundlichen Gemeindebriefs oder das kirchliche Projekt in der fernen südindischen Partnerdiözese wenig Anklang finden. Die Begründung für die Errichtung der Profilstellen, wie sie von der Kirchenleitung (nach-) geliefert wurde, die GemeindepfarrerInnen erreichten nur noch 5 % ihrer Gemeindeglieder, ist namentlich auf dem Land schlicht falsch und stellt überdies eine Verhöhnung der in Gemeindepflege und -aufbau schwer arbeitenden KollegInnen dar. Mit deren angeblichem Versagen den Einsatz der immer gemeindefremd bleibenden Profilierten rechtfertigen zu wollen, kommt dem Versuch gleich, einem Notarzt für ein Einzugsgebiet von vielleicht 40- oder 50tausend Menschen eine Fürsorge und einen Zeitaufwand für die Patienten aufbürden zu wollen, wie sie in eben diesem Gebiet vielleicht 40 oder 50 niedergelassene Hausärzte leisten bzw. leisten müssten. Hier wollen wir nun einen Blick auf die strukturellen Unterschiede und solche der Mentalität der Menschen und der Gemeindetradition zwischen mehr städtisch und mehr ländlich geprägter Kirche in den dazugehörigen Lebensräumen werfen, der zum einen keinen Anspruch darauf erhebt, umfassend alle Faktoren zu sehen und zu werten, zum anderen auch zugegeben grob und Nuancen vernachlässigend nur jeweils das Augenmerk auf eine leider wenig gesehene und noch weniger beachtete Problematik richten will. Dabei werden auch Bereiche bzw. Dienste ländlicher Gemeindearbeit vorgestellt, die entweder im Stadtpfarramt gar nicht vorkommen oder deren Auftreten oder dafür nötiger Zeitbedarf dort eher marginal sein dürfte. In einem zweiten Durchgang möchte ich an ausgesuchten Beispielen vor Augen führen, was es für die Menschen im Blick auf die aufgewiesenen ländlichen Besonderheiten bedeutet, wenn eine Gemeinde verwaist und vorübergehend oder gar dauerhaft nicht mehr mit einem Pfarrer, einer Pfarrerin besetzt wird. Strukturelle Unterschiede: Stadt - Land Während in den städtischen Regionen des EKHN-Gebiets meist eine große Zahl von Angeboten der Vereine oder Organisationen, der Kirchen oder der Kommunen bestehen, die Menschen einer spezifischen Interessenslage, eines bestimmten Alters oder Unterhaltungsbedürfnis’ zu erreichen, gibt es auf dem Land meist nur die Kirchengemeinde und wenige Vereine als Anbieter von Veranstaltungen, Fahrten oder eines periodisch wiederkehrenden Kreises. Die wichtigste, zahlenmäßig größte Klientel dieser Veranstaltungen sind zum einen die noch nicht mobilen Jugendlichen und die nicht mehr mobilen älteren Menschen, wobei wir in der Gruppe der Alten ab 75 etwa zehnmal mehr Frauen als Männer antreffen, die zum großen Teil keinen Führerschein besitzen. Anders als in den Städten können hier – weil öffentliche Verkehrsmittel fehlen oder zu den entsprechenden Zeiten nicht (mehr) verkehren – Angebote aus anderen Kirchengemeinden oder Kommunen nicht oder nur bedingt wahrgenommen werden. Hier geraten auch alle – vielleicht ja gut gemeinten – Versuche, Menschen in den Kirchengemeinden mit den Angeboten der Mittleren Ebene oder der Profilstellen zu erreichen, an ihre Grenze. Schon z.B. die Feier eines gemeinsamen Gottesdienstes mehrerer Gemeinden eines ländlichen Dekanats verlangt den Einsatz eines aufwändigen und teuren Buslinienverkehrs – oder aber man schließt die zahlenmäßig größten Interessensgruppen an der Teilnahme aus und erreicht in der gemeinsamen Veranstaltung nur einen Bruchteil der Menschen, die man mit einem Gottesdienst in den beteiligten Gemeinden hätte mobilisieren können. Zwar sind diese strukturellen Benachteiligungen der LandbewohnerInnen und Kirchengemeindeglieder kein Geheimnis und schon einer oberflächlichen Betrachtung offenbar, sie gehören aber dennoch zu den Phänomenen, die bei allen Reformen und Planspielen der Kirchenleitung der EKHN in den letzten Jahren beharrlich vernachlässigt wurden. Hier liegt der zweite Grund für die Wahl des Titels für diesen Artikel: „Es dampft kein Mist am Paulusplatz!“, denn solch eines dampfenden Dunghaufens mit seinem penetranten Geruch und Anblick hätte es im letzten Jahrzehnt wohl manchesmal bedurft, das Anliegen und die spezifische Eigenart der ländlichen Gebiete der EKHN in höchsten Kirchenkreisen in Erinnerung zu bringen, bzw. zu halten. Die pfarramtlichen Dienste in der Stadt und auf dem Land Schauen wir auf die früher so genannten „Vier Säulen des Pfarramtes“ (Verkündigung, Kasualien, Lehre und Verwaltung), dann fällt auf, dass mindestens die ersten beiden Säulen für den Landpfarrer eine ungleich höhere zeitliche Belastung darstellen, die zuzeiten gewaltige Anstrengungen erfordern und Kräfte zehren: Wer einmal zwischen dem 4. Advent und Neujahr – also in vielleicht nur neun oder 10 Tagen – 12 oder 13 Gottesdienste (teils mit Abendmahl) vorbereitet und gehalten hat, weiß, wovon ich spreche. In den Städten gibt es dagegen oft die belegbare Situation, dass die dafür zuständigen Pfarrer und Pfarrerinnen in der selben Zeit mit ein oder zwei Gottesdiensten davonkommen, wobei „davonkommen“ durchaus bewusst gewählt ist, denn man scheint häufig nicht einmal diese wenigen Gottesdienste gern zu feiern. (In der Folge gerät man dann leicht in eine Bewertung des Gottesdienstes von Seiten der Gemeinde und derer, die ihn anbieten, die seiner Bedeutung in der evangelischen Kirche nicht gerecht werden kann. Tatsache ist, dass Gemeindeglieder durchaus spüren, ob der Pfarrer, die Pfarrerin freudig oder wie eine Last die Gelegenheit der Verkündigung wahrnimmt und sie werden die gottesdienstlichen Feiern entsprechend gern und zahlreich oder spärlich besuchen.) Bei den Amtshandlungen gibt es allerdings noch viel größere Unterschiede im üblicherweise nötigen Aufwand im Gegenüber Land und Stadt: So sind Taufen z.B. möglicherweise in einer ländlichen Gemeinde nicht so häufig, dafür aber vom Taufgespräch bis zum selbstverständlichen Besuch beim Taufkaffee nach der kirchlichen Feier recht zeitintensiv. Trauungen und Beerdigungen haben zwar inhaltlich nicht viel gemeinsam, bei beiden Kasualien aber ist über die durch den Kasus besonders betroffenen Angehörigen hinaus meist noch ein Gutteil der dörflichen Gemeinde anwesend. Immer wieder die selben Menschen also hören unsere Trauansprachen und Bestattungspredigten. Mit einigen wenigen Trau- bzw. Trauerreden im Ordner unseres Verkündigungsvorrats ist es da nicht getan. Immer wieder wird erwartet, dass die Prediger dem ganz speziellen Anlass und den eben jetzt hörenden und beteiligten Menschen die passenden, beim Abschied tröstenden oder für den gemeinsamen Weg stärkenden Worte sagen. Als weiterer Zeitaufwand kommt bei der Beerdigung in vielen ländlichen Gemeinden noch die anlässlich der Überführung eines Verstorbenen aus dem Sterbe- oder dem Krankenhaus in die Friedhofshalle zu haltende „Aussegnung“ hinzu, die oft schon ein Vielfaches der Teilnehmer einer städtischen Beerdigung auf die Beine bzw. an den Sarg der Verstorbenen bringt und in der neben Psalmwort, Aussegnungsformel und Gebet auch eine kleine Ansprache erwartet wird. Ein weiteres sehr wichtiges Merkmal ländlicher Kasualpraxis sind die zahlreichen – meist außerhalb eines regulären Gottesdienstes zu haltenden – Jubiläen, wie Silberne –, Goldene – und Diamantene Konfirmation oder die Gedenkfeiern der Ehe, die meist als Gottesdienste in der Kirche erbeten werden und in den Dörfern, die oft seit der Geburt, über Konfirmation und Trauung bis zum Alter und Ruhestand der Lebensmittelpunkt der Menschen geblieben ist, sehr zahlreich anfallen. In manchen Jahren hat der Dorfpfarrer mehr Goldene und Diamantene Hochzeiten zu gestalten, als bei ihm „grüne Trauungen“ zusammenkommen. (Noch ein Wort zur Arbeit in der Verwaltung der ländlichen Pfarrstelle: Ungezählt sind die ländlichen Gemeinden, in denen der – glaubt man der üblichen Formulierung der Ausschreibungen im Amtsblatt – „geringe Verwaltungsaufwand“ von Pfarrerin oder Pfarrer ohne jede Unterstützung durch eine Schreibkraft oder gar ein ganzes Gemeindebüro erledigt wird. An nebenamtlichen Kräften gibt es auf dem Land oft nur den Organisten und die Kirchendienerin oder den Kirchendiener – und das mit wenigen Wochenstunden und mit nur geringen Kosten für den Gemeindehaushalt verbunden.) Über die persönlichen Aspekte pfarramtlichen Dienstes auf dem Land hinaus, wird in allem, was Kirche dort über die Person des Pfarrers, der Pfarrerin dem einzelnen Gemeindeglied vermittelt, noch die enorme gemeinschafts- und traditionstragende Bedeutung kirchlicher Arbeit in der ländlichen Region offenbar. So zeigt sich etwa in der selbstverständlichen Bitte dörflicher Vereine um die gottesdienstliche Begleitung ihrer „runden“ Vereinsjubiläen die hohe Selbstidentifikation des ländlichen Ortsbürgers mit dem Gemeindeglied seiner Kirchengemeinde, wie wir sie in der Stadt nur in ganz seltenen Ausnahmefällen werden beobachten können. Überdies besteht auf dem Land auch eine wesentlich größere Kongruenz des bürgerlichen mit dem landwirtschaftlichen Jahr und Kalender, was durch die Relevanz der kirchlichen Feiern rund um das Erntejahr unterstrichen wird. Was bedeuten Eingriffe durch Streichung oder Halbierung der Pfarrstelle – in der Stadt und auf dem Land? Hier muss noch einmal gesagt werden, dass Veränderungen in der Bemessung bzw. dem Zuschnitt von Pfarrstellen gewiss immer einen schmerzlichen Vorgang darstellen – in der Stadt nicht anders als auf dem Land. Was allerdings in der Stadt einen die kreativen Kräfte entbindenden Vorgang der Umstrukturierung auslöst, gerät auf dem Land leicht zu einer nie wieder gut zu machenden Katastrophe – und eben nicht nur für die einzelne Kirchengemeinde, sondern möglicherweise für die gesamte ländliche Region, die nicht erst seit der Ausrufung der „Ressourcenkonzentration“ durchaus ihre Angebote über die Gemeindegrenzen hinaus geöffnet haben (- sofern nicht ein männlicher oder weiblicher „Platzhirsch“ im Pfarramt dies zu hintertreiben wusste.). Was jedenfalls die Angebote zur Unterhaltung, Freizeitgestaltung und Lebensdeutung angeht, bleiben Glieder von halbierten, fusionierten oder auch ganz gestrichenen und an andere angehängten Kirchengemeinden in der Stadt wohl in aller Zukunft im Vorteil: Immer wird sich in der Stadt, wenn z.B. ein kirchengemeindliches Angebot wegfällt, ein vergleichbares einer anderen Kirchengemeinde finden, das entweder zu Fuß oder doch mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist. Über die kirchengemeindlichen Veranstaltungen hinaus machen in den Städten allerdings auch noch zahlreiche Vereine, das Rote Kreuz, der VdK oder die städtische Kommune selbst übers Jahr oder regelmäßig viele Angebote, die Zerstreuung, Erbauung und Gemeinschaft mit anderen Menschen bieten. Ganz anders auf dem Land: Gibt es nur noch den 14täglichen Gottesdienst, dann haben die Gemeindeglieder an den Sonntagen dazwischen keine Möglichkeit, einen Gottesdienst mitzufeiern. Wird in der Gemeinde – mangels Pfarrer oder Pfarrerin – kein Bibelkreis mehr gehalten, dann gibt es keine Alternative, die man besuchen könnte. Stirbt der Frauenkreis im Ort, weil die Stelle vakant ist und lange bleibt, dann haben die beteiligten Frauen keinen Abend mehr, an dem sie sich treffen können. Wo diese Kreise noch als „Frauenhilfe“ tätig sind, wird das übrige Gemeindeleben in der Folge drastisch verarmen. Ähnlich verhält es sich mit anderen Gemeindegruppen, wie etwa dem Senioren- oder Jugendkreis in ländlicher Umgebung: Werden die Gruppen in der eigenen Gemeinde nicht fortgeführt, dann werden sie in Kürze nicht mehr existieren. Es gibt keine erreichbare Alternative und es gibt bei der steigenden Belastung der für Vertretungen in vakanten Gemeinden eingesetzten KollegInnen selten eine Chance, dass ein solcher Kreis in der eigenen Gemeinde aufrecht erhalten werden kann. Fatal ist vor diesem Hintergrund auch die mit großer Kraft und geringem Effekt vorangetriebene Umgestaltung der EKHN zur „Eventkirche“, die in – wieder nur in den städtischen Regionen, daher für Mitglieder von Landgemeinden meist unerreichbaren – zentralen Veranstaltungen das kirchliche „Milieu der Hochkultur“ bedienen will. Wenn diese Angebote vom Bachkonzert bis zum Jugendkirchentag auf dem Land, fern vom Ort des Geschehens, überhaupt gesehen bzw. wahrgenommen werden, dann müssen sie doch das Gefühl des Abgeschriebenseins bei den ländlichen Gemeindegliedern verstärken. Genau betrachtet, handelt es sich bei den für diese Events nötigen Investitionen – zumindest quantitativ betrachtet – um vergeudete Mittel, deren Einsatz für die Erhaltung ländlicher Pfarrstellen ein Vielfaches in der Steigerung der Kirchentreue, bzw. der positiven Profilierung der Kirche auf dem Land bewirkt hätte. Was die aufwändigen Kasualien im ländlichen Umfeld angeht, werden diese erfahrungsgemäß von VakanzvertreterInnen aus Rücksichtnahme auf deren zusätzliche Belastung zur Arbeit in ihrer eigenen Gemeinde nicht in vollem Umfang erwartet und verlangt. Dabei stellt sich allerdings durchaus bei der Zielgruppe der jeweiligen Amtshandlung ein gewisser Ärger darüber ein, dass es nicht mehr so sein kann, wie in Zeiten, in denen man noch einen eigenen Pfarrer, eine eigene Pfarrerin hatte. Ein Gefühl, obschon man doch sehr kirchentreu und - verbunden ist, von der Kirche ungerecht und ohne die angemessene Achtung behandelt zu werden, kommt meist hinzu, was stark dazu beiträgt, dass inzwischen auch auf dem Land – auch öffentlich! – darüber nachgedacht wird, wofür man eigentlich noch dieser Kirche angehört, die einen „so schmählich im Stich lässt“. Wie bei den Kasualien verhält es sich auch bei den persönlichen Jubiläen oder denen der Vereine: Man hätte sie gern von einem eigenen Pfarrer, einer eigenen Pfarrerin erbeten, einen Vertreter, eine Vertreterin, die doch „ so viel zu tun haben“, wird man nicht bemühen. Als Fazit werden wir in nicht ferner Zukunft (- die in zahlreichen ländlichen Kirchengemeinden schon eingetreten ist!) feststellen müssen: Wegen eines vergleichsweise geringen Spareffekts durch Pfarrstellenabbau auf dem Land, hat man blühendes kirchliches Leben und gemeindliche Lebendigkeit ausgerechnet dort zerstört, wo diese am leichtesten und am billigsten zu haben bzw. zu halten gewesen wären. Die Tatsache, dass diese Zerstörung von kirchlichen Lebensäußerungen besonders in den Regionen der Landeskirche vonstatten geht, die demographisch in der Zukunft – bei allen Aussichten ansonsten sinkender Kirchenmitgliedszahlen – Zuwachsgebiete kirchlicher Mitgliedschaft werden könnten, muss unser Befremden über die Nonchalance solchen Vorgehens noch verstärken. Am Ende der Entwicklung, die derzeit schon in vollem Gange ist, wird man in den oberen Etagen der EKHN sagen können: Die Gesamtkirche in den städtischen und in den ländlich geprägten Kirchengebieten wurde gleichgeschaltet, dadurch für Leitung und Verwaltung besser hantierbar. Ein allenfalls unter dem Mikroskop erkennbarer Spareffekt wurde dadurch erreicht, dass unzählige kleine Landpfarrstellen preisgegeben und von durch SeelsorgerInnen betreuten Kirchengemeinden zu in großen Verbänden mit Zahlen von um die 2000 Köpfen versorgten Verwaltungseinheiten verbunden wurden, die oft genug nicht zusammen passen, auch nicht zusammen gehören wollen, weil sie nach Tradition und Prägung inkompatibel sind und bleiben. Jedenfalls wird das oft nur negativ apostrophierte Kirchturmdenken der Gemeindeglieder auf dem Land dann erfolgreich aufgelöst sein. Mit ihm aber ging auch der tragende Grund ländlicher Kirchenzugehörigkeit verloren: Eben die kirchliche und gemeindliche Tradition. Während an dieser Stelle immer das Argument bemüht wird, Traditionen wären ja auch wieder aufzubauen, bin ich aus Erfahrung der Meinung: Der leichtfertig betriebene Traditionsabbau ist unumkehrbar. Bei einigem Zynismus – und ich neige inzwischen dazu – möchte man abschließend feststellen: Die früher manchmal als Drohung, meist aber als Ansporn zur Entwicklung von Konzepten zur Mitgliederpflege und -gewinnung dienende Statistik des zu erwartenden Mitgliederschwunds der EKHN bis 2010 wird heute mehr als die Festschreibung eines mit allen Mitteln und Kräften zu erreichenden Ziels umgedeutet. Mindestens aber wird nur wie paralysiert auf die potentiell doch auch zu verbessernde Statistik gestarrt, als müsste aus ihr nur Lähmung und nicht auch endlich der geeignete Ansatz und die beharrlichen Bemühungen zur positiven Veränderung der gegenwärtigen Kirchen-, Personal- und Mitgliederpolitik erwachsen. Wer nun am Ende dieses Artikels meint, er lasse den für die beklagte Entwicklung in der EKHN Verantwortlichen nun aber auch gar kein Schlupfloch, bzw. keinen positiven Aspekt der Sache, durch das sie sich dem ungünstigen Urteil entziehen, bzw. den sie entlastend ins Feld führen könnten, der hat diesen Artikel und seine Stoßrichtung recht verstanden. Andererseits hat es, bevor der jetzt fast bis zum Ende begangenen Weg betreten wurde – zwar leider viel zu wenige – doch gewiss ausreichend viele Warner und Propheten gegeben, auf die man hätte hören sollen, aber nicht gehört hat. Pfingsten, Fest des Heiligen Geistes 2004